Adam Curtis

Adam Curtis

7 Minuten
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Beschreibung

vor 4 Monaten

Der Jahreswechsel steht an. Es scheint sich ein gewisser
Pessimismus breit zu machen. Ob das Alterstrübsinn ist und ich
einfach nicht genug junge Leute kenne - kann sein. Aber auch
junge Leute scheinen im Angesicht von Klimakatastrophen nicht
unbedingt froh in die Zukunft zu schauen, denkt man sich. Das
kann ein falscher Eindruck sein, ich kenne nicht genug junge
Leute, s.o. Vielleicht kleben ja nicht alle von denen permanent
mit der Hand an der Straße, sondern auch ein paar mit derselben
am Bierglas, in der Fankurve und haben dort immensen Spaß, weil
die Mannschaft auf einem Aufstiegsplatz überwintert - es sei
ihnen gegönnt. Früher, also sagen wir 2006, hätte man sich die
aktuellen Umfragen von Infratest dimap und Allensbach gegoogelt,
für ein bisschen rechts/links Bias adjustiert und wüsste ziemlich
genau Bescheid, ob die sich breitmachende Depression nur
selbstgefühlt ist oder sich mit den Stimmungsbildern im Land
deckt. Dass ich das gar nicht mehr versuche, bedeutet, dass sich
in den letzten zwei Jahrzehnten etwas verändert hat. Nur was?


Jemand, der das erklären kann, klingt so:


In leicht verschliffenem Oxford-Englisch erzählt der 50-Jährige
Dokumentarfilmer Adam Curtis Geschichten und man hat ständig das
Gefühl man erfahre etwas Neues, Ungehörtes, ja Unerhörtes und
wenn nicht das, dann wenigstens, dass man einen Zusammenhang
aufgezeigt bekommt, den man bisher noch nicht gesehen hatte, wo
er doch so verdammt offensichtlich ist.


Die Bildsprache der Dokumentationen von Adam Curtis ergibt sich
zu 100% aus dem verwendeten Material: Adam Curtis hat Zugriff auf
das komplette Archiv der BBC und nutzt es in Gänze aus. Was dabei
entsteht als “Collagen” zu bezeichnen ist sicher nicht ganz
falsch, klingt aber zu “artsy”, zu unverständlich, und die
Dokumentationen sind vieles, aber nicht das. Das gesamte Oeuvre
von Curtis hat nur ein Ziel: zu verstehen.


Wir sehen, oft zunächst unkommentiert, historische Aufnahmen, die
nicht den BBC-News oder einer BBC-Reportage entstammen, sondern
offensichtlich “Abfall” sind, Take-Outs, zufällige Aufnahmen vor
oder nach dem eigentlichen Event. Dazu erklingt Musik, gerne
“ahistorisch”, also nicht der Zeit im Filmmaterial entsprechend:
vielleicht die Doors zu einer Stummfilmaufnahme eines
Metallurgiebetriebes in der Sowjetunion im Jahr 1934 oder die Sex
Pistols zu einer chinesischen Oper. Obendrüber erzählt Adam
Curtis, ruhig, sonor in einfacher Sprache, eine Geschichte, die
selten dort endet, wo man das vermutet.


Die Dokumentationen sind endlang, es sind oft fünf bis sechs
90-Minüter. Die erste Vermutung ist, dass sich Adam Curtis ob der
kolossalen Menge an Material in einem TV-Archiv nicht entscheiden
kann und uns einen Dia-Abend in Familie zumutet, wo Onkel Jochen
den Taj Mahal schon aus allen vier Himmelsrichtungen gezeigt hat,
und jetzt nochmal aus dem Flugzeug. Falsch vermutet. Die
Dokumentationen haben eine übergreifende Idee und diese soll
nicht erklärt werden - Adam Curtis will sie erzählen, wir sollen
sie erfahren. Also pickt er sich Persönlichkeiten und Events,
teils berühmt, teils überraschend unbekannt und fast immer weit
voneinander entfernt. Er erzählt uns alles, was wir über Person A
wissen müssen und springt dann zu Event B. Der wohl meistgehörte
Satz in Adam Curtis-Filmen ist “And in this exact moment..”
gefolgt von einem Schnitt zum Ereignis auf der anderen Seite der
Welt. Wir folgen als Zuschauer dem Rhythmus und erfahren
audiovisuell, dass Alles miteinander zusammenhängt.


Thematisch ist Curtis immer das kleine Quentchen seiner Zeit
voraus, dass man, wenn man sich seine Werke ein paar Jahre später
anschaut, um so ehrfürchtiger wird. Vor allem, wenn man bedenkt,
dass die Produktionen ja eine Menge Vorlauf haben. So beschreibt
Curtis in "Hyper Normalisation", wie Propaganda heute
funktioniert. Nicht mehr durch das Durchprügeln dubioser
“Wahrheiten” (oder gleich von Lügen), sondern durch das Füllen
des Kommunikationsraumes mit wahllosen Informationen, richtigen
oder falschen, bis der Rezipient überladen ist und aufgibt: “Es
weiß ja keiner mehr irgendwas.”. Das Überraschende ist dann, das
“HyperNormalisation” bereits im Jahr 2016 erschienen ist, also in
dem Jahr, als Donald Trump eben diese Taktik im Wahlkampf
angewendet hatte, unterstützt von russischen Trollfabriken, die
auf das unterspülen des Informationsraumes mit “Fakenews”
spezialisiert waren. Und an welchem Beispiel hatte Adam Curtis
maßgeblich die “HyperNormalisation” im Film erklärt: Anhand der
Geschichte der Desinformation in Russland von 1991 bis 2016!


Nun ist derselbe orange Wahnsinn 8 Jahre später wieder auf dem
Weg ins Weiße Haus, dazu gibt es Wahlen in Europa, das sich
aktuell auch nicht gerade auf der linken Fahrspur hält.
Spätestens im Sommer werden wir erfahren, ob die krassen
weltweiten Temperaturausschläge im letzten Jahr ein El
Niño-Ausreißer waren oder unser Ende eingeläutet haben. Wer sich
diesen Gedanken nicht entziehen kann, aber auch nicht in
Eskapismus fliehen möchte, der findet in Adam Curtis einen
Begleiter, der mit ruhiger Stimme, Geduld und einem unendlichen
Vorrat an Geschichten die eigene Zeit ins Verhältnis setzt, die
eigenen Gedanken und Theorien hinterfragt und aus dessen Filmen
man immer klüger, erstaunt und, in meinem Fall, im Allgemeinen
beruhigt herausgeht. Das Leben war schon immer kompliziert, es
gab die größten Schurken, absurde Probleme, ein ewiges sich
Verrennen schon immer in Zeiten und Plätzen - deine eigenen sind
nicht die schlimmsten.


Sämtliche Adam Curtis-Dokus und es sind sehr, sehr viele, der
Mann macht das seit den Neunzigern, sind in der BBC-Mediathek
abrufbar. Leider geht das so richtig nur mit einem VPN. Deshalb
findet Ihr unten eine kurze Anleitung, wie das geht und auf
unserem Mastodon-Account posten wir ein paar aktuelle Links zu
Adam-Curtis-Videos auf YouTube, die aber aus Copyrightgründen
nicht ewig abrufbar sein werden. Wir danken dem Kapitalismus! Ist
er nicht wonnig?


Wie man sich BBC-Dokus anschaut


* Mache Dir einen Account bei diesem VPN-Anbieter, der ist seriös
(und für die Nerds, nein, das ist technisch kein VPN, aber
funktioniert genauso, nur besser). Mit ein paar Fake-Emails kann
man da auch mehrmals 14 Tage kotenlos kiecken.


* Folge den Anweisungen und richte das auf dem Rechner oder
gleich im Router ein.


* Gehe auf https://www.bbc.co.uk/iplayer und mache Dir ein Konto
mit einer beliebigen Emailadresse. Als Adresse suche Dir ein
Hotel in London, dann stimmt die Postleitzahl.


* Suche nach Adam Curtis.


Ansonsten, schaut hier, da kommen dann ein paar Youtubelinks.


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