(27) Rosa Luxemburg »Briefe aus dem Gefängnis«

(27) Rosa Luxemburg »Briefe aus dem Gefängnis«

5 Minuten
Podcast
Podcaster

Beschreibung

vor 16 Jahren
An Sonia Liebknecht Breslau, Mitte Dezember 1917 … Ach, Sonitschka,
ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt, auf dem Hof, wo ich
spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken
oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken …, die
werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann
wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein
Wagen, bespannt, statt mit Pferden, mit Büffeln. Ich sah die Tiere
zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut
als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen
Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz
mit großen sanften Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind
Kriegstrophäen … die Soldaten, die den Wagen führen, erzählen, daß
es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch
schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu
benutzen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis daß für sie das Wort
gilt „vae victis“*. … An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau
allein sein; dazu bekommen sie, die an üppige rumänische Weide
gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos
ausgenutzt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen
dabei rasch zugrunde. – Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit
Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, daß die
Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der
begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die
Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, daß
die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid
mit den Tieren hätte! „Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid“,
antwortete er mit bösen Lächeln und hieb noch kräftiger ein . ..
Die Tiere zogen schließ an und kamen über den Berg, aber eins
blutete … Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke
und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann beim
Abladen ganz still, erschöpft, und eins, das, welches blutete,
schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen
Gesicht und den sanften Augen wie ein verweintes Kind. Es war
direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und
nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der
rohen Gewalt entgehen soll … ich stand davor, und das Tier blickte
mich an, mir rannten die Tränen herunter – es waren seine Tränen,
man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich
in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie
unerreichbar, verloren die freien saftigen grünen Weiden Rumäniens!
Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren
die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten.
Und hier – diese fremde schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das
ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden
furchtbaren Menschen, und – die Schläge, das Blut, das aus der
frischen Wunde rinnt … Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter
Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur
eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. – *“vae victis!“ (dt.
„Wehe den Besiegten!“) in Andenken an Rosa Luxemburg (geboren 1871
– hingerichtet 1919) „Freiheit ist immer Freiheit des
Andersdenkenden“ Klavier Lesung: Elisa Demonkí

Kommentare (0)

Lade Inhalte...
15
15
:
: