067 — Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch mit Stephan Schleim

067 — Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch mit Stephan Schleim

In dieser Episode führe ich ein äußerst interessates Gespräch mich mit Prof. Stephan Schleim. Er ist deutscher Philosoph und Psychologe, Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie Universität Groningen. Seine Spezialgebiete sind die Theorie...
1 Stunde 40 Minuten
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Woher kommen wir, wo stehen wir und wie finden wir unsere Zukunft wieder?

Beschreibung

vor 1 Jahr

In dieser Episode führe ich ein äußerst interessates Gespräch
mich mit Prof. Stephan Schleim. Er ist deutscher Philosoph und
Psychologe, Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie
Universität Groningen. Seine Spezialgebiete sind die Theorie und
praktische Anwendungen der Psychologie und Neurowissenschaften.
 In seiner Forschung zur Wissenschaftskommunikation
untersucht er, wie Darstellungen der Hirnforschung akademische
und gesellschaftliche Debatten beeinflussen (z. B. in der
Neuroethik oder dem Neurorecht).


Seit 15 Jahren ist er mit seinem Blog Menschen-Bilder bei den
SciLogs vertreten, dem Portal für Wissenschaftsblogs des
Spektrum-Verlags. Außerdem ist er Autor mehrerer Bücher. 


Ich beschäftige mich ja schon länger mit der Frage, ob unser
Wissenschaftsbetrieb nicht an einigen Stellen falsch abgebogen
ist und was wir tun könnten, ja müssten um diese Situation zu
verbessern. Warum ist es für uns wir als Gesellschaft wichtig,
diese Problemlage zu verstehen? Denn wesentliche politische
Entscheidungen hängen ja von wissenschaftlichen und technischen
Aussagen und Möglichkeiten ab.


Wir beginnen unser Gespräch mit der Frage, ob sich die
Erwartungen, die in der aus der Gesellschaft aber meist auch aus
der Wissenschaft heraus an die Wissenschaft formuliert werden
erfüllen? Schreitet Wissenschaft immer schneller voran? Führt
dies stetig zu neuen und bahnbrechenden technischen
Fortschritten?


Zahlreiche Untersuchungen legen eher das Gegenteil nahe. Wie
sieht es nun mit Fortschritt und Qualität wissenschaftlicher
Erkenntnis aus? Welche Anreizsysteme herrschen aktuell vor, nach
welchen Indikatoren werden Wissenschafter gemessen, welche
Definitionen von Produktivität gibt es in der Wissenschaft und
was bedeutet dies für Erkenntnis und Innovation?


»Lässt man Kants akademischen Werdegang kurz Revue passieren,
muss man zu dem Befund kommen, dass ein Denker wie Kant im
gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb keine Chance gehabt hätte. Im
Gegenteil: Er verkörpert geradezu alles das, was dem Eifer der
Universitätsreformer ein Dorn im Auge ist.«, Konrad Paul
Liessmann


Es gibt nur noch selten in der modernen Wissenschaft solche
positiven Beispiele, etwa den 3D-Atlas des Gehirns, wo das
Ergebnis jahrzehntelanger, qualitativ hochwertiger
Grundlagenforschung dargestellt werden.


»Die Wissenschaft befindet sich großteils in einem hermeneutisch
abgeriegelten, selbstreferentiellen System.«


Was sind Beispiele für die Probleme, die wir beschreiben? Die
90er Jahre waren in den USA die Dekade des Gehirns. Auch Europa
hat mit dem Human Brain Project nachgezogen — unter anderem mit
dem Ziel, ein Gehirn im Computer zu simulieren. Was ist das
Ergebnis dieser Dekade? Wir diskutieren Erwartungen und
Versprechungen vom Gedankenlesen bis zum  Lügendetektor; was
waren die Folgen für die Diskussion des »freien Willen«, für
Recht und Medizin?


In den letzten Jahrzehnten waren auch die »bunten Bilder« des
Gehirns, die aus statistischen Auswertungen von
Kernspintomographen entstehen, ein Hit in wissenschaftlichen
Artikeln aber auch in populärwissenschaftlichen Berichten. Man
konnte fast sagen: keine Psychologie ohne »Hirnbilder«!


Sind die Ergebnisse, die man mit der Kernspintomographie erhalten
hat aber überhaupt vertrauenswürdig und korrekt? Beziehungsweise
unter welchen Versuchsbedingungen kann man mit seriösen
Ergebnissen rechnen und wurden diese in der Regel erziehlt? Also
bleibt letztlich die Frage: können diese Hirnscanner, die richtig
viel Geld kosten, überhaupt das Kriterium der Reproduzierbarkeit
— als Mindeststandard wissenschaftlicher Qualität — erfüllen? War
der Hype gerechtfertigt?


»Es gibt einige gute Studien, aber in der großen Masse sind viele
dieser Studien, glaube ich,  nicht vertrauenswürdig. […]
 Diesen Schluss muss man ziehen.«


Aber auch in zahlreichen anderen Bereichen der Psychologie und
Psychiatrie erleben wir im Rückblick durchwachsene Ergebnisse, so
etwa bei den wenig beeindruckenden Erfolgen der Antidepressiva in
der Psychiatrie.


Ich spreche dann auch andere Hype-Themen der Vergangenheit an,
und frage, warum wir aus diesen relativen Fehlschlägen so wenig
lernen, z.B. Richard Nixon und den Krieg gegen den Krebs, Erik
Topol und seine Kritik des Human Genome Projects sowie die
mangelhafte Leistung von KI-Systemen in der Covid-Behandlung.


Wir diskutieren dann die Konsequenzen dieser Hypes, denn diese
sind nicht einfach nur kurzfristige Irrtümer, sondern in ihnen
stecken zum Teil enorme Opportunitätskosten und
Kollateralschäden.


Wenn wir über die aktuelle Situation hinausschauen: »Wissenschaft
die auch taugt« — was könnten wir die Standards sein? Prof.
Schleim bezieht sich auf einen Artikel von Thomas Kuhn:
Hartnäckigkeit und Dogmatismus ist manchmal auch ein wesentliches
Mittel zum Erfolg in der Wissenschaft. 


Die Behandlung von Aids kann als als Erfolgs-Beispiel gelten,
auch die Entdeckung der PCR durch Kary Mullis, die psychiatrische
Forschung mit Verengung auf Neuro-Wissenschaft allerdings als
negatives. Überhaupt ist Kary Mullis ein gutes Beispiel für einen
ultra-harnäckigen Wissenschafter gewesen, der in einem engen
Bereich hohe Leistung gebracht hat, darüber hinaus aber eher für
fragwürdige Ideen bekannt wurde.


Nun stellt sich aber die Frage: was für das Individuum des
Wissenschafters gilt, gilt das auch für die Wissenschaft als
Ganzes?


Und wo hört die Hartnäckigkeit auf und wird zum (sanften) Betrug?
Fake it till you make it — ein wissenschaftliches Erfolgsmodell?
Welchen Effekt haben New Public Management, Messen, Optimieren in
der Wissenschaft(sverwaltung), Zitationsfaktoren, Impact-Faktor,
usw?


»There is no cost to getting things wrong. The cost is not to
getting them published.«, Prof. Brian Nosek


Wir erleben aktuell in vielen Bereichen einen Hyperwettbewerb und
Bewertung von Forschung — wenn man in kurzen Zeiträumen
»Durchbrüche« darstellen muss, um überhaupt überleben zu können —
was wird das für Konseqzenzen für Richtung und Qualität und
Vermarktung der Forschung haben?


Die Probleme, über die wir sprechen, sind bei weitem keine, die
nur in den Interna der Wissenschaft Folgen haben, sondern breiten
sich über Wissenschaftskommunikation und Expertenwesen in
Gesellschaft und Politik aus? Hier ist auch der Aspekt zu sehen,
dass die Verantwortung für diese Hypes auch an den Konsumenten
liegt — eine Folge der Konkurrenz um Aufmerksamkeit.


Was ist überhaupt von Wissenschafts-News zu halten? Denn die
Taktung wird immer höher — ist das sinnvoll oder sogar schädlich?
Wissenschaft ist selten eindeutig, vor allem nicht in komplexen
Fragestellungen. Führt das nicht eher zu Verwirrung statt
Information bei der Bevölkerung?


Kann mehr Transparenz in den wissenschaftlichen Prozess die
Situation verbessern? Können wir vom Rechtswesen lernen — was
sind Folgen für wissenschaftliche Freiheit, politische Freiheit
und Demokratie? Was können wir aus den Erfahrungen erfolgreicher
Wissenschafter lernen?


Ohne die Freiheit, "Sachen zu machen die nicht Mainstream waren",
sei seine Forschungsarbeit nicht möglich gewesen, Anton Zeilinger


Max Perutz, der österr. Wissenschafter, der von den Nazis nach
England fliehen musste, hatte in seinem Labor neun
Nobelpreisträger! Auf die Frage, wie man so erfolgreich wird
antwortet er:


»Keine Politik, keine Gremien, keine Berichte, keine Gutachter,
keine Interviews, nur begabte, hoch-motivierte junge Menschen,
ausgewählt von wenigen Männern mit gutem Blick.«


Und was machen wir im heutigen Wissenschaftsbetrieb?


Einer der Ursachen für die Probleme im aktuellen
Wissenschaftsbetrieb ist das Publikations(un)wesen: welche Rolle
spielen kommerzielle Verlage, Open Access, Preprint, sind Daten
und Prozesse transparent?


Welche Rolle spielt der Antrags-Irrsinn und die damit verbundene
Bürokratie? Die bekannte amerikanische Tiefsee-Forscherin Edith
Widder bringt den Konflikt zwischen innovativer Forschung und
Finanzierung auf den Punkt: 


»Die Sache ist die: In der Wissenschaft muss man den
Förderstellen erklären, was man entdecken wird, bevor sie einem
Geld geben. Und ich wusste nicht was ich entdecken werde. Somit
bekam ich keine Unterstützung.«


Wo und in welchem Umfang macht Antragswesen Sinn, in welcher
Form, und wo ist es ein Hindernis für gute Wissenschaft und
verhindert vor allem auch, dass gute Wissenschafter Karrieren
machen. Welcher innovative und kreative Wissenschafter ist
Willens 30-40% seines Alltags mit stumpfer Bürokratie und
Antragschreiben zu verbringen? Welche Folgen hat dies daher für
die Selektion an Universitäten? 


Eric Weinstein nennt dies passend: »snap-to-grid intellectualism«


Führen diese Prozesse zu kontroproduktiven Anpassungsprozessen an
Indikatoren, Bürokratie, Regeln usw. Lenken wir also die
verbleibende Intelligenz der Forscher weg von der Forschung hin
zum Übergehen und Ausnutzen von Regeln und Bürokratie?


Einfache Versprechungen und Aussagen treffen in der Realität sehr
schnell an ihre Grenzen und so ist es auch nicht einfach Schritte
aus der Krise zu finden. Ein erster Ansatzpunkt findet sich etwa
in der Magna Charta Univesitatum.


Referenzen


Andere Podcast


Episode 53 und Episode 54: Data Science und Machine Learning,
Hype und Realität

Episode 47: Große Worte

Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp
Blom

Episode 39: Follow the Science?

Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige
Universität!

Episode 19 und Episode 20: Offene Systeme

Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik,
Fortschritt oder Stagnation



Stephan Schleim


Homepage von Stephan Schleim

Stephan Schleim auf Twitter

Menschen-Bilder Blog

Stephan Schleim an der Universität Groningen

Universität Groningen

Die Neurogesellschaft: Wie die Hirnforschung Recht und Moral
herausfordert, Heise (2010)

Psyche & psychische Gesundheit: Philosophen, Psychologen
und Psychiater im Gespräch, Heise (2020)

Wissenschaft und Willensfreiheit: Was Max Planck und andere
Forschende herausfanden, Springer (2023)

Stephan Schleim, Sind Hirnscans nur Kaffeesatzleserei?



Fachliche Referenzen


Nicholas Bloom, Are Ideas Getting Harder to Find? (2020)

How should medical science change, Lancet (2014)

Economist: How Science goes wrong 

Trouble at the lab | The Economist 

Rettet die Wissenschaft,Die Zeit (2014) 

Konrad Paul Liessmann, Kant — Dienst ohne Vorschrift, Der
Standard (2004)

Eric Topol, Human genomics vs Clinical genomics — Expectation
vs. Facts 

Thomas Kuhn, The Function of Dogma in Scientific Research,
1963 

John P. A. Ioannidis, Why Most Published Research Findings
Are False (2005) 

Warum KI-Werkzeuge gegen COVID-19 bislang versagt haben,
Heise (2021) 

Physik Nobelpreis für österr. Quantenphysiker Anton Zeilinger
(2022)

Zitat Max Perutz aus Geoffrey West, Scale: The Universal Laws
of Life and Death in Organisms, Cities and Companies, W&N
(2018)

Edith Widder, Glowing life in an underwater world,
TED-Talk 

Magna Charta Univesitatum 

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