Steve Stern - The Frozen Rabbi

Steve Stern - The Frozen Rabbi

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Beschreibung

vor 8 Monaten

“The Frozen Rabbi” heißt ein im Jahr 2010 erschienenes Buch des
amerikanischen Autors Steve Stern. Es ist sowohl in der
englischen wie der deutschen Ausgabe einer vorn drauf und die
erste und offensichtliche Frage, die sich der Leser stellt, ist
natürlich, ob “Der gefrorene Rabbi”, so der deutsche Titel, eine
Metapher ist. Wir erfahren die Antwort ganz erstaunlich auf der
allerersten Seite im Buch. Nein, der Rabbi ist so real, wie es
einem Romanhelden möglich ist. Und natürlich, ja, ist er auch ein
Gleichnis, wir lesen schließlich Literatur. Auf dieser ersten
Seite also erfahren wir, wie der Teenager Bernie in Memphis,
Tennessee, nach einem Stück Fleisch zum Reinonanieren sucht, denn
er hat gerade inspiriert “Portnoys Beschwerden” von Philip Roth
gelesen, und der Roth ist nun mal für jede Schweinerei zu haben,
der alte weise (sic!) Mann. Bernie geht dazu in die Abstellkammer
des elterlichen Hauses, öffnet den mannsgroßen ur-uralt
Gefrierschrank seiner Eltern und wie er sich durch die Schichten
von Tiefkühlpizza und Hamburger-Patties nach unten wühlt, stößt
er dort auf einen klaren Block Eis, in dem ein kleiner,
hunzeliger Mann, mit einem Schtreimel auf dem Kopf, liegt und ihn
anstarrt. Ein Schtreimel ist diese dicke, runden Fellmütze die
man auf den Köpfen chassidischer Juden von Jerusalem bis Brooklyn
sieht und wer diese Erläuterung braucht ist der perfekte Leser
des hier zu besprechenden seltsamen, aber ganz hervorragenden
Buches. Bernie allerdings bedarf der Erläuterung nicht, ist sein
Haushalt doch ein jüdischer, wenn auch ein eher säkulärer. Auch
ist Bernie ein Teenager um die Jahrtausendwende, und außer an
Essen und Wichsen an nicht viel zu interessieren. Er schließt
also die Gefriertruhe und vergisst augenblicklich, was er gesehen
hat. Bis zum Zeitpunkt, als seine Eltern auf Kurzurlaub, im Haus
der Strom ausfällt und er meint sich an irgendwas erinnern zu
müssen, dass da irgendwas war.. bis neben ihm ein schlotternder
alter Mann steht, eine triefende Pelzmütze auf dem Kopf und ihn
anspricht, in einer Sprache, die er nicht versteht.


Das Buch lässt uns so überrascht sitzen wie den Bernie und
springt zurück in’s Jahr 1889. Der noch quicklebendige Rabbi
heißt Eliezer ben Zephyr, so erfahren wir, und er besitzt recht
besondere spirituelle Fähigkeiten. Er vermag es in zenartige
Zustände zu geraten, in denen er seine irdische Hülle verlassen
kann und in den Himmel fliegt, sich von außen betrachtet, mit
Gott spricht, und was man da oben sonst noch an religiösem
Supermanstuff machen kann. Das Ganze ist nicht so furchtbar
eso-ernsthaft wie man denkt. Das Judentum sieht sich schließlich
als positive Religion und selbst ohne den ach so sprichwörtlichen
jüdischen Humor zu bemühen, versucht man in dieser doch bei aller
religiösen Ernsthaftigkeit eine gewisse Leichtigkeit in die von
Gott aufgetragenen Riten zu bringen. Wer schon mal ein Purim-Fest
gesehen hat, hat eine Vorstellung. Und so begreift der Rabbi
seine Ausflüge auch eher als Erholung vom anstrengenden Alltag
Ende des 19. Jahrhunderts, weniger als Kontakt zu seinem
unaussprechlichen Gott. Also liegt er da so in einem See irgendwo
auf dem Gebiet des heutigen Polen oder der Ukraine, ein damals
russisches Gebiet, in dem sich Juden streng reglementiert
ansiedeln durften, und träumt sich aus seinem Körper heraus.
Plötzlich jedoch bricht ein Sturm und ein Regen über dem See
herein, die Temperatur fällt rapide und unser Rabbi gefriert
binnen weniger Augenblicke bei lebendigem Leib und freiem Geist
ein. Der Rabbi ist mindestens so überrascht wie der örtliche
Eisstecher, Salo Frostbissen, der im Winter Blöcke von Eis aus
dem See sägt und diese in eine Höhle schafft und für den Sommer
einlagert, denn Salo findet den Rabbi ein paar Wochen später, wie
er da so im Eis liegt, hackt einen Quader von Eis um ihn herum
frei und verbringt diesen in seine Eishöhle, mit dem Plan, ihn
würdig zu begraben. Woraus nichts wird, sonst wäre der Roman
schnell zu Ende. Denn Salo wird in des gefrorenen Rabbi Bann
gezogen, er sitzt bald stundenlang in der Eishöhle neben ihm,
spürt irgendeine tiefe Verbindung und ist der erste einer Reihe
von dem Rabbi verfallenden Hütern und Beschützern, die im Buch
erst zur letzten Jahrtausendwende endet - bei Bernie allein zu
Haus.


Wir springen nun munter vom noch gefrorenen Rabbi zu Beginn des
20. Jahrhunderts zum soeben entfrosteten um das Jahr 2000 herum.
Und sobald man realisiert, dass man die Begleiter des gefrorenen
Rabbis durch das 20. Jahrhundert begleiten wird, kann man das
durchaus umfangreiche Buch nicht mehr weglegen. Diese kleine
Geschichte des Judentum im 20. Jahrhundert beginnt bei den
Aschkenasim im Osten Europas, streift Zionisten in Palästina und
endet bei den jüdischen Emigranten in die USA. Ausgehend von der
Familie des Eisstechers Salo irgendwo bei Łódź, setzt sie sich
fort in verschiedenen Shtetls und Ghettos in Europa, es folgt
eine Überfahrt in die USA kurz vorm ersten Weltkrieg. Die
Weltwirtschaftskrise der späten zwanziger Jahre in New York
taucht auf und nicht nur als deutschem Leser wird uns spätestens
jetzt natürlich etwas schwummrig. Die Handlung im Roman nähert
sich den Neunzehnhundertvierziger Jahren und wir stellen fest,
dass Steve Stern den Holocaust in gerade einmal zwei, drei
Absätzen erwähnt und auch nur aus der Sicht eines Zionisten im
damals britisch besetzen Palästina.


What is happening?!


Nun, Geschichte kann nie vollständig erzählt werden. Es ist viel
- zu viel - geschehen im 20. Jahrhundert, wir hatten alle
Geschichtsunterricht. Und ein Buch hat nur ein paar hundert
Seiten zur Verfügung, wie schreibt man also eine Story über und
mit Juden in diesem Jahrhundert, was schreibt man rein in die
Geschichte, was lässt man weg? Die Shoa? No way. Nun, den
Holocaust, als tatsächliche Erzählung, wegzulassen kann sich nur
ein jüdischer Autor leisten und selbst für einen solchen ist es
eine Entscheidung, die wohlbegründet sein muss. Das Faszinierende
und wie ich finde enorm Mutige ist, dass Stern diese Begründung
nicht gibt, man muss als Leser selbst drauf kommen.


Aber es ist auch nicht kompliziert:


Der im Eis gefrorene Rabbi ist natürlich eine Metapher, er steht
für die Spiritualität, die jüdische Religion, ihre vielen
Strömungen, von absurder Orthodoxie (bis man mal in die Kabbala
schaut und merkt, dass diese noch wahnsinniger ist) bis zu den
modernen, fast säkulären Strömungen die Zusammenhalt schaffen,
wenn man über den Globus, über Kulturen oder Einkommensschichten
verstreut lebt. Im Buch hat der Rabbi im Eis immer einen
Begleiter, eine Bewacherin, jemanden, der auf ihn acht gibt und
dafür belohnt wird. Das passiert so subtil, dass die
Protagonisten (und wir Leserinnen) das, was geschieht oft genug
nicht als Schutz oder gar Belohnung begreifen können. Nach Salo
dem Eisstecher, der auf dem ersten Weg des Eisblockes von Boibicz
nach Łódź wenigsten seine Frau “kennenlernt” (it’s a long story),
ist die zweite “Begleiterin” Jocheved, seine Tochter, die schön,
talentiert und einfallsreich ist. Sie merkt bald, dass man mit
ein bisschen Geschick, Gewürz und Liebe aus den öden Eisblöcken,
die ihr Vater für einen Eisfabrikenten schleppt, Speiseeis machen
kann. Sie unterstützt ihre Familie, wird immer schöner,
selbstbewusster und erfolgreicher - um plötzlich überfallen zu
werden. Durch’s Ghetto streunenden Kriminelle verschleppen sie
von der Straße, sie wird über Monate unter Drogen in einem
Bordell gefangen gehalten und missbraucht. Als sie schließlich
frei kommt und einen langen Entzug hinter sich hat, kann sie sich
nicht mehr als Frau betrachten, der Schmerz, die “Shandeh”, ist
zu groß. In Selbstgesprächen nennt sie sich nun Max. Sie/Er
fliehen nach Amerika und sie werden lange brauchen, um wieder so
etwas wie glücklich zu werden. Permanent unsicher nutzen sie die
Ambivalenz ihrer Existenz und treten in immer neuen Rollen und
Verkleidungen auf, ständig auf der Flucht und es wird viel Zeit
vergehen bis aus Max wieder Jocheved wird, eine selbstbewusste,
zupackende Frau, die in hohen Alter respektiert sterben wird. Sie
ist die Person, die am meisten Berührungspunkte mit den anderen
Begleitern und Beschützerinnen des Rabbi haben wird, am meisten
Einfluss, gewollt oder ungewollt, auf die Geschichte und
Geschichten im Buch und wer die Holocaustmetapher nicht begreift
muss dann doch zu etwas anspruchsloserer Literatur greifen.


Das ganze klingt dramatisch und düster und wird dem Buch sowas
von ungerecht, dass es einfach nur wehtut. Das müssen wir ändern.


Also, “Der gefrorene Rabbi” ist ein ganz wunderbares Buch,
speziell für deutsche Leserinnen und Leser, und zwar aus einem
ganz anderen Grund als man denkt. Da Steve Stern seine Story in
den osteuropäischen Dörfern, Shtetls und Ghettos beginnen lässt,
und dort natürlich jiddisch gesprochen wird, vergeht keine Seite
ohne einen kleinen jiddischen Spruch, eine Weisheit oder, ganz
wunderbar aus dem Munde Salos des Eisstecher Ehefrau ein
permanenter Strom an Beschimpfungen. Diese werden nicht übersetzt
und erinnern damit an den 2008 erschienenen Roman “Das kurze
wundersame Leben des Oscar Wao” von Junot Díaz, den Irmgard
Lumpini damals recht begeistert hier besprochen hatte, in diesem
natürlich in der Kombination Englisch/Spanisch. Las ich den Oscar
Wao, begeistert ob der Lebendigkeit und Authentizität, die die
Zweisprachigkeit erzeugt und gleichzeitig verwirrt, ob meines
nahezu nichtexistenten Spanisch, Siesta Óle!, bin ich mit meiner
deutschen Muttersprache natürlich prädestiniert, das Jiddische in
“Der gefrorene Rabbi” kinderleicht zu entziffern und mich sehr
stolz zu fühlen, wenn es mir ohne den im Kindle eingebauten
Übersetzer gelingt. Schon deshalb ist das Buch eine lehrreicher
Spaß, aber es wird besser, tauchen doch ganz nebenbei auf fast
jeder Seite jüdische Riten, Bräuche, rituelle und säkuläre
Gegenstände auf, die nach Fußnoten und Erklärungen schreien - und
leider fehlen. Aber Dank moderner Lesetechnologie, sprich der in
E-Book-Readern eingebauten Möglichkeit, Worte in der Wikipedia
nachzuschlagen, ist das heute gottlob kein Problem mehr. Wir
lernen also von “Zivug Hashamayim”, ein Paar wie füreinander
geschaffen, die der “Shadkhn”, der Heiratsmakler, hoffentlich
zueinander führt, auch wenn die gerade in Osteuropa aktiven
Denker der “Haskalah”, der jüdischen Aufklärung, die Praxis der
arrangierten Heirat ablehnen. Für jeden, der sich ein bisschen
für Geschichte und Gesellschaft interessiert oder auch nur
monatlich ein Kneipenquiz mit leichtem Ehrgeiz bestreitet, ein
Quell des Wissens und der Inspiration. Und für Leser, denen das
immer noch nicht genug Lehrstoff ist, schreibt Steve Stern in
einem zwar einfachen Englisch, benutzt aber auf fast jeder Seite
Worte, die der anglophile Connoisseur mit einem kleinen Jauchzen
“What a strange little word!” elektronisch nachschlägt und dabei
lernt, dass die Frau von Salo wohl zu recht “irascible” ist, also
schnell gereizt, ob der zwar hübsch klingenden “dilapidated
abodes” in denen sie leben muss, die aber dennoch nur
“verfallenen Behausungen” gewesen sind und das ein “cuspidor” ein
Spucknapf ist - braucht man nicht oft, das Wort, aber wenn, dann
dringend. Die deutsche Übersetzung steht dem Ganzen
wunderbarerweise in nichts nach, transportiert sie doch wirklich
liebevoll den sprachlichen Reichtum und den Humor der Geschichte.
Hatte ich erwähnt, dass das Buch wirklich lustig ist? Die Szenen,
wie sich der aufgetaute Rabbi im Jahr 2000 zurechtfindet (ganz
hervorragend, er macht gleichmal einen kleinen religiösen Kult
auf) sind subtile Gesellschaftskritik und obwohl der Roman nahe
am Klamauk endet, worüber ich mich null beschwere, bleibt einem
hier ab und an ein Lachen im Hals stecken, denn, wir erinnern
uns, der Rabbi hat das 20. Jahrhundert verschlafen. Wie er das
Wort “Kristallnacht” das erste mal hört, stockt uns kurz der
Atem. Aber auch im Ghetto zu Beginn des Buches lernen wir, wie
man sich als ausgestoßene Minderheit Licht in die Dunkelheit
bringt, durch Humor, gerne dunkelgrau, durch Zusammenhalt, gerne
im Streit und immer wieder durch Einfallsreichtum, den Willen
sich nicht unterkriegen zu lassen und - das der rote Faden im
Buch - durch irgendeine Form der Spiritualität. Wenn ich das als
Atheist lese rolle ich selbst als der, der’s geschrieben hat mit
den Augen und ja, es ist ein seltsam Ding, dieses Buch. Es ist
ein Roadmovie, eine spannende Story, es ist Fun - und nicht nur
weil es um Juden geht, durchzieht es ein Nebel von Melancholie.


Die Religion ist auf jeder Seite des Buches präsent, wird aber
unaufgeregt verschliffen von ihrer Alltäglichkeit zu Beginn des
20. Jahrhunderts und gebrochen von ihrer Absurdität zu Beginn des
21. im Angesicht unseres aufgeklärten Zeitalters. Das hilft es
mir als Goy, nicht permanent zu seufzen und die Augen zu
verleiern. Es trägt, im Gegenteil, dazu bei, Verständnis dafür zu
entwickeln, dass Menschen glauben. Nicht im Sinne von
organisierter Religion: diese taucht im Buch immer wieder auf,
aber wird durchaus lächerlich gemacht und sei es nur durch die
Absurdität, dass der nach hundert Jahren aufgetaute Rabbi als
erstes mal einen Judea-Eso-Feelgood-Tempel gründet.


Nein, Steve Stern erzählt in “Der gefrorene Rabbi” eine Story
über Juden im 20. Jahrhundert, die sich von ihrem Glauben
getragen emanzipieren, aus dem Ghetto, aus der Diaspora oder
einfach nur aus dem Eisblock ihrer eigenen Geschichte und das ist
ein wirkliches Leseerlebnis.


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