Benjamin Black: "Christine Falls"

Benjamin Black: "Christine Falls"

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vor 2 Jahren

Eine Leseempfehlung vom Meister Stephen King himself auf Twitter:
“Love Benjamin Black. Wish he'd write a supernatural novel.
There's a sense of the weird about his detective novels, just
under the surface.” Auftrag verstanden, Christine Falls
verschlungen.


Christine Falls ist der 2006 erschienene 1. Roman einer
mittlerweile 8 Bücher umfassenden Reihe von Benjamin Black, die
im Dublin der 1950er Jahre spielt, und deren Protagonist Quirke
im Hauptberuf als Pathologe arbeitet, nebenbei aber Rätsel und
Kriminalfälle löst. 


Benjamin Black ist ein Pseudonym des Schriftstellers und
Literaturkritikers John Banville, der unter anderem für das
renommierte Literaturmagazin The New York Review of Books
rezensiert und für seine Werke zahlreiche prestigeträchtige
Auszeichnungen wie den Man Booker Prize gewann. Dabei verabscheut
er sein literarisches Werk, ist aber mit der Quirke-Reihe weniger
unzufrieden, weil er an diese geringere Maßstäbe anlegt. 


Mit dem Pathologen mittleren Alters Quirke begeben wir uns ins
Dublin der 1950er Jahre: ewig scheint es zu regnen, die
Luftfeuchtigkeit hüllt alles in Dampf, Alkohol ist
allgegenwärtig, ebenso eine immerwährende Düsterheit. Die
Gespräche sind knapp, mehr wird verschwiegen als geäußert. Der
Pathologe ist ein - wenn noch nicht zer-, so doch ein gestörter
Mann. Trotz einiger Parallelen ist er kein typischer Detective
vom Schlage Philip Marlowes. Waffen fehlen, die Gewalt ist eine
andere als die sonst übliche, bei der ein Colt gezogen wird und
der Gegner fällt. Gewalt wird hier nicht von abseits des Gesetzes
stehenden Outlaws ausgeübt, sondern von den Dienerinnen der in
dieser Zeit in Irland alles prägenden, übermächtigen katholischen
Kirche, die die Luft in Benjamin Blacks 1. Roman Christine Falls
immer knapper werden lässt.


Zu Beginn sieht Quirke den Totenschein einer Frau, Christine
Falls, der Namensgeberin des Romans und zweifelt ihn an - zu jung
und gesund ist diese für die gestellte Diagnose. 


Malachy, kurz Mal, sein Stiefbruder, der als Frauenarzt im
gleichen Krankenhaus arbeitet, bittet ihn um Stillschweigen und
darum, die junge Tote nicht zu obduzieren. 


Wenig überraschend forscht Quirke nach und entdeckt, dass neben
dem gefälschten Totenschein von Christine Falls auch der
dokumentierte Entdeckungsort der Toten nicht stimmt. Christine
Falls ist bei der Geburt ihres unehelichen Kindes verblutet, von
ihrem Baby fehlt jede Spur. Quirke findet heraus, dass sie einst
im Hause seines Bruders angestellt war und verdächtigt ihn, der
Vater zu sein, stößt aber bei seinen Nachforschungen auf eine
Mauer des Schweigens. Als er die Frau findet, in deren Haus
Christine Falls ihr Baby auf die Welt brachte, bringt er sie
dazu, ihm einige Details zu erzählen. Wenig später wird sie
ermordet.


Gleichzeitig werden wir in eine komplizierte Familiengeschichte
eingeführt, in der unter der Oberfläche viele Konflikte schwelen,
die erahnbar, aber lange nicht deutbar sind. Nach und nach wird
enthüllt, dass Quirke einst von Mals Vater Garrett Griffin, im
Buch nur “der Richter” genannt, adoptiert und aufgezogen wurde.
Vor seiner Adoption lebte Quirke in einem Waisenhaus, der
Carricklea Industrial School, wo er körperlichem und sexuellem
Missbrauch ausgesetzt war.


Die beiden Brüder waren während ihres Medizinstudiums in Boston,
wo sie ein Schwesternpaar kennenlernten, Sarah und Delia, die sie
dann heirateten. Delia starb während der Geburt von Phoebe.
Quirke, unfähig, überließ seine Tochter Mal und Sarah, in die er
verliebt ist. Niemand erzählte Phoebe, wer ihre wirklichen Eltern
sind. All dies wird in kleinen Dosen erzählt, geraunt,
angedeutet. Mehr wird über Benjamin Blacks Erzählungen des
Innenlebens seiner Protagonisten sichtbar, als in einer
draufblickenden Erzählung der Ereignisse. Wir sehen viele
Introspektiven, ein trostloses Gefühl der Einsamkeit durchzieht
das Buch.


Immer wieder tauchen religiöse Einrichtungen auf, ein Kloster,
ein Haus, in dem junge schwangere, ledige Frauen arbeiten müssen.
Niemand spricht mit Quirke, zunehmend wird ein grausiges Bild
sichtbar: In dieser Zeit gab es in Irland ein dichtes Netz aus
kirchlichen Einrichtungen, in das ungewollt Schwangere
eingewiesen und zur Sklavenarbeit gezwungen wurden. Da
vorehelicher Sex eine Sünde war, wurden die Kinder für
“Ausgeburten des Satans” gehalten und ihnen alles verweigert. Ein
Drittel der Kinder starb vor dem 1. Geburtstag an Masern,
Lungenentzündung, Tuberkulose oder verhungerte einfach.
Überlebende wurden ausgebeutet und brutal unterdrückt und
missbraucht, immer mit der Überzeugung der Klerikalen, das
Richtige zu tun. Ein Teil der Kinder wurde an kinderlose Paare,
vor allem in die USA, verkauft.


Dies ist auch das Schicksal des Babys von Christine Falls, die
von einem Kloster in Boston an ein junges Paar mit dem Auftrag
gegeben wird, die Kleine im Sinne der katholischen Kirche
aufzuziehen. Als der neue Vater Andy, ein von sich überzeugter,
aber zutiefst unsicherer Mann, die sich oft in Gewalt gegen seine
Frau und seine Kollegen zeigt, das Kind umbringt - er wollte nur,
dass es aufhört zu schreien - wird dies als “Unfall” vertuscht.
Die Kirche zeigt hier ihre Arroganz, ihr Agieren außerhalb der
weltlichen Gerichtsbarkeit. Quirke muss erkennen, dass nicht nur
sein Bruder, sondern auch sein Vater in den Handel mit den
unehelichen Kindern tief verstrickt ist, ebenso der Vater seiner
verstorbenen Frau. 


Als er nach Boston kommt, findet er das Grab der kleinen
Christine auf dem Grund des Klosters.


Eine Nonne, die mit ihm spricht, wird zwangsversetzt, ansonsten
begegnet ihm Schweigen, aus dem die katholische Kirche ihre
allumfassende Macht zieht und ihren Reichtum speist, stets
sicher, für ihre Verbrechen nicht verfolgt zu werden. Das
Verrückteste daran ist, dass die Nonnen und Prälaten überzeugt
sind, im Recht zu sein, das Richtige zu tun. Die Auswirkungen
sind fatal. Andy, der Christines Baby getötet hatte und weiß,
dass er dafür nicht bestraft werden wird, sieht sein Verhalten
gerechtfertigt und gerät immer tiefer in einen Strudel von
Wahnvorstellungen, der in der Vergewaltigung von Quirkes Tochter
Phoebe seinen schrecklichen Höhepunkt findet. Quirkes Familie ist
auch ohne dieses Drama ein Scherbenhaufen: sein von ihm verehrter
Stiefvater, der ihn einst aus dem Waisenhaus rettete, ist für die
Schwangerschaft von Christine Falls verantwortlich, ebenso für
das Verschicken des Babys in die USA. Sarah, seine Liebe, trennt
sich von seinem Stiefbruder, als dessen Verstrickungen zutage
treten. Phoebe, seine Tochter bricht mit ihm, nachdem er erst
nach knapp 20 Jahren seine Vaterschaft eingesteht. Das Ende des
1. Romans zeigt Quirke, der zur Polizei geht, und einen
Inspektor, der ihm wenig Hoffnung auf Gerechtigkeit macht.


In den 1990er Jahren begann eine verstärkte Aufarbeitung in
Irland, nachdem bereits Mitte der 70er ein Massengrab entdeckt
worden war, dessen Tote zunächst den großen Hungersnöten
zugeschrieben wurden. Nur durch den unermüdlichen Einsatz einiger
Weniger kamen immer mehr Grausamkeiten ans Licht, Überlebende
brachen ihr Schweigen. Neben den unzähligen Toten und der bis
heute nicht bekannten Zahl verkaufter Kinder ist die Suizidrate
unter den Menschen, die in ihrer Kindheit dem katholischen Klerus
in die Hände gefallen waren, laut Statistik zehnmal höher als der
Landesdurchschnitt. Unzählige uneheliche Kinder, ihre Mütter,
manchmal aber auch einfach Frauen, die in einem gewissen Alter
noch unverheiratet waren, wurden zu Sklavenarbeiten gezwungen,
geschlagen, missbraucht. Die Dichte des Netzes, mit dem ganz
Irland mit Einrichtungen dieser Art überzogen war, und das durch
Kirche, Polizei und Justiz geschützt wurde, löste Schockwellen
aus.


Benjamin Black hat in die Quirke-Reihe zahlreiche konkrete
Erinnerungen an seine Kindheit einfließen lassen. So wohnt dieser
in einer Wohnung, die Black von seiner Tante geerbt hatte. Die
Atmosphäre aus Angst, Unterdrückung und Schweigen entspricht
seinem Gedächtnis.


Benjamin Black aka John Banville hat sich darüber in einem
Interview geäußert: “Das Aufwachsen im katholischen Irland war
die pure Gehirnwäsche. Wir lernten viel Unsinn und Lügen, die uns
als Glaube verkauft wurden, während die Kirche im Geld schwamm
und die Leute unter ihrer Aufsicht mißbrauchte. Den Priestern und
Nonnen wurde die sexuelle und amouröse Liebe verweigert, was ich
für abstoßend halte, ein Verbrechen. Wir wussten, dass es
Missbrauch gab und wir wussten, dass es schlimm war, aber wir
wußten nicht wie schlimm, bis es die Enthüllungen gab. Und wir
wussten nichts über die kriminellen Machenschaften, mit denen die
Kirche ihre Verbrecher beschützte, sie von Pfarrei zu Pfarrei
versetzte, um alles zu vertuschen.”


Die fortwährende Macht der katholischen Kirche war auch zu
spüren, als Sinéad O’Connor, die nach einem Ladendiebstahl ein
Internat der Sisters of our Lady of Charity besuchen musste, und
über Missbrauch berichtete, ein Bild des Papstes in Saturday
Night Live Show in den USA zerriss. In der nächsten Ausgabe der
Show distanzierte sich z. B. Joe Pesci von der Künstlerin und
verriet, dass er sie für diese Aktion gern geschlagen hätte,
weltweit gab es wütende Proteste.


Benjamin Black schreibt Christine Falls mit all diesem Wissen,
aber ohne dieses als Schablone darüber zu legen. Die Gewalt wird
angedeutet und gezeigt, aber mit der Selbstgerechtigkeit der
katholischen Kirche, die heute nicht mehr so denkbar ist. Ein
Klima des Schweigens, der Angst. Die Liebe des Autoren zu seiner
Heimatstadt Dublin ist trotzdem zu spüren.


Die ersten 3 Bücher der Quirke-Reihe wurden 2014 als Miniserie
für BBC One verfilmt, die ich an dieser Stelle ebenfalls
empfehlen möchte. Wer an seinen Englischkenntnissen zweifeln
sollte, weil sie nichts versteht: dass ging den Briten und Iren
genauso. Viele benötigten ob des Genuschels Untertitel.


Während dessen ging vor einigen Tagen der deutsche Katholikentag
unter dem Motto “Seht, da ist der Mensch” in Leipzig zu Ende,
fast so, als würde die katholische Kirche tatsächlich ihren
Schäfchen Respekt entgegenbringen. Mit dem Missbrauch innerhalb
der katholischen Kirche beschäftigte sich nur eine der im 640
Seiten starken Tagungskalender aufgelisteten Veranstaltungen, als
Erfahrungsbericht einer Betroffenen deklariert, nicht als Kritik
am System.


Es verabschiedet sich Irmgard Lumpini, den Link zum Buch findet
Ihr auf unserer Website lobundverriss.substack.com. Nächste Woche
diskutieren Anne Findeisen, Herr Falschgold und meine Wenigkeit
die Bücher der letzten Wochen. Wer vorlesen möchte findet diese
auf lobundverriss.substack.com


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