066 — Selbstverbesserung — ein Gespräch mit Prof. Anna Schaffner

066 — Selbstverbesserung — ein Gespräch mit Prof. Anna Schaffner

Das Thema Selbst-Verbesserung mag auf den ersten Blick wie eines wirken, das keinen großen gesellschaftlichen Bezug hat. Selbst-Vebesserung beziehungsweise Selbst-Optimierung hat teilweise auch einen schlechten Ruf, wenn man an die Bücherregale gefül...
58 Minuten
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Woher kommen wir, wo stehen wir und wie finden wir unsere Zukunft wieder?

Beschreibung

vor 1 Jahr

Das Thema Selbst-Verbesserung mag auf den ersten Blick wie
eines wirken, das keinen großen gesellschaftlichen Bezug hat.
Selbst-Vebesserung beziehungsweise Selbst-Optimierung hat
teilweise auch einen schlechten Ruf, wenn man an die Bücherregale
gefüllt mit fragwürdigen Ratgebern denkt, die so in den meisten
Buchhandlungen zu finden sind, ganz zu schweigen von
Coaching-Podcasts und YouTube-Videos.


Das Thema hat mich dann aber doch für eine Episode sehr
angesprochen, nachdem ich das hervorragende Buch von Prof. Anna
Schaffner gelesen. Anna Katharina Schaffner ist Professorin an
der Univ. Kent und Executive und Personal Coach. Sie ist Autorin
mehrerer Bücher, unter anderem Exhaustion: A History und The Art
of Self-Improvement: Ten Timeless Truths und hat neben
wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch Artikel für Guardian,
Psychology today und times Literary Supplement verfasst.


In diesem Gespräch beziehe wir uns im wesentlichen auf ihr
letztes Buch zum Thema Selbst-Verbesserung. Prof. Schaffner
arbeitet nicht nur den historischen Kontext der
»Selbst-Verbesserungs-Ideen« auf, die Rolle, die sie für uns als
Individuen hat, sie stellt diese auch in einen breiteren
gesellschaftlichen Kontext und öffnet damit auch den wichtigen
Diskurs, wie wir uns als Gesellschaft auf die Zukunft vorbereiten
können. Eine solche Vorbereitung hat eine persönliche, aber eben
auch eine soziale Komponente.


Dabei verwendet sie den Begriff Self-Improvement, im Deutschen:
»Selbstverbesserung« und nicht Selbst-Optimierung, wie sie im
Podcast erklärt.


»Esse est percipi«, George Berkely


Zunächst stelle ich die Frage nach der Freiheit, die ja eine
Grundlage für Selbstverbesserung zu sein scheint. Woher kommt
unser Begriff der Freiheit? Hat Freiheit ein rein positives
Moment oder ist sie gar eine Belastung (für viele Menschen)?
Erkennen wir Selbstverwirklichung als Möglichkeit oder gar als
Zwang? Alain Ehrenberg spricht von der 


»Müdigkeit des Selbst, das sich permanent selbstverwirklichen
muss«


Erleben wir also Freiheit zwischen Selbstverwirklichung und
Selbstversagen? Außerdem: wie frei sind wir wirklich? Sind wir
eine »Blank Slate«, eine leere Tafel, die nur beschrieben werden
muss und beliebig beschrieben werden kann, oder ist alles
determiniert, also vorherbestimmt? Welche rolle spielen
einschränkende Strukturen der Gesellschaft?


Sehen wir im Extremen vielleicht sogar »Victim-blaming«, also ein
Herunterblicken auf Opfer der Freiheit, auf Menschen, denen es
nicht gelungen ist, sich selbst zu verwirklichen, ihre Freiheit
»zu nutzen«? Die Wurzeln dieses Problems scheinen aber älter zu
sein, wie wir am Beispiel des Calvinismus diskutieren:


»Calvinismus — weltlicher Erfolg als Zeichen, dass man zu den
Auserwählten gehört.«


Pervertiert eine implizite Forderung zur Selbstverwirklichung und
Selbstoptimierung gar die Freiheit, die wir gerade erst gewonnen
haben?


»Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein. Episode heißt
Zwischenstück. Das Gefühl der Freiheit stellt sich im Übergang
von einer Lebensform zur anderen ein, bis sich diese selbst als
Zwangsform erweist. […] «


»Wir leben in einer besonderen historische Phase, in der die
Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens
erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das
Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann
hat dagegen keine.«, Byung-Chul Han


Prof. Schaffner zitiert in diesem Zusammenhang Franz Kafka:


»Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich
selbst um Herr zu werden und weiß nicht, dass das nur eine
Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im
Peitschenriemen des Herrn«


Welche (externen) Wertesysteme haben wir also unbewusst
internalisiert? Sind diese gesund für uns? Wie können wir und
selbst verbessern ohne uns gleichzeitig unserer Freiheit zu
berauben, zumal in unserer Gesellschaft Bedeutung, Status und
Identität oftmals mit einer eher oberflächlichen Ideen des
Erfolgs verwoben sind?


Was ist von der Ratgeber-, der Self-Help-Industrie zu halten? Was
ist der Unterschied zwischem »Mac Self-Help« und philosophisch
fundierteren Ideen? Hat die zeitgenössische Philosophie hier eine
wesentliche Wurzel — die Beschäftigung mit dem »guten Leben«
vergessen?


»Der Mensch wird am Du zum Ich«, Martin Buber


Dann tauchen wir noch einmal tiefer in die Vergangenheit und
Grundlagen ein und stellen die Frage nach dem Selbst. Was ist
eigentlich »das Selbst«? Und was zählt als Verbesserung? Wie sind
diese Ideen historisch einzuordnen? Prof. Schaffner erklärt dabei
drei verschiedene Entwürfe des Selbst:


relationales Selbst

kein Selbst (in der buddhistischen Interpretation)

atomares, individualistisches Selbst und homo oeconomicus



Sollten wir im Westen eine Rückkehr von starken
individualistischen Ideen hin zu einem relationaleren Selbst
suchen, gar »planetare Wesen« werden? Warum ist diese Frage für
die Herausforderungen der Zukunft von großer Bedeutung?


Wie spielt das Dilemma zwischen Bildung und Ausbildung — im Sinne
des Humboldtsches Ideals hier hinein? Und welche Rolle spielt das
Systemdenken, beziehungsweise der Generalismus? Pointiert
formuliert: erleben wir gerade in der Krise ein Abwendung vom
»Fachidiotentum«?


Was ist die Rolle von Kultur und Ritualen, Zeremonien? Altmodisch
und irrelevant, oder wesentliche Anker auch für moderne und
zukünftige Gesellschaften?


Was ist vom heute sehr modischen Begriff der Authentizität zu
halten?


»Authentisch ist der Mensch offensichtlich nur dann, wenn er sein
Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach
außen stülpt. Und das bedeutet letztlich: Authentizität ist das
Gegenteil von Kultur. […]  Anthropologisch ist das zwar
Irrsinn, denn der Mensch ist bereits seiner Natur nach ein
Kulturwesen, doch lässt dies der Authentizitätsdiskurs weitgehend
außer Acht, der voraussetzt, dass sich unser unverfälschtes Ich
in uns selbst findet und sich nicht in unserem Zusammenspiel mit
Kultur und Gesellschaft entwickelt.«, Thomas Bauer


Wie spielt der heutige Begriff der Authentizität mit der Romantik
als Geburt des Individualismus zusammen?  Wo ist die Grenze
zwischen Authentizität und performativem »Oversharing«, oder gar
bis zum »vulnerability porn«?


Was bedeuten die Überlegungen zu Selbstverbesserung und Coaching
für die heutige Arbeitswelt? Nur was messbar — quantifizierbar
ist — ist etwas wert?


Und zuletzt, was bedeuten diese Überlegungen nun für die Zukunft
der Gesellschaft und nicht nur des individuums? Verbreiten sich
Tugenden (nach Konfuzius) wie gutartige Viren? Ist intellektuelle
Bescheidenheit — vielleicht gar  Weisheit — noch eine
zeitgemäße Tugend?


»Wir dürfen nie vorgeben zu wissen, und dürfen nie große Worte
gebrauchen«, Karl Popper


Der Mensch ist, nach Arnold Gehlen ein Mängelwesen, und Rupert
Riedl macht schon in den 1970er Jahren deutlich:


»Der menschliche Verstand ist nicht dazu geschaffen, komplexe
Systeme zu verstehen«


Aber wie weit geht; soll die Verbesserung die technische
Erweiterung des Menschen gehen? Ist sie nicht notwendig um mit
der wachsenden Komplexität unserer techno-sozialen Systeme
umgehen zu können? Wo ist die Grenze? Sind die Ideen des
Transhumanismus nicht letztlich die logische Konsequenz (und das
natürliche Ende)  der Selbst-Verbesserung? Gibt es eine
(vernünftige) Grenze der technischen Verbesserung menschlicher
(kognitiver) Fähigkeiten?


»The faith in Utopia, which killed so many in the centuries
following the French Revolution, is dead.«, John Gray


Referenzen


Andere Episoden


Episode 17: Kooperation

Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige
Universität!

Episode 47: Große Worte

Episode 49: Wo denke ich? Reflexionen über den »undichten«
Geist

Episode 50: Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der
Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr



Anna Schaffner


Executive and Personal Coaching | Exhaustion and Burnout
Coaching

Exhaustion: A History, Columbia University Press (2017)

The Art of Self-Improvement: Ten Timeless Truths, Yale
University Press (2021)

The Truth about Julia, Atlantic Books (2016)

Artikel in Psychology Today



Fachliche Referenzen


George Berkeley

Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst: Depression und
Gesellschaft in der Gegenwart, Campus (2015)

Byung-Chul Han, Psychopolitik, Neoliberalismus und die neuen
Machttechniken, S. Fischer (2014)

Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Reclam (2018)

Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt (1987)

Arnold Gehlen, Der Mensch, Klostermann Vittorio (2016)

Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1982)

John Gray, Black Mass, Penguin (2008)

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