072 — Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft, Sprache und Gesellschaft — Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann

072 — Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft, Sprache und Gesellschaft — Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann

Das Thema der heutigen Episiode ist: »Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft, Sprache und Gesellschaft« Covid, Klimawandel, Energiewende oder geopolitische Krisen sind komplexe Herausforderungen.  Herausforderungen, in denen sich verschiedene...
1 Stunde 30 Minuten
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Woher kommen wir, wo stehen wir und wie finden wir unsere Zukunft wieder?

Beschreibung

vor 1 Jahr

Das Thema der heutigen Episiode ist: »Scheitern an komplexen
Problemen? Wissenschaft, Sprache und Gesellschaft«


Covid, Klimawandel, Energiewende oder geopolitische Krisen sind
komplexe Herausforderungen.  Herausforderungen, in denen
sich verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse mit politischen
und gesellschaftlichen Interessen überschneiden. Unterschiedliche
Meinungen, und damit Konflikt ist geradezu eine natürliche Folge
solcher Probleme.


Und immer öfter scheinen wir an diesen Herausforderungen zu
scheitern, und nicht nur das: wir Polarisieren dabei zunehmend
unsere Gesellschaft, drohen liberale und demokratische Werte zu
gefährden und beschädigen Wissenschaft und Politik auf dem Weg.


So erleben wir auch eine Renaissance von Paternalismus und
Autoritarismus — und dies nicht unbedingt von der politischen
Seite, von der es von vielen erwartet wurde. Wollen wir die
Entscheidung über wesentliche gesellschaftliche Entscheidungen
wenigen Auserwählten überlassen oder doch eine breite und
informierte gesellschaftlichen Legitimierung anstreben?


Stecken wir fest? Was geschieht, gerade und welche Rolle spielt
Sprache und Diskurs?


Diese Folge jongliert mit einer Reihe von politisch und
gesellschaftlich heißen Themen und gerade darum freue ich mich
sehr, dieses Gespräch mit Jan David Zimmermann führen zu können.


Jan ist Autor, Journalist und Wissenschaftsforscher, hat auch
gerade ein neues und äußerst empfehlenswertes Buch
herausgebracht.


Ich möchte nochmals betonen, daß wir Covid, Klimawandel  und
andere Krisen ansprechen, aber es geht in keinem dieser Fälle
darum, konkrete sachliche Fragen der Krisen zu diskutieren oder
zu beurteilen. 


Vielmehr interessiert uns eine Meta-Frage: wie diskutieren wir
aktuell und wie sollten wir derartig schwierige und komplexe
Fragestellungen in der Gesellschaft diskutieren, wo
schwerwiegende und langfristig wirksame Entscheidungen unserer
Ansicht nach demokratisch legitimiert sein müssen.


Wir beziehen keine sachliche Position zu Covid- oder Klimawandel
- Fragen, sondern diskutieren auf der Meta-Ebene, wie wir
gesellschaftlich und wissenschaftlich mit diesen Themen umgehen,
beziehungsweise umgegangen sind, und welche zum Teil erheblichen
Fehler aus unserer Sicht hier gemacht wurden. Wie funktionieren —
oder funktionieren eben nicht — wesentliche gesellschaftliche
Diskurse


»Wissenschaft ist eine tolle Sache um die materielle Welt zu
verstehen, aber es dauert Zeit. Es bedarf Debatten und
Diskussionen. Das Problem ist dabei nicht so sehr Wissenschaft:
sondern wir haben einige hochrangige Bürokraten in die Position
eines Papsts erhoben«, Jay Bhattacharya


»Wenn Kritiker ihre Kugeln auf Tony Fauci abfeuern, dann erkenne
die Menschen, da ist eine Person. So ist es einfach zu
kritisieren, aber sie kritisieren tatsächlich Wissenschaft. Denn
ich repräsentiere Wissenschaft.«, Dr. Anthony Fauci


Ist Fauci Wissenschaft? Wer repräsentiert Wissenschaft? Was ist
Wissenschaft, vor allem auch hinsichtlich der gesellschaftlichen
und politischen Wirkung?


Sollten wir Wissenschaft nicht als ständigen Diskurs und
Selbstreflexion auch mit einer wesentlichen historischen
Dimension begreifen und behandeln? Wissenschaft nach
Bourdieu als soziales System sehen?


"Wenn es darum geht, Menschenleben zu retten, mache ich keine
Kompromisse.", Wolfgang Mückstein 


und


»Aber ich sage Ihnen auch ganz offen, dass der Maßstab nicht das
ist, was wir glauben, was wir jetzt machen wollen, sondern der
Maßstab ist, was uns die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
zu dem Thema sagen.«, Angela Merkel (2020)


Was bedeutet das? Wer entscheidet was der Maßstab ist. Welcher
Wissenschafter ist überhaupt in der Lage eine relevante Aussage
in einer komplexen Systemlage zu geben?


Haben wir — besonders deutlich in der Covid-Krise
—Entkontextualisierung und Enthhistorisierung sowie eine
deutliche Verengung von Diskurs erlebt? Mit welchen Folgen? Der
Mediziner Martin Sprenger spricht von einem virologischen
Tunnelblick.


Aber das Problem ist nicht alleine auf den vermeintlichen
Extremfall Covid begrenzt. In Deutschland wurde etwa eine
Meldestelle für ideologische Abweichung eingerichtet. Dies könnte
man als deutliches Beispiel für den Versuch einer autoritären
Verengung des Diskurses und Zensur, sehen. Aber auch Framing ist
ein wichtiges Mittel der Verzerrung medialer
Diskurse Beispiel Ivermectin — haben Joe Rogan und
zahlreiche andere Prominente »Pferdewurmmittel« genommen — oder
ist das ein Framing um den Diskurs zu vermeiden und sie
lächerlich zu machen?


Was ist vom Begriff der »Verschwörungstheorie« zu halten?
Natürlich gibt es solche, aber wurde der Begriff
möglicherweise inflationär, gar als Kampfbegriff verwendet?
In zahlreichen Medienkommentaren erleben wir einen stärker
werdenden Paternalismus. Wir wissen, was gut für euch ist —
Narrative treiben die Berichterstattung und teilen die
Bevölkerung sowie die Ansichten in »Gut« und »Böse« ein.


Vielen scheint es schwer zu fallen zu sehen, dass auch
gegensätzlich scheinende Dinge gleichzeitig zutreffen können:
Pfizer hat sich einerseits äußerst fragwürdiger Praktiken bedient
und wurde dafür in den USA zur höchsten Strafe verurteilt, die
das Justizministerium je verhängt hat und kann gleichzeitig auch
lebenswichtige Pharmazeutika produzieren. Kritisches Hinterfragen
von Großunternehmen wie Pfizer ist dringen notwendig, ohne gleich
das Kind mit dem Bad ausschütten zu müssen.


Auch die Frage, ob Forschung einen immer stärker ideologischen
Einschlag hat, im besonderen bei politisch wesentlichen
Fragestellungen, darf kein Tabuthema sein. Zu viel hängt von den
Ergebnissen der Forschung ab, und zahlreiche Untersuchungen
zeigen, dass die Qualität der Forschung in verschiedener
Disziplinen sehr schlecht ist.


Wissenschafter selbst sind wie alle Menschen vielschichtig. Sie
können in einer Sache recht und in anderen völlig unrecht haben.
Billiges canceln (siehe z.B. David Hume) ist infantil und nicht
zielführend. Ein genauer Blick immer notwendig und nicht nur
ein blinder Fokus auf das Jetzt und das Ich und die eigene
Meinung. Auf die Pandemie gemünzt hat Johannes Lehmann
vom »Bann der pandemischen Gegenwart« gesprochen.


Zahlreiche Paradoxien tauchen auf und wir diskutieren einige
beispielhaft. Aber auch die Wirkmacht der Krise als politisches
Mittel wird Thema; Giorgio Agampen spricht vom
Ausnahmezustand als politischem Instrument beziehungsweise
Herrschaftsmittel, Naomi Klein hat schon vor vielen Jahren
vor einer »Schock Doktrin« gewarnt.


Wir erleben das regelmäßig bei heutigen Aktivisten: Aufgrund der
Krise X gibt es angeblich gar keine Zeit mehr für Widerspruch,
für Diskurs! Demokratie ist ein Hindernis und wir sollten alleine
den Aktivisten folgen. Ist das eine gute Idee? 


»Die Sprache der Öffentlichkeit ist eskaliert und gleichzeitig
hat sich der Diskurs verengt.«


Wir nennen Beispiele für diese Eskalation und Radikalisierung in
ehemals linksliberalen Medien wie etwa dem Standard oder dem
Falter in Österreich, der Zeit in Deutschland.


»Ich wünsche mir einen totalen und vernichtenden Sieg für die
Ukraine«, Eva Illousz, die Zeit


klingt bedrückend ähnlich zu


»Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen,
totalen Sieg der deutschen Waffen?«, Joseph Goebbels, Sportpalast
Rede (1943)


Und dies sind keine Einzelfälle. Sarah Bosetti etwa entgleist und
vergleicht Menschen mit einem Blinddarm der entfernt werden kann.


Wie hängt das alles mit der immer stärker werdenden
Identitätspolitik zusammen? Definiert Identität Freibrief von
Sprache und Handlung? Sind etablierte Prinzipien eines
Rechtsstaat nichts mehr wert, wenn ich nur die richtige Identität
behaupte?


Wir haben erheblichenSchaden an wesentlichen gesellschaftlichen
Strukturen angerichtet, und dies gepaart mit einem
Vertrauensverlust. Waren dies unvermeidbare Fehler oder eher
Ungeschicklichkeit und Überheblichkeit von Eliten, die ihre
eigenen Fähigkeiten bei weitem überschätzt haben. Ist
Paternalismus und moralische Überhöhung in Ordnung um die
Bevölkerung nicht zu verwirren, oder zerstört das den
Zusammenhalt in einer modernen Gesllschaft?


“The trust we have in each other and in our institutions is a
measure of social health around the world.”, Todd Rose


Die Kompetenz heutiger (wissenschaftlicher) Eliten waren
ebenfalls in früheren Episoden ein Thema. So gibt eine
Asymmetrie des Vertrauens (in Medien und Menschen): nicht der
Durchschnitt zählt, sondern der Ausreißer, der »Betrug«. 


»Komplexe Themen brauchen komplexe Diskussionen«


Entgegen der heutigen Schlagwort-Diversität am Oberflächlichen
orientiert, gibt es tatsächlich in Institutionen und an Unis
immer weniger relevante Diversität, das heißt intellektuelle
Diversität — Unterschiede in Meinung und Weltanschauung.


Bei komplexen Fragestellungen können einzelne Personen nie »die
Wahrheit« finden. Das bedeutet, der Diskurs muss im Zentrum
stehen. Aber wie können wir konstruktiven Diskurs von Ablenkung
durch Esoterik und Pseudowissenschaft unterscheiden?


Brauchen wir eine zweite Aufklärung, und wie könnte diese
Aussehen?


Umsetzung komplexer Maßnahmen erfordert Vertrauen und
Legitimation durch große Teile der Bevölkerung. Paternalistisch
und autoritär verordnete Ideen führen spätestens mittelfristig zu
starken Gegenreaktionen, die das möglicherweise richtige Ziel
erst recht beschädigen. Wie damit umgehen?


Referenzen


Andere Episoden


Episode 11: Ethik, oder: Warum wir Wissenschaft nicht den
Wissenschaftern überlassen sollten!

Episode 13: (Pseudo)wissenschaft? Welcher Aussage können wir
trauen? Teil 1

Episode 14: (Pseudo)wissenschaft? Welcher Aussage können wir
trauen? Teil 2

Episode 25: Entscheiden unter Unsicherheit

Episode 29: Fakten oder Geschichten? Wie gestalten wir die
Zukunft?

Episode 32: Überleben in der Datenflut – oder: warum das Buch
wichtiger ist als je zuvor

Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann

Episode 39: Follow the Science?

Episode 47: Große Worte

Episode 57: Konservativ UND Progressiv

Episode 67: Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch
mit Stephan Schleim



Jan David Zimmermann


Homepage

Facebook: Jan D. Zimmermann

Instagram:  j._zimmermann

Buch: Lethe. Vom Vergessen des Totalitären (Webseite, Amazon)



Fachliche Referenzen


Interview mit Rossana Segretto, Tiroler Tageszeitung (2021)

Drosten und Fauci: Das Versagen von Wissenschaft und Ethik,
Cicero (2023)

Peter Daszak, Christian Drosten et al, Statement in support
of the scientists, public health professionals, and medical
professionals of China combatting COVID-19, The Lancet (March
2020)

Tony Fauci:

Fox News 1

Fox News 2

CBN News

Jacqueline Howard, Dr. Anthony Fauci says publicly
released email about lab leak is being misconstrued, CNN
(2021)

Fauci representing science: Megyn Kelly (2022)

Former CDC Director Redfield at hearing

Megan K. Stack, Dr. Fauci Could Have Said a Lot More, New
York Times Opinion (2023)



Wiesendanger-Studie, Uni Hamburg (2021)

Jan David Zimmermann, Frankensteins Erbe, Wissenschaft
zwischen Gut und Böse, Cicero (2022)

Todd Rose, Collective Illusions: Conformity, Complicity and
the Science of Why We Make Bad Decisions, Hachette (2023)

Wolfgang Mückstein Zitat, Kleine Zeitung (2021)

Angela Merkel, Pressekonferenz (2020)

Jay Bhattacharya im Triggernometry Podcast (2023)

Meldestelle Antifeminismus (Deutschland): Nele Pollatschek,
Vielleicht sind wir kollektiv ein bisschen drüber, Süddeutsche
Zeitung (2023) 

Der totale Sieg

Eva Illousz, die Zeit 16.2.2023 (Print); 18.2.2023
(online)

Joseph Goebbels, Sportpalastrede (Wikipedia)

Jan David Zimmermann über den Illousz Kommentar: Der
Wunsch nach dem totalen Sieg, Stichpunkt (2023)



Christoph Zielinski,  Warum diese Angriffe auf die
Wissenschaft? Der Standard (2023)

Sarah Bosetti »Blinddarm« Tweet (2021)

Sweden, Covid and 'excess deaths': a look at the data,
Spectator (2023)

John Tierney, COVID-19, Lessons we should have learned (2022)

Great Barrington Declaration

Bret Stephens, The Mask Mandates Did Nothing. Will Any
Lessons Be Learned?, NYT (2023), und der Cochrane Bericht

Long Covid, Masks, Equipoise, RCTs, Lockdown & More, ID
Ethicist

Lab Leak Hypothesis:

Matt Ridley, Alina Chan, Viral: The Search for the Origin
of Covid-19, Fourth Estate (2021)

Matt Ridley, Alina Chan im Gespräch mit Sam Harris: Did
SARS-CoV-2 Escape from a Lab? (2023)



Klimawandel

Roger Pielke Jr., What the media won't tell you about . .
. hurricanes

Roger Pielke Jr., What the media won't tell you about . .
. Drought in Western and Central Europe

Paul S. Kench et al, Patterns of island change and
persistence offer alternate adaptation pathways for atoll
nations, Nature (2018)

Thomas Stocker (Vorsitzender des fünften UN-Klimareports)
über Kipppunkte und Klima-Berichterstattung: "Eigentlich
brauchen wir die Drohkulisse der Kipppunkte nicht", Die Zeit
(2022)



Justice Department Announces Largest Health Care Fraud
Settlement in Its History — Pfizer to Pay $2.3 Billion for
Fraudulent Marketing (2009) 

ORF Artikel über »geringe psychische Folgen der Pandemie«
(2023) 

Pierre Bourdieu, Homo Academicus, Suhrkamp (1992)

Johannes F. Lehmann, Aus dem pandemischen Jetzt (2022)

CNN Business, FDA on Ivermectin “You are not a horse, you are
not a cow” (2021)

Joe Rogan und Sanjay Gupta über CNN / Ivermectin

Kenan Malik, David Hume was a complex man. Erasing his name
is too simplistic a gesture, The Guardian (2020)

Giorgio Agampen, An welchem Punkt stehen wir?: Die Epidemie
als Politik, Turia + Kant (2021)

Naomi Klein, The Shock Doctrine, Penguin (2008)

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