Philipp Meyer: The Son

Philipp Meyer: The Son

8 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Jahr

Der Zauber anderer Welten, der Mythos des Wilden Westens, edle
Indianer, wüste gesetzlose Gesellen, hart arbeitende Farmer,
eindimensionale Frauendarstellungen, Cowboys: die Sachsen lieben
ihren Karl May. Welch bittere Enttäuschung, als man später
lernte, dass der gar nicht dort gewesen war, und sich alles nur
ausgedacht hatte. Kein Grund, die Karl-May-Festspiele abzusagen,
das Gefühl der Betruges bleibt schal, Winnetou taugt nur als
nostalgisches Werk nach einem überfressenen Weihnachten.


Am Anfang von The Son findet sich ein Familienstammbaum, deren
Verzweigung mit schöner Regelmäßigkeit 3 Kinder hervorbringen,
und die 7 Generationen umfasst. 


Das erste Kapitel gibt eine transkribierte Tonbandaufnahme des
Familienpatriarchen Eli McCullough wieder, der das biblische
Alter von 100 Jahren erreicht hat, und seine offizielle
Geschichte und die des Staates Texas, auf dem sich seine
Ländereien befinden, erzählt.


In der deutschen Ausgabe wurde der Titel von “The Son” zu “Der
erste Sohn” geändert und legt damit einen Schwerpunkt auf den
mythischen Eli McCullough, der am Gründungstag der neuen Republik
Texas, am 2. März 1836, geboren wurde. Dies wird den Schichten
des Werkes nicht gerecht, denn The Son beschreibt tatsächlich die
Geschichte von Söhnen, Eli, dessen Sohn Peter, und dessen Enkelin
Jeanny, die ihrerseits 2 Söhne hatte. Ihre Geschichten erinnern
an die Bibel, sind eine Abfolge von Ereignissen, die als
unausweichlich dargestellt werden, denen man vielleicht
entkommen, die man aber nicht verhindern kann. Eine
“Das-ist-eben-der-Lauf-der-Dinge” Haltung, die Härte und Stärke
verlangt, Empathie verbietet, Übertreten der als in Stein
empfundenen Regeln wenn nicht mit Tod, dann doch mit Ächtung
unausweichlich bestraft wird.


Eli McCullough erzählt seine Kindheit aus der Ich-Perspektive:
als Kind wird er von Indianern geraubt, die seine Mutter und
Schwester vergewaltigen und schlachten und später auch seinen
Bruder Martin töten. Er hingegen wird adoptiert und verlässt erst
seinen Stamm, als dieser nach jahrelangen Entbehrungen
ausgelöscht wird, um mit 16 Jahren in die “Zivilisation”
zurückzukehren, die ihm völlig fremd geworden ist. Zu lange hat
er außerhalb dieser Gesellschaft, die sich mit äußerster
Brutalität in Texas durchgesetzt hat, gelebt. Was er gelernt hat
ist, dass der Tod immanent ist, dass man töten muss, um am Leben
zu bleiben. In einem Initiationsritus mordet er dann selbst zum
ersten Mal, und das Töten wird sich bis ans Ende des Buches
hinziehen. Dann enthüllt er, dass seine Frau und einer seiner
Söhne von Indianern getötet, wenn auch nicht skalpiert wurden und
setzt seine bei den Indianern erlernten Kenntnisse ein, um diese
zu finden und alle umzubringen. Mit klarem Blick beschreibt er,
dass seine Angestellten, die nie gedacht hätten, noch einmal
Indianer jagen und ermorden würden, und wie sie sich darauf
freuen, die “großen Schlachten ihrer Vorfahren” erneut zu
fechten. Ein kleiner Junge überlebt und wird als Zeuge am Leben
gelassen, als Verweis auf den Kreislauf, den Mord und
anschließende Rache scheinbar unausweislich bilden.


Peter McCullough, sein Sohn, 1870 geboren, schildert seine und
die Familiengeschichte in Form von Tagebucheinträgen, die 1915
beginnen. Er ist eine diametrale Figur zu seinem
legendenumwobenen Vater, der sich nicht mit der Härte abfinden
kann, der sich nicht am Landraub und an den Vertreibungen
beteiligen will. Im Zeitraum zwischen 1910 und 1919 gab es in
Texas, insbesondere an der Grenze zu Mexiko, die Bandit Wars, bei
denen Mexikaner versuchten, die anglo-amerikanische Bevölkerung
zu vertreiben. Im Gegenzug töteten Amerikaner viele Mexikaner auf
dem Gebiet von Texas und nahmen ihnen ihr Land weg. Peter
McCullough kann seinem Vater und dem Rest der Familie nicht
verzeihen, dass diese ihre Nachbarsfamilie fast ganz auslöschen
und sich danach die Ländereien aneignen. Sie können ihn nicht
verstehen, weil der Grund für die Pogrome, im Werk nüchtern mit
Raids bezeichnet, die Verletzung eines seiner Söhne ist.


The Son ist von unglaublicher Grausamkeit, die durch die
Konzentration auf die persönlichen Geschichten der einzelnen
Familienmitglieder der McCulloughs und ihre inneren Kämpfe und
Haltungen dem Mythos der heroischen Geschichte Texas begegnet und
zeigt, was die Grundlage für die beiden großen Erzählbilder -
riesige Farmen mit unzählbaren Viehherden und Öl - gewesen ist:
die Auslöschung der unterschiedlichsten Indianerstämme, der
gleichzeitige und länger dauernde brutale Landraub und die
Ermordung und Vertreibung der überlebenden Mexikaner durch die
Weißen. Reichtum entsteht nicht, wie oft in den Geschichten von
den zu Millionären gewordenen Tellerwäschern oder von den
App-programmierenden Nerds beschworen, durch harte Arbeit, wie
Eli McCullough von seinem Ziehvater Toshaway lernt. Zitat: “Wir
wissen, dass unser Land einst anderen gehört hat, die wir getötet
und denen wir es weggenommen haben. Aber die Weißen denken nicht
so. Sie bevorzugen es zu vergessen, dass alles was sie wollen
jemandem anders gehört. Ich bin weiß, und es muss meins sein.
...Die Weißen sind verrückt. Sie wollen alle reich sein, aber sie
geben nicht zu, dass man nur reich wird, wenn man andere
bestiehlt.” und, noch erhellender - Zitat “Sie denken, wenn man
die Leute nicht sieht, die man bestiehlt, oder wenn man sie nicht
kennt, oder wenn sie anders aussehen, dann ist es nicht wirklich
stehlen.” Zitatende.


Schockierend ist, wie einfach die Rechtfertigungen sind, die bis
heute Bestand haben. So erinnert sich Jeanne Anne, Jahrgang 1926,
an die Worte ihres Vaters, der im Buch nur in den Erzählungen der
Protagonisten auftaucht. Zitat “Männern wollen beherrscht werden.
Der arme Mann bevorzugt es, mit dem Reichen und Erfolgreichen
assoziiert zu werden. Selten erlaubt er es sich daran zu denken,
dass seine Armut und der Reichtum seines Nachbarn einander
bedingen, denn dann müsste er handeln, und es ist einfacher für
ihn, über all die Sachen nachzudenken, warum er über seinen
anderen Nachbarn steht, die einfach nur noch ärmer sind.”
Zitatende.


Jeanne Anne ist die Dritte erzählende Protagonistin und eine der
wenigen Frauen in The Son, die nicht nur als Opfer von
Vergewaltigung, Vertreibung oder Mord gezeichnet werden. Sie
übernimmt das Öl-Imperium, dass ihr Urgroßvater und ihr Großonkel
aufgebaut haben. Nicht, weil sie die beste Kandidatin dafür
gewesen wäre, sondern weil einer ihrer Brüder dem Leben in Texas
in die Großstadt entflohen ist, und die beiden anderen im 2.
Weltkrieg umgekommen sind. Ihre Geschichte sind
Bewusstseinsströme, die am Ende ihres Lebens zurückblicken. Ihre
Sicht auf das Leben zeigt viele Parallelen zu der ihres
Urgroßvaters Eli, den Zwang Härte zu zeigen um sich
durchzusetzen, das Wissen darum, dass der Erfolg darauf beruht,
sich im Geschäft und im Leben rücksichtsloser als Andere
durchgesetzt zu haben. Sie liegt im Sterben und halluziniert.
Gleichzeitig sind diese Halluzinationen für sie eine Möglichkeit,
Taten einzugestehen und in den Kontext ihrer Zeit und ihrer
Familie sowie ihrem eigenen Land und ihres Staates Texas
einzuordnen.


Philipp Meyer hat mit The Son den 2. Teil einer geplanten
Trilogie veröffentlicht, die als texanisches Epos gefeiert wurde,
dass dem heroischen Mythos des Staates die Geschichte der weißen
Siedler, brutalen Landraube, des fast 50 Jahre dauernden Krieges
mit den Comanchen, die Öl- und Vieh-Dynastien, den Wandel der
Gesellschaft von den frühesten Tagen der amerikanischen Siedler
bis zur Gegenwart entgegensetzt. 


Dafür hat er - anders als der eingangs erwähnte Karl May -
exzessiv recherchiert und sich Fähigkeiten angeeignet. Eine
unbedingte Leseempfehlung, die neben der zuvor ausführlich
geschilderten Grausamkeit und der Trauer einen fast
unerklärlicher Optimismus ausstrahlt. Vollkommen zu recht wurde
er für dieses Werk für den Pulitzerpreis nominiert.


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