Studio B Sommerklassiker: Neal Stephenson - Seveneves

Studio B Sommerklassiker: Neal Stephenson - Seveneves

28 Minuten
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Beschreibung

vor 9 Monaten

Im Rahmen der “Lob und Verriss” Sommerpause die Rezension eines
Buches aus dem Jahr 2015.  Ein wirklicher Urlaubsschmöker
mit Tiefgang, und natürlich wusste Neal Stephenson mal wieder
viel mehr über unsere Zukunft als alle anderen.


Holy f*****g s**t, Neal. Neal, Neal, Neal Neal, Neal.. Was machst
Du hier mit uns?


Neal Stephenson hat einen Roman geschrieben, der unendlich
deprimierend ist. Und genauso grenzenlos empfehlbar. Es ist seit
langem ein Roman, bei dem man 200 Seiten im Buch nicht das Ende
ahnt. Es kommt alles ganz anders. Ganz anders. Deshalb hier mit
einem Katzenbild von der Rezension getrennt die Bitte an alle,
die Starke Nerven und ein positives Gemüt haben, sofort
abzuschalten und sich Neal Stephensons unaussprechlich betitelten
Roman “Seveneves”, auf Deutsch “Amalthea” zu holen und
wiederzukommen, nachdem die letzte Seite gelesen ist. Ich
verspreche beim heiligen Douglas Adams, dass niemand enttäuscht
sein wird. Das Buch ist noch nicht übersetzt, aber der
Schwierigkeitsgrad is mässig und man vermeidet bei sofortigem
Lesen den unvermeidlichen Spoiler, den ein gedankenloser Verleger
durch den Deutschen Titel verbrechen wird (was sich überraschend
nicht bewahrheitet hat, Respekt!). Neal Stephenson heißt der
Autor, “Seveneves” das Buch. 


und … an alle Fragilen, Daheimgebliebenen, zur Depression
neigenden Leser kann ich ohne Angst vorm Spoiler von einem ganz
unglaublichen Buch berichten. 


Ort der Handlung: Die Erde. Zeit der Handlung: Jetzt. 


Szene: Nacht. Ein Arbeiter genießt seinen Feierabend, schaut in
den Sternenhimmel von Alaska. 


Szene: Nacht. Rio. Menschen amüsieren sich.


Szene: Nacht. Eine Party in LA. Kamerafahrt: Blick zum Mond.
Action. 


In einer Sommernacht Anfang des 21. Jahrhunderts verschwindet der
Mond. Genauer, ein “Agent”, im Sinne von “eine nicht erklärbare
Ursache”, “irgendeine Kraft” spaltet den Mond in 7 Teile. 300
Millionen Tweets während eines Super Bowls sind ein Scheißdreck.
Jeder kann es sehen und jeder ist starr vor Schreck und
Faszination. Wo gerade eben noch ein Mond war, sind jetzt, etwas
größer in der Fläche, sieben verschieden große Mondteile, nicht
weit voneinander entfernt, umgeben von einer Halo Mondstaub.
Faszinierend. 


Während der Bürger noch am tweeten ist, der Politiker fragt, wer
dran Schuld hat, machen sich Wissenschaftler Gedanken um die
Auswirkungen. Bleiben die Gezeiten aus? Die Erde stehen? Keine
Sorge, Stephenson erklärt uns kurz das Ding mit Newton,
Gravitation. Der Mond ist nur gespalten, nicht verschwunden,
solange die Masse halbwegs an einem Platz bleibt, sind die
Gravitationskräfte, die auf die Erde und damit die Meere
einwirken, die gleichen. Puh. Faszinierend. 


Problem: Der Mensch. Er hört nur, was er hören will. Das
Entscheidende am soeben gehörten Satz war nicht, dass die
Gravitationskräfte, die auf die Erde wirken, dieselben bleiben
werden. Das Entscheidende war das einschränkende Konditional:
Solange die Masse des Mondes halbwegs an ihrem Platz
bleibt. 


Nunja, wo soll der Mond hin, die Gravitationskräfte der Erde
wirken auch auf den Mond zurück. Dass sich da sublim etwas
verändert über einen kosmischen Zeitraum, sicher, aber
kurzfristig sollten die Veränderungen klein sein, schreiben wir
den Gezeitenplan halt um. 


Ein paar Nächte später beobachtet Astrophysiker Dr. Harris,
TV-Celebrity und Physikerklärer irgendwo zwischen Bill Nye und
Neil DeGrass Tyson dass aus den sieben um die Erde und sich
selbst kreisenden Mondteilen durch Zusammenprall zweier derer
acht geworden sind. Kurze Zeit später 10, kurze Zeit später 14…
Faszinierend.


Problem: Entropie. Dr. Harris erklärt: Das Universum neigt zum
Chaos, zum auseinanderdriften. Vom Organisierten zum
Unorganisierten. Der Mond - gespalten von bis zum Ende des Romans
unbekannter Kraft - wird sich weiter teilen, immer kleiner, immer
kleiner. Vorbild: Saturn. Ein Mondring um die Erde. Faszinierend.


Problem: Gravitation. Kein Mond bedeutet keine Gezeiten.
Zumindest nicht das Bekannte, das durch das Eiern des Mondes um
die Erde hervorgerufene Gezerre an zähen Wassermassen im 
Zwölfstundentakt. Klingt beunruhigend und ist völlig egal.
Weil...


Problem: Gravitation. Vor 4,5 Mrd Jahren haben sich Erde und Mond
gefunden oder voneinander gespalten, je nach Theorie, so dass
beide in einem Equilibrium sind. Die gegenseitig aufeinander
wirkenden Kräfte sind im Gleichgewicht, man tanzt umeinander. Das
geht mit sieben Teilen eine Weile gut, mit acht auch noch, mit
zehn? Mit vierzehn Teilen? Eines leichter als das andere?
Beunruhigend.


Frage: Was passiert, wenn man es mit 100, 1000, einer Millionen
Mondteilen zu tun hat?


Antwort: Nichts, solange diese beieinander bleiben. Masse in
halbwegs der gleichen räumlichen Ausdehnung ist im Prinzip die
gleiche Masse. 


Problem: Beim sich gegenseitigen Splitten fallen Brocken aus dem
Mond. Sie gelangen aus dem Gleichgewicht. Werden von der Erde
angezogen und verglühen als Kometen. Je mehr sich der Mond
splittet, desto öfter passiert das. Desto leichter wird der
Mondstreusel. Desto eher fliegen Tele aus dem Verbund. Zur Erde.
Desto näher rückt der Mond zur Erde. Desto ungleichgewichtiger
werden die Gravitationskräfte. Desto einfacher werden Teile aus
dem Mond gerissen. Desto öfter. 


Problem: Exponentialität. Die gerade Linie ist in der Natur
unbekannt. Nichts steigert sich linear. Nicht die Anzahl von
Blättern an einem Baum. Nicht die Anzahl von Menschen auf der
Erde. Nicht die Anzahl von Atomspaltungen in einer Atomnombe.
Nicht der Zerfallsprozess des Mondes. 


Insert: Exponentialität kann man berechnen. Danke Herr Euler
(1707 bis 1783). Eulers Number: e=2,71828. Viel wichtiger als Pi.


Lösung? Der Gleichung? Kein Problem mit Euler: Masse der Erde.
Masse des Mondes. Anzahl von Teilungen pro Zeiteinheit. Eulers
Number. 


Endlösung.


Und das ist kein schnippig dahin gesagtes Wort. Höhö. Endlösung,
so wie bei den Nazis. 


Es ist ein Gefühl, das das Buch durchzieht. Es ist alles so
grausam. Gruselig, wenn das nicht ein Wort für Kinderbücher wäre.
Traurig. Zutiefst. Die Menschheit hat sehr genau noch 2 Jahre.
That’s it. Alles, was sie der Erde, sich selbst abgerungen hat.
noch 720 Tage +/-. Dann kippt die Linie in die Kurve. Die
Entropie gewinnt. Meteoriten werden größer, mehr. “Hard Rain”
wird der Effekt getauft. Es wird der Tag kommen, sehr genau
berechenbar, in 2 Jahren, da wird es nicht einen Einschlag pro
Woche geben. Nicht einen pro Tag. Nicht einen pro Stunde irgendwo
auf der großen weiten Welt, da wird der ganze f*****g Mond in
einem Rutsch auf die Erde fallen. Ok, nicht in einem Rutsch. Es
wird ein paar hundert Jahre Steine regnen. Hard Rain. Dann wird
es ein paar tausend Jahre Vulkane, kochende Meere, dünne Luft
geben. Dann vielleicht wieder Bakterien. Irgendwann. Toll
ausgedacht, Neal. Ganz toll. Faszinierend.


Zwischendurch beim Lesen wird man einfach wütend. What the f**k.
Man recherchiert ein bisschen und begreift, dass so astronomische
Katastrophen nicht unüblich sind, im kosmischen Maßstab.
Statistisch möglich. Diese Sinnlosigkeit. Es ist einfach nur
frustrierend.


Neal Stephenson also gibt der Menschheit noch 2 Jahre. Nach
kurzer Schockstarre beginnt sich die Welt zu vereinen, in der
Anstrengung wenigstens die “Heritage” der Menschheit zu bewahren.
Etwas zu Hinterlassen. Alle Anstrengungen werden auf die
Errichtung einer “Ark Cloud” gerichtet. Um die Raumstation ISS
sollen Pods für jeweils 5-6 menschen gescharrt werden. Lose
verbunden wie ein Fischschwarm, um Manövrierfähig zu bleiben.
Jedes Land soll per Los proportional zur Weltbevölkerung junge,
vermehrungstüchtige Menschen schicken, sich über dem Sturm zu
halten, zu vermehren, wenn es sein muss ein paar tausend Jahre
lang, bis die Erde sich abkühlt von Mondes Dauerfeuer. Keine
Wissenschaftler, berühmte Künstler, oder, Gott behüte,
Staatsmänner. Hier geht es um Biologie. Jung müssen sie sein,
fruchtbar. 


Der Plan klingt so verzweifelt und aussichtslos wie er ist. Er
ist Hoffnung und Therapie und gibt der “Menschheit” etwas zu tun
bis zum Hard Rain. Aber der Gedanke, dass  1000 oder 2000
Menschen über 1000, 4000 oder nur 500 Jahre in ein paar hundert
Raumkapseln um die Erde segeln. What are the odds? Und ist das
dann noch eine “Menschheit”? Was ein Wald ist, was ein Fluss, was
ein Berg, eine Bar, ein Fussballspiel ist Stoff von Erzählungen,
dann Videos, dann unverständlichen Bildreihen. Was für eine
Scheisse.


Aber der Mensch gibt nicht auf, Selbsterhaltungstrieb over alles.
Also baut man und stößt auf Schwierigkeiten und überwindet sie.
Die Monate vergehen, der Mond wird größer, milchiger, Meteoriten
häufiger, Einschläge kommen näher. Es sind nur noch Wochen, man
verabschiedet sich von den zu Hause bleibenden, wenn man auf der
ISS ist, von den glücklichen, die einen Platz dort gefunden
haben, wenn man sein Leben auf der Erde runterzählt. Ein paar
verzweifelte graben sich ein in tiefen Steinbrüchen. Atom-U-Boote
tauchen in tiefe Meeresschichten. 


Ein Asteroid. Seit Millionen Jahren im Sonnensystem unterwegs
wird ausgemacht. In sechs Stunden kreuzt der die Bahn der
Mondwolke. Der Auslöser. Der Schmetterling in China, der den Sack
Reis auf die Erde stürzen lässt. Panisch werden in höchster Eile
die letzten Pods in die Luft geschickt, zur “Izzy” wie die neue
Mutter der Menschheit liebevoll genannt wird. Zur Ark Cloud,
ihren Babies. 


Die Einschläge beginnen um den Äquator herum, astronomische
Gründe, die keinen mehr interessieren. In den Kathedralen,
Konzerthäusern, Stadien der Welt versammeln sich Orchester. Ein
letztes Mal Musik, Volkslieder, Hymnen, Mozart, Bach.
Radiostationen übertragen aus London, Paris, Sao Paulo, New York.
Man spielt durch, trotz Einschlägen entfernt und immer näher
kommend. Man spielt für sich und für die Ark Cloud. Dort hört man
das Ende der Zivilisation per Mittelwelle. Paris fällt aus. Sao
Paulo. London, trotz Einschlägen spielt weiter. Nördliche
Hemisphäre, weiter weg vom Äquator. Ein Tsunami  löscht die
East Coast aus. Die Erde trägt eine Schärpe aus Feuer. London
verstummt. Die Erde schweigt.


Neal Stephenson hat uns 400 Seiten lang von einer Sommernacht auf
der Erde zu derem Ende als Heimstatt der Menschheit geführt. 2000
Arkies, ein paar tausend Reagenzgläser Sperma, Wasser für ein
paar Jahre, nicht wirklich funktionierende Nahrungsproduktion
sind übrig geblieben vom Jagen und Sammeln, vom Glauben, vom
Aufklären, vom Ausbeuten, vom Bekriegen, vom Spielen mit
Atombomben. Wie ausgesetzte Kinder hängt der klägliche Rest der
Zivilisation aneinander und bibbert. 


In aller Ausführlichkeit hat uns Neal Stephenson an diesen
Tiefpunkt, den tiefsten den man sich in der Belletristik
vorstellen kann, geführt. Tiefer geht es nicht. Denkt man, als
das letzte von der Erde gestartete Pod anlegt, sich die Schleuse
öffnet und die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika an
Bord kommt. Die nunmehr einzige Politikerin in der Ark Cloud.
What could possibly go wrong?


Es dauert keine Stunden, da fängt Julia Bliss Flaherty, als POTUS
noch sehr schön assoziativ JBF genannt, an "Politik" zu machen
und sich eine Machtbasis zu suchen. Die Cloud Ark technisch
bedingt geteilt in die recht groß gewordene Mannschaft der ISS,
meist Techniker, Genforscher, Psychologen, Piloten und in die
"Arkies", das fruchtbare Jungvolk, dass in separaten Raumkapseln
und nur durch ein kleines Internet miteinander verbunden hinter
der ISS her fliegt. Julia, die nicht wirklich etwas dagegen hat,
wenn man sie Madam President nennt, hat den für jeden
Karrierepolitiker notwendigen Spalt in der Gesellschaft gefunden.


Die Cloud Ark, ISS und die Archies, mögen voneinander getrennt
leben, aber sie fliegen gemeinsam und nur gemeinsam können sie
überleben. Nach all dem S**t, der die letzten 2000 Menschen in
diese verdammte Situation gebracht hat, alle Wunden noch offen
vom nacheinander Verstummen der Orchester der Welt, sieht der
Leser, was kommen muss: ein egomaner Politiker hat nichts
besseres zu tun, als sich auf Kosten der
Überlebenschancen des letzten verschissenen Restes der Menschheit
zu profilieren. Blutdruck. E-Book weglegen. Unvorstellbar. Was
für eine Scheiße.


Aber Neal Stephenson ist noch nicht fertig mit uns.


In den ersten 500 Seiten von “Seveneves” hat er uns eine
Kerntruppe von Charakteren nahe gebracht. Fast alle
Besatzungsmitglieder der ISS. Da ist Dr. Harris, der Erklärbär
aus dem Fernsehen, der immer mehr sieht, dass die Cloud Ark,
verkauft an Todgeweihte auf der Erde, eine Sache ist, die nicht
funktionieren kann. Da sind Dinah und Ivy, respektive
Robotertechnikerin und ehemalige Kommandantin der ISS, beste
Freundinnen, die sich auch mal einen Tequila hinter die Binde
kippen und sich ewig aufeinander verlassen können, Moira, die
Gentechnikerin, die alles daran setzt den letzten Rest der
Menschheit, zusammenklebend in Reagenzröhren, irgendwie zu
retten, Tekla, eine russische Pilotin, aufrichtig und
kompromisslos, wenn es um die Sicherheit der Cloud Ark geht.
Luisa, die Psychologin aus New York, die vielleicht ohne die Erde
auskommt, aber nicht ohne ein Strassencafe, eine Dive Bar, einen
Tacostand und sich darum kümmert, dass, so Scheiße alles ist, es
noch Reste an normalem Leben gibt. Dutzende Typen, mit denen der
Leser die letzten zwei Jahre der Erde verbracht hat, an Bord der
ISS und der entstehenden Cloud Ark, auf einem "Ausflug" um einen
Wasserhaltigen Kometen von weit außerhalb der Umlaufbahn des
ehemaligen Mondes einzufangen, denn ohne Wasser braucht man das
Projekt Cloud Ark gar nicht angehen. Charaktere, die zu Menschen
wurden, dank Stephenson, die sich den Arsch aufgerissen haben
gegen alle odds, gegen alle Hoffnungslosigkeit, die gewachsen
sind, die auf einmal Dinge können, die ihnen und sich selber
niemand zugetraut hat, die jedes Problem angehen, alles unter dem
Gesichtspunkt diese f*****g allerletzte Chance zu erhalten,
diesen Hauch einer Chance, dass das hier nicht die letzten 1500
Menschen sind, die es je gab und dann kommt so eine B***h von
abgefuckter Politikerin, Madam President Julia Bliss Flaherty an
Board, mit einer Pistole, Feuerwaffe, mit Kugeln und so. Im
Weltraum. Diese grenzenlose Dummheit!


Bis diese zum Einsatz kommt, vergehen ein paar Monate. Monate, in
denen sie zusammen mit ihrer Bewunderin "Camila" und einem fetten
Schwein von Blogger die halbe Cloud Ark Besatzung aufwiegelt,
sich von der ISS zu trennen. Camila ist ein Schulmädchen aus
Pakistan, ein Medienstar und Beleg dafür, wie gut das "Auslosen"
von Arkies in den jeweiligen Ländern funktioniert hat. Camila hat
ein Vorbild in der realen Welt: Malala Yousafzai - das
Pakistanische Schulmädchen, dass bei einem Talibanüberfall in den
Kopf geschossen wurde und überlebt hat und seitdem ihre
Bekanntheit dazu nutzt, Vorträge über die Situation von Frauen in
der islamischen Welt zu halten, ihre Unkritisierbarkeit jedoch
dazu missbraucht, dies in einem derart pathetischen, unhörbaren
Duktus zu tun, dass man als TV-Zuschauer nur still in's
Kopfkissen schreien kann. Neal Stephenson rächt sich damit, sie
zu einem der Präsidentin der USA verfallenen, manipulierten
Dummchen zu machen. Ich bin Fan.


Zumal sich Camila rehabilitieren kann. Nachdem sich der
aufgewiegelte Teil der Cloud Ark selbst und -mörderisch vom Rest
des Restes der Menschheit gelöst hat, kommt es zu einem
Handgemenge (alles in Zero G) und JBF, Madam President schießt
auf Tekla und wird nur durch die mittlerweile augengeöffnete
Camilla daran gehindert, diese zu erschießen. Aber eine Pistole
im Raumschiff, zusammen mit einem Meteoreinschlag in wichtige
Teile der ISS, dezimiert die Menschheit auf die Hälfte. Da waren
es nur noch 800. Minus all den gesammelten und tiefgekühlten
Spermavorräten. Oups. Kann ja mal passieren. 


Zwei Teile des Schwarmes machen sich also auf den Weg: der Eine,
die Abtrünnigen in eine vermeintlich sichere Umlaufbahn, ein
Korridor, in dem man den Mondsplittern entgehen kann - für den
Preis, permanent Sonnenstürmen ausgesetzt zu sein - soviel zum
Thema "Wenn Facebookuser entscheiden könnten". Der Rest macht
sich zusammen mit der ISS zum letzten stabilen Teil des Mondes
auf, eine tiefe Spalte im selben, in die man sich schmiegen
möchte, geschützt von Strahlung, Meteoriten und Politikern. 


Problem: Physik. Um sich von der Position der Raumstation ISS in
stabilem Orbit um die Erde zu einem Orbit um den Mond, oder was
davon übrig ist zu bewegen, braucht es Zeit und Energie. Drei
Jahre werden vergehen.


Drei Jahre, in denen der abgespaltene Teil der Archies, ganz
kalter Krieg, keinerlei Kontakt haben möchte. Irgendwann jedoch
fehlt Wasser, die ISS hilft. Bald essen, die ISS hilft.
Irgendwann, kurz vor Erreichen des Mondes, es sind noch ein paar
Dutzend Menschen am Leben, meldet sich der Schwarm, man möchte
wieder nach Hause. Mit letzter Kraft, in letzter Minute, auf der
finalen Umlaufbahn um die Erde, bis diese in eine Umlaufbahn in
den Mondrest umschlägt, stoßen ein paar wenige Überlebende zur
ISS, angeführt von Aida. Eine charismatische Italienerin, Madam
President Jula Bliss Flaherty entmachtet, die Zunge mit einem
verschraubten Beissring ruhiggestellt. Wir sind alle
dankbar. 


Der Schwarm dockt an, die Schleusenautomatik beginnt, das
Intranet des Schwarms verbindet sich wieder mit dem der ISS, die
Inboxen füllen sich mit drei Jahr lang nicht abgeholten Postings
und denen, die gerade nicht mit der Landung auf dem Mondrest
beschäftigt sind, stehen die Haare zu Berge. Was da ankommt, sind
keine Überlebenden. Was da ankommt, sind Kannibalen. Vom Hunger
getrieben hat der fette Blogger angefangen, sich selbst zu essen.
Wer braucht schon Beine in der Schwerelosigkeit. Der erste
Tabubruch ist getan, und bald spaltet sich der Schwarm in
Kannibalen und Hungernde, Fresser und Gefressene, Tabuisten und
Tabubrecher. Angeführt von Aida kommt der Schwarm und fällt über
das letzte Dutzend Menschen her, mit ihrem Plan, im letzten
verbliebenen Ort im Sonnensystem, auf dem wenigsten die Theorie
ein Überleben hergibt. Man kämpft mit allem, was man hat, um
alles was von der Menschheit übrig geblieben ist. Und verliert.


Ja, es gibt Überlebende. Genau Acht. Acht Frauen. Und kein
Sperma. 


Zugegeben, Neal Stephenson hat uns nie Hoffnung gemacht. Kein
wundersamer Mondbeschuss mit Atomraketen wurde uns versprochen,
keine Aliens haben uns gerettet, der Vater von Dinah, der
Robotertechnikeren, Tochter eines Bergmannes, der sich am Tag 1
des “Hard Rain's" in Alaska eingegraben hat, hat sich nicht
wieder gemeldet, der Bruder von Ivy, der Kommandantin, der sich
als Chef eines Atom-U-Bootes am gleichen Tag unter Wasser begeben
hat, auch nicht. Ein paar Arkies waren zum Mars aufgebrochen,
keine Antwort von dort. Die Erde, ein oranger Feuerball, die ISS
auf Restenergie in einer Mondspalte, 8 Frauen on the moon. Kein
Mann. 


Moment. 


Seite 553 von 860. Mh.. What the f**k.


Wir sind am grössten Climax der Literaturgeschichte. Neal
Stephenson hat uns jede Hoffnung genommen, die Erdbevölkerung von
7 Millarden Menschen auf 8 dezimiert und beginnt nach dem
literarischen Mord an 6.999.999.992 Menschen mit einem
spektakulären Comeback, zu welchem ich alle deprimierten und
labilen Hörer nochmals die Chance gebe, sich Neal Stephensons
“Seveneves” zu kaufen und wenigstens die letzten 300 Seiten,
brillant wie die ersten 550 zu lesen und wiederzukommen, nachdem
die letzte Seite gelesen ist. ich verspreche beim heiligen
Douglas Adams, dass niemand enttäuscht sein wird. 


Acht Frauen sitzen in einer Spalte im Mond. Dinah, die
Roboterbauerin, Ivy, die Kommandantin, Tekla, die
Sicherheitschefin, Julia “Madam President”, Camilla, Ihr
ehemaliger Fan und Aida, die einzig überlebende Kannibalin vom
Schwarm. Dazu Luisa, die Psychologin. Und - Moira, die
Genbiologin.


Alle bis auf Luisa, die schon in der Menopause ist, sind
fruchtbar. Seven Eves. Sieben Evas.


Die Männer fehlen - aber Moira weiss Rat. Parthenogenese. Die
Jungfernzeugung, eine Form der Fortpflanzung durch Zellteilung,
die verbunden mit Genmanipulation der Menschheit eine Chance
gibt. Ressourcen sind genug da, jetzt wo nicht mehr 2000 sondern
nur noch zunächst 8 versorgt werden müssen. Zeit ist da, die
Genmanipulation von der Theorie in die Praxis zu bringen.
Faszinierend


Problem: Heterozygosität. Inzucht für Fortgeschrittene. Wenn der
Genpool klein ist, und Sieben ist verdammt klein, kommt es in
nachfolgenden Generationen zu Erbgutschäden. Aber wenn man schon
für die Jungfernzeugung am Erbut rumspielt, kann man auch dagegen
gleich was machen, sprich, die Gene der Eizellen vor der Teilung
manipulieren. 


Problem: Moral. Welche Gene verändert man, welche lässt man
lieber in Frieden. An sich klar, man baut starke Menschen, man
baut kluge Menschen, man baut weniger aggressive 
Menschen. 


Problem: Philosophie. Aggressivität verursacht Konflikte, aber
beschützt gegen Feinde. Körperliche Stärke löst Konflikte zu
Deinen Gunsten, bis der Kluge mit der Pistole zum Boxkampf kommt.
Aber Gendiversifizierung muss sein, sonst Inzucht und aus der
Menschheit wird in eine paar Generationen ein Stamm von noch
größeren Dummköpfen. Also Genmanipulation. Aber welche?


Problem: Gruppendynamik. Seven Eves, Sieben Evas, jeder mit
prototypischen Eigenschaften, klug, aggressiv, stark, milde
sitzen auf einem Plenum. Fünf sind Freundinnen, eine
Ausgestossene und eine ist einfach nur evil. Aber gerade diese,
Aida, die Kannibalin, ist die Jüngste, und man kann nicht einfach
ein Siebtel der Menschheit euthanasieren. 


Lösung: Ein Pakt. Jede Eva darf sich eine Modifikation aussuchen,
die Moira umsetzt, aber keine weiß welche.


Lösung? Oder Problem? Aida, die Kannibalin wider Willen, die
Ausgestoßene ahnt: Problem. Sie stimmt zu mit diesen Worten:


“Ich künde von einem Fluch. Das ist kein Fluch den ich Euch
auferlege. Das ist kein Fluch den ich Euren Kindern auferlege.
Nein. Ich war nie so "böse" wie Ihr alle denkt. Das ist ein Fluch
den Ihr auferlegt, wenn Ihr das tut, was Ihr tun wollt. Und es
ist ein Fluch, den Ihr meinen Kindern auferlegt. Denn ich weiss,
ich sehe wie es sein wird. Ich bin das "Böse". Die Kannibalin.
Die, die nicht mitmachen wollte. Meine Kinder, egal welche
Entscheidung ich treffe, werden für immer anders sein als Eure
Kinder. Denn täuscht Euch nicht, was Ihr hier entscheidet ist
neue Rassen zu erschaffen. Sieben neue
Rassen. Sie werden für immer anders und
getrennt  voneinander sein, so wie du Moira von Dir Ivy. Sie
werden sich nie wieder in eine einzige Menschheit zurück
vereinigen, denn so sind die Menschen nicht. In tausenden Jahren
werden die Nachkommen von Euch sechsen auf meine Nachfahren
schauen und sagen, "Da, schau, da kommt ein Kind von Aida, der
Kannibalin, der Bösen, der Verfluchten". Sie werden die
Straßenseite wechseln, meine Kinder meiden, auf den Boden
spucken. Das ist es, was Eure Entscheidung  meint. Ich werde
meine Kind formen, meine Kinder, und ich werde viele von ihnen
haben um mit diese Fluch leben zu können, um überleben zu können.
Um Euch überleben zu können."


Womit diese Buchbesprechung, halb Buchvorstellung, zum
kreischenden Ende kommt, immer noch 300 Seiten vor dem Schluss.
Man fragt sich gespannt, warum soll man ein derart deprimierendes
Buch, dessen dunkelster Abschnitt mit einem Fluch auf die Zukunft
endet, lesen? 


Punkt 1: Neal Stephenson. Stephenson begann als Novellist und
findet durch seine Arbeit in der TV- und Filmbranche den
Rhythmus, den ein Buch dieser Länge braucht, die richtige Menge
und Tiefe an Nebensträngen und schafft es, wie schon gesagt, über
550 Seiten nicht im Ansatz zu verraten, was am Ende geschieht.
Wovon die Hörer dieser Rezension nun nichts mehr haben. Sorry.


Punkt 2: Neal Stephenson. Stephenson hat mit seinen Frühwerken
Zodiac und Snow Crash, man beachte: in den 80ern, enormen
gesellschaftlichen Weitblick besessen, Umweltkatastrophen und die
Machtübernahme durch weltweite Firmenkonglomerate vorhergesehen,
hat mit dem letzten Werk REAMDE die Parallelwelt viele
Jugendlicher in Massenrollenspielen wie Eve Online oder World of
Warcraft begleitet und bündelt in seinem Magnum Opus hier nichts
weniger als sein Wissen über die Human Condition. 


Geschichtsverläufe sind aus deren Mitte heraus schwer zu
beurteilen, aber wenn man jemandem diese Kompetenz im Ansatz
zugestehen kann, ist es Neal Stephenson. Das Verschwinden des
Mondes ist anlasslos, was danach folgt, jedoch mit dem heutigen
Wissen um unseren Umgang mit uns selbst ursächlich
unvermeidlich. 


Die Konzentration von Macht und Geld in den Händen weniger ist
undemokratisch und für das Wohlergehen in “normalen” Situationen
schon problematisch. In extremen Situationen ist sie fatal. Was
“Seveneves” dabei so lesenswert macht, ist, dass Stephenson sich
das alles schon lange anschaut und trotzdem nicht zum einseitigen
Prediger wird: Denn man kann das Argument bringen, dass
Machtkonzentration in Situationen, in denen es schnell gehen
muss, positiv ist. Stephenson tut es. Er lässt einen
Multimilliardär nach dem Vorbild von Elon Musk ein Problem
erkennen, zukünftiger Wassermangel auf der ISS, und auf eigene
Kosten, mit eigenem Antrieb und schlussendlich unter Opfern des
eigenen Lebens lösen: der elon-muskeske Protagonist schleppt
einen aus Eis bestehenden Asteroiden aus seiner Umlaufbahn zur
ISS und ohne diese heroische Aktion wäre die Cloud Ark nicht im
Ansatz bis zum Mondrest gekommen. 


Aber das Gegenargument folgt prompt in Form der schlussendlich
renegaten US-Präsidentin und ihrer Machtspiele, die die Cloud Ark
den Zusammenhalt kosten. Der Machtwille einer Person löscht
nahezu die Menschheit aus. 


Das Argument “Demokratie löst alle Probleme” führt Stephenson im
nächsten Schritt ad absurdum: Der sich abspaltende Teil der Cloud
Ark mag von Madam President manipuliert worden sein, aber am Ende
entscheiden sich 1100 Arkies, sich auf den Weg in eine eigene
Umlaufbahn zu machen - das Argument, dass man dort an
radioaktiven Sonnenstürmen drauf gehen könnte, wurde im Spacebook
(dem Facebook der Cloud Ark) gemacht, aber verworfen, denn
Klimawandel is for Pussies. 


1050 Arkies weniger (oder 50% der Menschheit) kommt der letzte
Rest derselben dann final in die Situation, solchen
Entscheidungen nicht mehr wirklich unterworfen zu sein. Für
Demokratie sind acht Frauen zu wenig, für Diktatorentum erst
recht. Es bleibt nur noch der Glaube an wissenschaftliche
Notwendigkeit, der alles, inklusive der Moral, untergeordnet
wird. Eine Verurteilung von früheren Vergängnissen, die Gefahren
von Rassismus werden dem Überleben geopfert und damit die achso
schöne einfache Welt der “Lösung der Probleme der Welt aufgrund
technischer Analyse und daraus gezogener Konsequenz” auch noch
diskreditiert. Danke Neal Stephenson. 


Am Ende müssen sich “Die Menschen” auf das verlassen, was sie
alle eint und ausmacht. Das, sorry, cheesy, “Menschsein”. Das,
von dem keiner weiss, was es ist, aber für das jeder irgendwie
inherent ein Gefühl hat, was es sein soll. Etwas Gutes. 


Und das wird auf den letzten dreihundert Seiten erzählt. Diese
müssen positiver sein als die vorangegangenen fünfhundertfünfzig.
Sind Sie auch, aber Aidas Fluch war kein leerer. Es wird ein
Wiedersehen mit alten Bekannten geben, und um die letzten 300
Seiten von Neal Stephensons “Seveneves” nicht auch noch komplett
zu verspoilern hier nur die Überschrift über diesen, letzten Teil
des Romans: “Der Habitatring, 5000 Jahre nach Verschwinden des
Mondes.”


Gehet hin und leset dieses Buch. Es ist wichtig und es ist
traurig und es ist gut und damit ertragbar. 


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