Rosie Price: Der rote Faden
9 Minuten
Podcast
Podcaster
Beschreibung
vor 4 Jahren
„Je mehr Leichtigkeit und freudige Momente man hat, desto dunkler
kann man gehen.“ Das ist ein Gedanke bzw. eine Idee, die Rosie
Price beeinflusst haben soll, ihren Roman Der rote Faden, der
2020 im Rowohlt Verlag erschien und 2019 im Original unter What
Red Was veröffentlicht wurde, zu schreiben. Es ist ihr Debütroman
der in England, woher sie auch selbst stammt, begeistert
aufgenommen wurde und auch in Deutschland sehr viele positive
Kritiken erhielt. Rosie Price hat mehrere Jahre in einer der
größten englischen Literaturagenturen gearbeitet, bevor sie sich
vollständig dem Schreiben des Romans widmete. Das Thema des
Romans, so erfährt man unausweichlich, wenn man sich im Vorhinein
über das Buch informiert, soll eine Vergewaltigung sein. Ist es
auch. Aber es ist eben auch noch wesentlich mehr als das.
Kate und Max lernen sich zu Beginn des Romans durch einen Zufall
auf dem Campus kennen und werden schnell zu Freunden. Sie
studieren beide Sprachen und haben eine Leidenschaft für Filme,
was in Max' Fall auch dadurch bedingt ist, dass seine Mutter Zara
eine bekannte Regisseurin ist. Kate wiederum möchte gern einmal
selbst zum Film und bewundert Zara nicht nur für ihre Arbeit,
sondern auch als Mensch. Durch die sich entwickelnde Freundschaft
der beiden Protagonisten, die ein tragendes Element des Romans
bildet, kommt es bald dazu, dass Kate Max' Familie kennenlernt.
Nicht nur Max' Mutter, mit der sie sich schnell anfreundet,
sondern auch seine Schwester Nicole, seinen Vater William und
seinen Cousin Lewis.
Etwas weniger als das erste Viertel des Romans, welcher aus 49
Kapiteln besteht, hat eine eher langsame Erzählgeschwindigkeit.
Price entwickelt auf diesen ersten 100 Seiten einen wichtigen
Teil der Geschichte, die sich zunächst völlig unabhängig vom Plot
der Vergewaltigung entwickelt und dennoch von großer Wichtigkeit
ist. Die Leserinnen und Leser erfahren, dass Max' Großmutter
Bernadette stirbt und sich die Geschwister William, Alasdair und
Rupert nun um die bevorstehende Beerdigung und den Nachlass – das
Haus der Großmutter – kümmern müssen, welches sie allerdings nur
William und Alasdair vererbt hat. Der Handlungsstrang um Max'
Familie, die geprägt ist von ihrer Vergangenheit,
Erbstreitigkeiten, Ruperts Alkoholabhängigkeit und Unverständnis
der verschiedenen Beteiligten untereinander, nimmt einen
wichtigen Teil des Romans ein. Sie wirkt beinahe wie eine
autonome Geschichte im Roman, verdeutlicht aber letztlich das
Verhältnis, die Fragilität und die Zerwürfnisse der einzelnen
Handelnden untereinander. Besonders beeindruckt hat mich dabei
Price’ Darstellung der Beziehung zwischen Max und dessen Onkel
Rupert, der nicht nur unter einem Alkoholproblem leidet, sondern
aufgrund dessen schon mehrfach Unfälle hatte, bis hin zu einem
Selbstmordversuch. Ganz subtil und langsam beschreibt sie das
Sich-Annähern und wieder Voneinander-Entfernen, während ihr
Verhalten teilweise kongruent ist, nur zu unterschiedlichen
Zeiten und ihnen ein Zugang zueinander dadurch, zumindest
zeitweise, nicht möglich ist.
Neben der tragenden Freundschaft zwischen Kate und Max sowie
dessen Familiengeschichte, ist die Vergewaltigung von Kate, durch
Max' Cousin Lewis auf einem Sommerfest, das dritte wichtige
Element des Romans, das den Fortgang der Geschichte zu
beschleunigen scheint. Kate leidet von diesem traumatischen
Erlebnis an unter Panikattacken, Depressionen und dem Drang sich
selbst zu verletzen. Sie trinkt Alkohol und nimmt starke
Medikamente, um am „normalen“ Leben einigermaßen teilhaben zu
können. Durch den Schmerz, den sie sich selbst zufügt, versucht
sie den Schmerz der Erlebnisse zu überdecken. Rosie Price
beschreibt dies in einer Schonungslosigkeit und gleichzeitig
mitfühlenden Art, dass man als Leserin, im wahrsten Sinne des
Wortes, Mitleid empfindet und die körperlichen Qualen der
Protagonistin geradezu spüren kann. Kate ist außerdem außer
Stande sich ihrem Umfeld, selbst ihrem besten Freund Max,
mitzuteilen. Wochenlang schweigt sie über das Erlebte, unternimmt
mehrfach den Anlauf sich zu offenbaren und verliert dann doch in
letzter Sekunde den Mut, sich anzuvertrauen. Lange Zeit schafft
sie es „nur“ andeutungsweise nach außen preiszugeben, dass sie
etwas belastet.
„Kate wurde schnell klar, dass sich nicht sanft vermitteln ließe,
dass sie vergewaltigt worden war. Es ließ sich nicht durch die
Blume sagen, und weil es zwischen einer Vergewaltigung und keiner
Vergewaltigung keine Grauzone gab, gab es auch keine Möglichkeit,
vorsichtig vorzufühlen und ihren Zustand nur anzudeuten, um die
Reaktion von jemandem abzuschätzen, dem man sich vielleicht
anvertrauen könnte. Es gab nur vergewaltigt oder nicht
vergewaltigt.“ (S. 118)
Und so hofft sie, dass das Geschehene von selbst immer kleiner
wird und es sich irgendwann unausgesprochen in Luft auflösen
wird.
An dieser Stelle offenbart sich eine Problematik, die wir in
diesem Zusammenhang schon oft gehört haben und der wir deshalb
nicht weniger Beachtung schenken sollten: die Angst der
Betroffenen nicht ernst genommen zu werden. Die Unterstellung der
Täter, die Frauen hätten es selbst gewollt. Und die
Schuldzuweisungen der Opfer an sich selbst, sich nicht genug
gewehrt oder nicht laut genug geschrien oder nein gesagt zu
haben. Doch die Autorin stellt Kate eine Vertrauensperson, eine
Verbündete, eine Leidensgenossin an ihre Seite: Zara, zu der Kate
eine freundschaftliche Beziehung pflegt, scheint zu spüren – zu
wissen – welches Geheimnis Kate umgibt. Sie ist schließlich auch
die erste, der sie sich anvertraut und es stellt sich heraus,
dass auch Zara als junge Frau vergewaltigt wurde. Was Kate jedoch
verschweigt, ist die Tatsache darüber, wer ihr Vergewaltiger ist.
Zwar schafft sie es nach und nach sich auch anderen Menschen zu
offenbaren, doch viele Details behält sie für sich. Sie schützt
sich damit nicht nur selbst, sondern auch ihre Freundschaft zu
Max, seine Familie und leider letztlich auch den Täter.
Doch wie kann das Leben nach einem so tiefgreifenden und
einschneidenden Eingriff weiter gehen? Price stellt hier zwei
Beispiele gegenüber. Kate, die nach und nach über das Erlebte
spricht und versucht weiter zu leben, sich wieder einen Alltag zu
erschaffen, Arbeit zu finden – was sie nicht zuletzt auch Zara zu
verdanken hat – und sogar wieder eine Beziehung führt. Und Zara,
die ihre Vergewaltigung verschwieg, nicht als Opfer gesehen
werden wollte und letztlich nie die Chance hat ihren
Vergewaltiger zumindest zu konfrontieren, weil er tot ist. Die
Autorin, Rosie Price, die selbst Opfer einer Vergewaltigung
geworden ist, nutzt den Roman zur Aufarbeitung ihrer eigenen
Erfahrungen, dem Nachspüren inwiefern dieses traumatische
Ereignis sie selbst und ihre Sichtweise verändert hat, aber sie
beleuchtet auch Möglichkeiten im Umgang mit dem Erlebten sowie
deren mögliche Vor- und Nachteile. Dabei schließt sie auch das
Umfeld des Opfers mit ein und zeigt, wie viele Menschen letztlich
betroffen sind und dass das Problem kein ausschließlich privates
ist, sondern ein gesellschaftliches.
Der titelgebende rote Faden ist dabei nicht nur das
offensichtliche Thema, das sich durch den Roman zieht und ihn
bestimmt, sondern vor allem die rote Ziernaht am Hemd ihres
Vergewaltigers auf die sie starrt, während sie missbraucht wird
und bereits versucht, ihr Inneres aus der Situation abzukoppeln.
Dieses Rot empfindet sie im Nachgang folgendermaßen:
„Aber dieses Rot war keine Farbe, keine Warnung und keine
Herausforderung, kein Stierkampftuch; nein, Rot war der Filter,
durch den sie alles wahrnahm; es löschte die Zeit zwischen
Gegenwart und jenem Moment aus, der nicht länger vergangen war,
sodass sich ihr ganzes Wesen, von den erweiterten Pupillen über
den stoßweisen Atem bis hin zur Kälte in ihrer Brust, neu
ausrichtete, um die Welt von nun an durch diesen Filter zu
betrachten.“ (S.135/136)
Warum man dieses Buch lesen sollte? Weil sich auch die Themen des
Romans wie ein roter Faden durch unsere Gesellschaft ziehen. Es
sind die Kämpfe und Rivalitäten in der Familie, Freundschaften
und was sie uns bedeuten und geben können, aber eben auch der
Umgang mit sexualisierter Gewalt, die uns leider ständig umgibt,
auch wenn wir sie selbst gerade nicht wahrnehmen. Rosie Price
schafft es, die Leichtigkeit und die dunklen Momente so in
Einklang zu bringen, dass sie einen nicht erdrücken, aber
mitfühlen und mitleiden lassen, ohne dabei dogmatisch zu sein,
sondern feinfühlig und nicht ohne eine Brise Humor.
Ich freue mich, hoffentlich bald mehr von dieser jungen Autorin
lesen zu dürfen.
In der nächsten Woche schauen wir in einem Studio B Klassiker auf
eine Rezension aus dem Jahr 2018 zurück in der Irmgard Lumpini
Hans Roslings “Factfulness: Ten Reasons We're Wrong About the
World And Why Things are better than you think” besprach und
fragen uns, ob wir auch nach anterhalb Jahren Pandemie wirklich
noch optimistisch sein können.
This is a public episode. If you would like to discuss this with
other subscribers or get access to bonus episodes, visit
lobundverriss.substack.com
Weitere Episoden
5 Minuten
vor 4 Wochen
8 Minuten
vor 1 Monat
9 Minuten
vor 1 Monat
51 Minuten
vor 2 Monaten
4 Minuten
vor 2 Monaten
In Podcasts werben
Abonnenten
Hamburg
Kommentare (0)