Bernardine Evaristo: Girl, Woman, Other

Bernardine Evaristo: Girl, Woman, Other

6 Minuten
Podcast
Podcaster

Beschreibung

vor 2 Jahren

Was ist das Beste am Lesen? Das Eintauchen in andere Welten,
seien sie utopisch, dystopisch, fantastisch, dokumentarisch,
fiktiv, historisch, in anderen Sprachen, Sprechwelten,
Denkweisen, schwer, unterhaltsam, romantisch, unser Bild der Welt
bestätigend oder zerstörend, eine Öffnung für anderes durch ein
Versinken oder Abgestoßensein.


Das heute hier vorgestellte Girl, Woman, Other der britischen
Autorin Bernardine Evaristo beschreibt in 4 Kapiteln die Leben
von 11 Frauen und einer nichtbinären Person, in jedem Kapitel
werden 3 Protagonisten in den Mittelpunkt gestellt, die Kapitel
tragen ihre Vornamen. Dabei stehen die meist schwarzen Frauen
teilweise in familiären Beziehungen zueinander, einige verbinden
gemeinsame Lebensabschnitte wie z.B. eine gemeinsame Schulzeit
oder das Studium. Die meisten leben in London.


Es gibt verschiedene Zeitebenen. Eine der Protagonistinnen, die
viele der Charaktere als Verbindung haben ist Amma, eine
lesbische schwarze und etablierte Künstlerin, deren neuestes
Theaterstück am Abend uraufgeführt werden wird. Im 5. Kapitel,
nachdem Girl, Woman, Other die verschiedenen Leben, ihre Umstände
und Ereignisse über nahezu 100 Jahre offenbart, finden wir uns
auf der Afterparty der Uraufführung wieder.


In einem Epilog baut Bernardine Evaristo dann ein Finale in
allerfeinster Soap Opera Manier.


In den einzelnen Kapiteln sehen wir die Innenansichten der
Protagonistinnen, die auch ihre Haltung oder Erlebnisse mit
anderen der Frauen schildern. Dadurch verschieben sich häufig
Annahmen über sie, die durch in anderen Kapiteln getroffene
Aussagen entstanden sind. Elterliche Prägung, Traumata,
Freundschaften, Liebe, Sexualität, Gesellschaft und ihre
Vorurteile, Rassismus und Aufstiegsmöglichkeiten sind einige der
Themen, die immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven
gezeigt werden. Ein weiteres Thema, das häufig durch die
Protagonistinnen diskutiert wird, ist Feminismus und ihre
unterschiedlichen Ansichten über die letzten Jahrzehnte. Manchmal
- zum Glück nicht oft - kommt man sich wie in einem Proseminar
der Gender Studies vor, auf der anderen Seite schadet es rein gar
nichts, darüber etwas zu lernen.


Als Motivation für Girl, Woman, Other gab Bernardine Evaristo,
Tochter einer weißen Britin und eines nigerianischen Vaters an,
dass sie frustriert war, dass schwarze britische Frauen in der
Literatur nicht sichtbar sind und wollte etwas gegen ihre
Abwesenheit unternehmen.


Die Leben ihrer Protagonistinnen reichen von Teenagern bis zu
einer Frau in ihren 90ern, die jedoch nicht immer linear
beschrieben werden. 


Girl, Woman, Other ist ein Werk, dessen Welt vielen nicht bekannt
ist, weil wir bisher nicht viele Gelegenheiten hatten, über sie
zu lesen.


Es dauerte für mich ein wenig, bis ich mich mit dem Stil des
Buches zurecht fand: es gibt kaum Punkte, der Rhythmus wird durch
die Zeileneinteilungen vorgegeben, die den Fluss beschleunigen
oder verlangsamen, ein Hybrid aus Prosa und Poesie.


Girl, Woman, Other unterstützt eine Verschiebung des Mainstreams,
der uns, die wir in der sächsischen Provinz leben, zunächst durch
Fernsehserien wie The L-Word, Sense8, Orange Is The New Black,
Transparent oder Tales of the City begegnete. Durch politische
Initiativen wie Black Lives Matter und metoo, die sich mit
(Über)Leben und dem Weiterleben nach traumatischen Erlebnissen
auseinandersetzen und bestehende Verhältnisse radikal ändern
wollen, um eine gerechtere Gesellschaft für alle, die vor der
Überwindung des Rassismus die Anerkennung von weißen Privilegien
als Voraussetzung sehen und die Überwindung von patriarchalen
Strukturen für unabdingbar halten, wird die Kunst der lebenden
Bilder in konkreten Bewegungen unterstützt. 


Durch beides wird die Sichtbarkeit verbreitert, unterschiedliche
Lebensformen sind vorstellbarer, unterschiedliche
Lebensrealitäten bekannter und tiefer im öffentlichen Bewusstsein
verankert, und so werden Leben, die einst als exotisch,
abweichend oder gar abstoßend empfunden wurden zum Kanon des
Möglichen hinzugefügt, der Mainstream verschiebt sich nicht nur,
sondern wird verbreitert.


Dabei ist die Frage nach der Zugehörigkeit zum Mainstream eine,
die nicht wenige der Protagonisten in Girl, Woman, Other
beschäftigt. Ist sie als Ausverkauf an das Establishment ein
Verrat oder kann sie ein Erfolg sein? Die Protagonistinnen finden
unterschiedliche Antworten.


Bernardine Evaristo, die den Titel einer MBE verliehen bekam und
in Großbritannien eine bekannte und renommierte Autorin ist,
sprach in einem Interview kurz nach der Wahl von Trump zum
Präsidenten der USA ihre Vermutung aus, dass in der Zukunft mehr
Bücher geschrieben würden, die sich entweder satirisch mit ihm
auseinandersetzen oder aber eine solidarische Gesellschaft zum
Thema hätten.


Girl, Woman, Other ist der letzteren Kategorie zuzuordnen. Vor
wenigen Tagen wurde dem Werk, welches nicht in deutscher
Übersetzung* vorliegt (wie übrigens bisher keines der 9 Bücher
von Bernardine Evaristo), der diesjährige Booker Prize zuerkannt,
den seit 50 Jahren der von einer Jury ausgewählte beste
englischsprachige Roman des Jahres erhält. Sie ist die 1.
schwarze Frau, die damit ausgezeichnet wurde. Kritik gab es vor
allem dafür, dass sie sich diesen Preis mit einer anderen teilen
musste: Margaret Atwood, die für die Fortsetzung ihres Romans
“The Handmaid’s Tale”, “The Testaments” prämiert wurde. Auf den
Fotos der Ausgezeichneten sehen beide glücklich aus, wie eine
Reminiszenz an den Schluss von Girl, Woman, Other: 


“this is about beingtogether.”


* Mittlerweile liegt eine deutsche Übersetzung mit dem unschönen
Titel “Mädchen, Frau etc.” vor. (WTF?! Other ist nicht etc.)


In der nächsten Ausgabe wird diskutiert, wie immer schön ruhig.


This is a public episode. If you would like to discuss this with
other subscribers or get access to bonus episodes, visit
lobundverriss.substack.com

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

15
15
:
: