059 — Wissenschaft und Umwelt — Teil 1

059 — Wissenschaft und Umwelt — Teil 1

Schon vor ca. 20 Jahren habe ich Vorträge und Seminare zum Thema Wissenschaft und Umwelt gehalten. Vieles von dem, was ich damals gesagt habe, hat sich bis heute (leider) bestätigt. Diese Episode ist so etwas wie ein Frühjahrsputz für mich: Wie steht...
28 Minuten
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Woher kommen wir, wo stehen wir und wie finden wir unsere Zukunft wieder?

Beschreibung

vor 1 Jahr

Schon vor ca. 20 Jahren habe ich Vorträge und Seminare zum Thema
Wissenschaft und Umwelt gehalten. Vieles von dem, was ich damals
gesagt habe, hat sich bis heute (leider) bestätigt. Diese
Episode ist so etwas wie ein Frühjahrsputz für mich:


Wie steht die Einordnung der verschiedenen Ideen und Ansätze
der Umweltbewegungen mit-, gegen- und zueinander? Wie
steht es zwischen Theorie, Ideologie und Praxis? Werten und
Aktivität? Welche Rolle spielt Wissenschaft?


Wo sehen wir begriffliche Verwirrungen? Wie finden wir
den Weg von, aber auch der Spalt zwischen Ethik und Praxis?


Diese Episode wird die Themen keinesfalls abdecken, ich sehe es
eher als ein Aufwerfen von Bällen, die zum Teil in früheren
Episoden, zum Teil in späteren Episoden wieder aufgefangen und
genauer betrachtet wurden oder werden sollten.


Welche Ansätze und Ideologien gibt es in der Umweltbewegung?


1. De-Growth (Wachstumskritik)


Wachstumskritik hat eine lange und wechselhafte Tradition, die
wenigstens auf Thomas Robert Malthus um 1800 zurückgeht und immer
wieder neu interpretiert wurde und wird. Eine moderne Definition
der Ziele  ist:


»Gerechtes Herunterskalieren von Produktion und Konsum, der das
menschliche Wohlbefinden und die ökologischen Bedingungen
verbessert«


Wir finden in dieser Gruppe leider aber auch eine nicht zu
geringe Zahl an Extremisten, denen auch die radikale Reduktion
der Menschheit wünschenswert erscheint um das Ziel zu erreichen,
etwa:


»Until such time as Homo sapiens should decide to rejoin nature,
some of us can only hope for the right virus to come along.«,
David Gräber


2. »Business as Usual«


Wenn wir ehrlich sind, interessiert das Thema Umwelt im Alltag
immer noch fast niemanden, jedenfalls dann nicht, wenn es über
das Ausrollen von Wohlfühltechnologien und -ideen geht, die dem
Einzelnen (scheinbar) wenig Kosten verursachen aber ein gutes
Gefühl geben, etwas geleistet zu haben:


»Das Ausrollen von ineffektiven Wohlfühl-Technologien ist
dreifach schlecht — abgesehen vom offensichtlichen, dass sie
ineffektiv sind, führt es auch dazu, dass der Druck nachlässt
etwas wirkungsvolles zu tun, weil ja gehandelt wird, und
vielleicht das schlimmste: es lenkt mögliche Ressourcen weg von
wichtigeren Bedürfnissen.«, Steven Koonin


3. Eco-Modernismus


Dder mittlerweile 101 jährige James Lovelock in seinem letzten
Buch Novacen:


»Das Bestreben nach einer besseren Zeit vor dem Anthropozän ist
eine Phantasie. Zunächst einmal, weil es nie eine goldene Zeit
frei von Wünschen und Leid gab und zweitens, weil wir, um dorthin
zurück zu gelangen, die offensichtlichen Vorteile der Moderne
rückgängig machen müssten«


Beim Eco-Modernismus steht der Mensch im Zentrum der Veränderung
aber auch der Verantwortung; Reduktion des menschlichen
Einflusses auf die Natur durch Entkopplung, Intensivierung und
Innovation sind der Anspruch:


»Intensivierung vieler menschlicher Tätigkeiten — im besonderen
Landwirtschaft, Energiegewinnung, Forstwirtschaft und Siedlung —
mit dem Ziel, weniger Land zu nutzen und weniger in die
natürlichen Welt einzugreifen ist der Schlüssel, menschliche
Entwicklung von den negativen Einflüssen auf die Umwelt zu
entkoppeln«


Eco-Modernisten lehnen radikale Wachstumskritik ab. Selbst Jorgen
Randers, der Mitautor der »Grenzen des Wachstums« von 1972,
schreibt vor wenigen Jahren:


»Der fundamentale Grund, warum die meisten Menschen Wachstum
bevorzugen ist, dass es der einzige Weg ist, den moderne
Gesellschaften gefunden haben um drei Probleme effektiv zu lösen:
Armut, Arbeitslosigkeit und Pensionen«


Aber können wir glauben, dass wir die Herausforderungen der Zeit
alleine mit Technik und Wachstum lösen können? Wie lange kann das
gut gehen?


4. Singularisten/Eskapisten & Post-Humanisten


Die Insel oder das Landgut in Neuseeland reicht für viele
Milliardäre nicht mehr aus, um sich vor den Katastrophen der Welt
zu verstecken. Heute muss es der Mars, Raumstationen oder gar das
Verlassen des Sonnensystems sein. Jedenfalls ist das die Vision
einiger Vertreter einflussreicher US-Eliten.


Sollte das doch nicht klappen, können wir uns ja in Computer
hochladen und virtuell weiterleben. Oder übergeben wir als
Menschen gar den Stab an intelligente Maschinen? Wer glaubt an
diese Phantasien, beziehungsweise hält sie für eine
wünschenswerte Zukunft?


***


Im zweiten Teil dieser Episode stelle ich die Frage,
was Philosophie und Ethik zu diesem Themenbereich zu sagen
hat? Wer steht eigentlich im Zentrum der Betrachtung, Mensch oder
Natur? Sollten wir Deep oder Shallow Ecology betreiben? Wem
sollen wir folgen, Deontologen oder Utilitaristen und was ist von
der »PAT« Formel zu halten?


Haben die Wachstumskritiker bisher mit ihren Vorhersagen recht
behalten, und selbst wenn nicht — was bedeutet dies für die
Zukunft? Außerdem: nicht nur die Interessen westlicher
Industrienationen zählen:


»Diese verschiedenen Ansätze haben ein gemeinsames Design, das
ökonomische Ziel, die Kosten des Klima-Aktivismus zu
sozialisieren und die Armen die Rechnung für die Reichen zahlen
zu lassen.« und


»Die Weiterführung globaler Armut und niedriger Einkommen kann
nicht die Klima-Strategie der reichen Welt sein.«, Samir Saran


Welche Rolle spielt Ideologie und wie ist die Lücke zwischen
Ideologie, Wissenschaft und tatsächlicher Umsetzung zu
überbrücken. Gerade unter Aktivisten erleben wir oft ein hohes
Maß an Motivation, Kritik an Missständen aber nur sehr selten
kohärente und realistische Ideen, wie die Situation verbessert
werden kann. 


»Es zeigt sich, dass in den fortgeschrittensten Phasen der
Idiotie der Ideenmangel mit Ideologieüberschuss kompensiert
wird.«, Carlos Ruiz Zafon, eine Figur in Das Spiel der Engel


Oftmals scheint die Medizin des Aktivismus schlimmere Folgen zu
haben als die Krankheit — helfen uns die zahlreichen NGOs also,
das Problem zu lösen, oder richten sie oftmals mehr Schaden als
Nutzen an?


»Tausende Kuhhörner, vergraben auf einem Acker, sollen für eine
gute Ernte sorgen. Für Demeter-Landwirte ein gängiges Ritual. Ein
Verband zwischen Biolandwirtschaft und Esoterik.«, ZDF-Bericht
zur Bio-Landwirtschaft zwischen Ökologie und Esoterik


Dass es nicht nur um nutzlose Esoterik geht, sondern dass
inkohärente Öko-Ideen auch massive Schäden anrichten können,
zeigt der radikale Versuch in Sri Lanka auf eine vermeintlich
grüne Landwirtschaft umzusteigen:


»Die Befürworter von Bio-Landbau, überzeugt von naturalistischen
Fehlschlüssen und argwöhnisch über moderne landwirtschaftliche
Forschung, können keine plausible Lösung anbieten. Was sie
anbieten, wie das Disaster in Sri Lanka offen gelegt hat, ist
Elend.«, Ted Nordhaus


Das Experiment in Sri Lanka wurde nach wenigen Monaten beendet,
weil die Folgen verheerend waren. 


Ein anderes Beispiel: Greenpeace protestiert zur gleichen Zeit in
England gegen ein Solarkraftwerk und in Frankreich gegen
Kernkraft. Wer kann das rational nachvollziehen und unterstützen?


Wenig hinterfragte Ideologisierung finden wir aber auf allen
Seiten. Wie kommen wir aus diesem Patt heraus? Kann es gelingen,
die vernünftigen Ideen aller Seiten zusammenführen und die wenig
hilfreichen (aber lauten) Vertreter beider Seiten zu ignorieren?
Es gibt gute Beispiele von Aktivisten, die tatsächlich zuhören
und ihre Meinung ändern, wenn sie von besseren Argumenten
überzeugt werden, wie auch Episode 46 mit der Aktivistin Zion
Lights zeigt! Nehmen wir uns diese zum Vorbild.


Zum Abschluss: eine ganze Reihe von Begriffen tauchen in diesem
Kontext immer wieder auf, die zumindest hinterfragt werden
sollten, eine kleine Auswahl diesmal:


Wissenschaft und Szientismus

Probleme vs. Dilemmata

»Umwelt«

Naturalistischer Fehlschluss

Vorsorge Prinzip



Zusammenfassend: wie geht es weiter? Die Zeit, wo wir uns als
passive, von Natur oder Gott getriebenen Lebewesen sehen konnte
ist vorbei:


»Wir können uns wahrscheinlich kaum mehr so etwas wie
Naturphänomene vorstellen, die im Sinne der klassischen
Theodizeefrage vollständig auf Natur als Gegenkonzept zu Kultur
oder Gesellschaft ausgelagert werden können. Selbst wenn ein
Komet auf die Erde zurasen würde, […] würden wir das nicht
alleine einem externen Schicksal zurechnen, sondern die
Katastrophe unserem Mangel an Abwehrstrategien zurechnen«, Armin
Nassehi


Wie kommen wir zu einer systemischen Sicht, zu einem Blick, die
»Gaia« als ganzes betrachtet, das menschliche Wohlbefinden nicht
hinten anstellt und trotzdem nicht zur Katastrophe führt?


»Catastrophists are wrong, time after time. […] And
techno-optimists, who promise endless near-miraculous solutions,
must reckon with a similarly poor record.«, Vaclav Smil


Referenzen


Andere Episoden


Episode 7 und 8: Alles wird besser... oder nicht?

Episode 15: Innovation oder Fortschritt

Episode 16: Innovation oder Forrtschritt oder Stagnation?

Episode 18: Fortschritt oder Stagnation: Gespräch mit Andreas
Windisch

Episode 39: Follow the Science

Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, ein Blick
hinter die Kulissen: Gespräch mit Herbert Saurugg

Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp
Blom

Episode 46: Activism, a Conversation with Zion Lights

Episode 62: Wirtschaft und Umwelt, ein Gespräch mit Prof.
Hans-Werner Sinn

Episode 70: Future of Farming, a conversation with Padraic
Flood



Fachliche Referenzen


Extinction Rebellion Website

Degrowth US Readings

Jason Hickel, Degrowth: A Call for Radical Abundance

Hating Humanity Won’t Get You Canceled - WSJ

Why Silicon Valley billionaires are prepping for the
apocalypse in New Zealand, The Guardian (2018)

Steven Koonin, Unsettled, What Climate Science Tells Us, What
It Doesn't, and Why It Matters

Patrick Curry, Ecological Ethics, An Introduction, Polity
Press (2006)

Stanford Encyclopaedia of Philosophy, Environmental Ethics

Samir Saran, Enough Sermons on Climate, It’s Time for ‘Just’
Action

Peter Treue, Blut und Bohnen, Der Paradigmenwechsel im
Künast-Ministerium ersetzt Wissenschaft durch Okkultismus, FAZ
(2002)

Cornelius Janzen, Ritual der Demeter-Landwirte: Warum sie
Kuhhörner in der Erde vergraben, ZDF (2021)

Demeter, »biodynamische« Präparate

Mark Lynas, Finland’s Green Party endorses nuclear power
(2022)

Mark Lynas, Seeds of Science, Why We Got It So Wrong On GMOs
(2020)

James Lovelock, Novacene, The coming age of hyper
intelligence

Jorgen Randers, 2052 A global forecast for the next forty
years (2012)

Ted Nordhaus, Sri Lanka's Organic Farming Experiment Went
Catastrophically Wrong, Foreign Policy (2022)

Der Mensch - das Mängelwesen, NZZ (2004)

The Doomslayer. The environment is going to hell, and human
life is doomed to only get worse, right? Wrong. Conventional
wisdom, meet Julian Simon, the Doomslayer. Wired (1997)

Population, Affluence, and Technology, Penn State College of
Earth and Mineral Sciences

Roger Pielke Jr., More on the Iron Law of Climate Policy
(2010)

Carlos Ruiz Zafón, eine Figur in Das Spiel des Engels

Vaclav Smil, How the World Really Works, Penguin (2022)

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