Christoph Hein - Unterm Staub der Zeit

Christoph Hein - Unterm Staub der Zeit

8 Minuten
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Beschreibung

vor 5 Monaten

Nachdem ich im Alter von 12 Jahren meine Stadtbezirksbibliothek
“ausgelesen” hatte (natürlich nicht die komplette, für mich
zählte nur das utopische Regal!), stolperte ich in dem, was man
in der DDR so Feuilleton nannte, über den gerade erschienenen
Roman “Der fremde Freund” von Christoph Hein. Den Zeitpunkt kann
ich deshalb so genau bestimmen, weil ich jetzt, in meinem fünften
Lebensjahrzent, so langsam passabel Kopfrechnen kann und mir
Wikipedia das Erscheinungsdatum des Romans mit 1982 angibt. Dass
ich ein Buch von Christoph Hein gelesen hatte und enorm
fasziniert von dessen Sprache war, hatte ich noch im Hinterkopf,
aber mein fortlaufender Erinnerungshorizont von exakt sieben
Jahren verwehrt mir, mich zu erinnern, worum es konkret ging.
Auch hier hilft mir die Freiwilligenenzyklopädie auf die Sprünge
und die Synopsis von “Der fremde Freund” lässt mir gleichzeitig
die Erinnerungssynapsen knallen als auch mich kopfschüttelnd
zurück: was ein wunderlicher Teenager ich gewesen sein muss!


Im Buch, geschrieben aus der Ich-Perspektive einer 30-jährigen
Ärztin, geht es um Liebe und Entfremdung und um Fotografie. Die
Liebe war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht untergekommen, die
Entfremdung als Wort kein Begriff, aber retrospektiv und
küchenpsychologisch macht das alles Sinn. Das Einzige im Buch,
womit ich wirklich, und zwar richtig was am Hut hatte, war die
Photographie. Und so wie die Protagonistin im Buch, Claudia, ob
ihrer Entfremdung von den ihr seltsam vorkommenden Menschen nur
leblosen Kram fotografiert, praktizierte ich die Kunst auch und
erkannte ich mich wohl ziemlich wieder.


Wie gesagt, all das reime ich mir elektronisch unterstützt
zusammen, denn das Einzige, woran ich mich wirklich erinnere, war
die seltsam unprätentiöse, klare, unaufgeregte Sprache Christoph
Heins, die mich in ihrer Sparsamkeit, ihrer Affektlosigkeit an
Kafka erinnerte. Sicher ein bisschen zu hoch gegriffen, aber ich
war ein äußerlich gestörter und innerlich begeisterbarer
Teenager.


Es sollte das letzte Buch bleiben, was ich von Christoph Hein
gelesen habe. Die zwei, drei noch in der DDR erschienen Werke
blieben unter meinem Radar und danach gab’s Westbücher. Doch
irgendetwas spülte mir kürzlich Heins jüngstes Werk in den
Sichtkreis und es schloss sich ein solcher. Es heißt “Unterm
Staub der Zeit” und wieder ist es ein Buch, welches mich
sujettechnisch nicht wirklich interessieren sollte. Und auch hier
ist es die Sprache, über die es wenig mehr zu sagen gibt, als
dass sie “exakt” ist, “unaufgeregt” und “genau”, die mich, und
ich weiß zum Teufel nicht warum, fasziniert.


Der Inhalt des Romans ist die Geschichte des 13-jährigen Daniel
aus der Ostzone, wie er 1958 von seinem Vater ins Internat eines
Westberliner Gymnasiums gebracht wird. In der DDR wurde ihm die
Erweiterte Oberschule verweigert, also wurde er wie viele
talentierte Teenager von seinen Eltern in den Westen geschickt,
um ein Abitur zu bekommen. Das passierte so häufig, dass die
Westberliner Gymnasien spezielle “C-Klassen” hatten, die den
Lehrplänen in den Schulen in der Ostzone Rechnung trugen um die
neuen Schüler an das Abitur heranzuführen.


Für die jüngeren Leser: 1958 ist vier Jahre vor dem Bau der
Berliner Mauer und so folgen wir auf den 200 Seiten im Buch
Daniel zunächst bis zu diesem 13. August 1961. Die DDR versuchte
schon vor dem Bau der Mauer den Strom von Unzufriedenen in die
BRD zu stoppen: mit Kontrollen, Entzug von Ausweisen und dem
Erteilen von Anweisungen, den Wohnort nicht zu verlassen. Und so
waren die quasigeflüchteten Jugendlichen in einem seltsamen
Limbo, in dem sie zwar jederzeit nach Ostberlin fahren konnten,
schon weil dort mit Ostmark alles um den Faktor 5 billiger war,
sie aber Gefahr liefen, geschnappt zu werden und damit ihr Abitur
und ihre Zukunft zu verspielen.


Das der Erzähler im Buch, Daniel, Christoph Hein im real life
ist, wird nicht explizit erwähnt, aber ich Fresse einen Besen
wenn nicht. Das macht das Buch zu einem “Opa erzählt vom Krieg”
eines 79-jährigen Schriftsteller. Was will man mehr? Und wenn man
mehr will, dann lest euren Actionquatsch - das hier ist das wahre
Leben und es wird genauso berichtet, wie man es sich von einem
ernsten, guten Erzähler ohne Kapriolen wünscht. Hein berichtet
Episoden aus einer Jugend in einer Zeit, die ein bisschen
uninteressant sein mag. Nicht weit genug von der Gegenwart
entfernt, nicht besonders aufregend, verglichen mit einem 2.
Weltkrieg, der damals auch schon lang vorbei war. Über den kann
man was erzählen: Gewalt, Heldentum, Befreiung! Die Ende der
Fünfziger Jahre in Berlin waren sicher spannend, aber der größte
Gewaltausbruch im Buch ist eine Prügelei beim BillHaley-Konzert
im Sportpalast und das Heldenhafteste der Schmuggel von
Musikinstrumenten aus dem Osten in den Westen for fun and profit.
Und Befreiung: not so much. Im Gegenteil. Während die, ein
bisschen belanglosen, Anekdoten des etwas nerdigen,
theaterbegeisterten Daniel dahin plätschern, verändert sich die
Weltpolitik. Dass ihr Abitur prekär ist und an ihrer Fähigkeit
hängt, die poröse Grenze zwischen Ost- und Westberlin unauffällig
und möglichst selten zu überqueren, wissen die Schüler. Was sie
nicht ahnen ist, dass ein US-Senator im fernen Washington den
Russen durch eine verhängnisvolle Rede, das Signal gibt, dass es
ok sei, die sowjetische Zone von denen der westlichen
Siegermächte abzuschneiden.


Die Nachricht davon erreicht Daniel in den Sommerferien,
ausgerechnet in Dresden (Lob- und Verriss wird von dort
ausgestrahlt, wem das nicht klar ist..) und er eilt nach Berlin
zurück. Dort sieht es noch ein paar Tage lang so aus, als wäre
das ein zeitweilige Maßnahme. Es gibt doch hunderte Straßen und
Kilometer Grün um Westberlin, all das abzusperren erscheint
unvorstellbar. Doch innerhalb von Wochen ist genau das passiert.
Ein paar verständnisvolle Beamte im Ostteil, die den Schülern
Hoffnung machen, ihr Abitur fortsetzen zu können, werden von
Hardlinern abgelöst und zum Schulbeginn im September ‘61 ist
Daniel und seinem zwei Jahre älteren Bruder, mit dem er auf dem
Gymnasium war, klar, dass sie sich eine Lehre im Osten suchen
müssen.


Ganz Christoph Hein erzählt er diese dramatisch und traumatisch
klingenden Ereignisse mit stoischer Gelassenheit, dass man sich
die Frage stellt, ob das so angebracht sei? Immerhin verändert
sich durch den Mauerbau das Leben von ein paar Millionen
Menschen, beispielhaft vertreten durch die zwei Teenager,
grundlegend und nach allgemeinem Konsens zum Negativen. Ja, die
Gespräche mit den neu eingesetzten linientreuen Kaderschmieden
die dem jungen Daniel, dem “Westflüchtling”, dem
“Intellektuellen” das Leben schwer machen, sind frustrierend und
machen jemandem, der den Scheiß dreißig Jahre später mitgemacht
hat immer noch wütend. Doch Daniel fügt sich mit der
Flexibilität, die nur ein Jugendlicher hat ein. Er passt sich
nicht an, Weiß Gott nicht, er ist ein paar Monate lang sogar
Fluchthelfer, aber er bleibt in der DDR, aus Gründen. Er lernt
Buchhändler und aus dem kleinen Daniel wird ein großer Christoph
Hein. Dieser verweigert, zumindest in diesem Buch, die Bitterkeit
ob eines Lebens, das er nicht gelebt hat. Ob des Faktes, dass er
sie nicht spürt oder dass sie in diesem Werk keinen Platz hat,
darüber nachzudenken lädt die kleine Nouvelle “Unterm Staub der
Zeit” ein und, wichtiger, dazu, das Lebenswerk von Christoph
Hein, jetzt wo es fast komplett ist, nochmal von vorn zu lesen.


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