Yanis Varoufakis - Technofeudalism

Yanis Varoufakis - Technofeudalism

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Beschreibung

vor 1 Monat

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben den Kapitalismus nicht
erfunden, aber betrachtet man die größte Wirtschaftsmacht der
Welt, könnte man annehmen, sie hätten ihn am besten verstanden,
weiterentwickelt, verbessert gar, ganz wertungsfrei, in seinen
eigenen Parametern. Alles falsch, sie bringen ihn zur Strecke,
argumentiert Yanis Varoufakis in seinem jüngsten Buch
“Technofeudalismus”. Nun ist es immer ein bisschen schwierig,
jemandes Tod vorherzusagen, wenn er noch quicklebendig erscheint,
aber so wie meine geriatrische Oma kurz vorm Himmelsflug nochmal
nach einem Glas warmen Radeberger verlangte, let’s fly, Baby!, so
geht’s “dem Kapitalismus” in den letzten Jahren und speziell
Monaten scheinbar so gut wie nie, die Börsen brummen, Dividenden
ò le, los noch ein Aktienrückkauf! Nein, so argumentiert
Varoufakis, das sieht nur aus wie Kapitalismus, es ist etwas
Neues.


Wir lamentieren seit Jahrzehnten die zunehmende Ungleichheit “in
der Welt” und dachten hoffnungsvoll, aber auch ein bisschen dumm,
dass sich das nach der 2008er Weltwirtschaftskrise, nach der
2015er Eurokrise, come on, spätestens nach der Pandemie von 2020
doch irgendwie ausgleichen muss - alle mussten leiden, das muss
doch einen nivelierenden Effekt haben, die Schere zwischen Arm
und Reich kann unmöglich größer werden - doch, wir haben uns alle
getäuscht. Wie gesagt, wir sind alle ein bisschen dumm. Das obere
Prozent, Quatsch, die obere Promille fanden Wege, die “Krisen”
für sich zu nutzen und die gemeinschaftlichen Anstrengungen,
meint, neu gedrucktes Geld in die eigene Tasche zu stecken. Die
Gelddruckerei, eigentlich gedacht, je nach politischer
Ausrichtung, zur “Ankurbelung der Konjunktur”, zur
"Stabilisierung der Haushalte” oder einfach nur um f*****g
Menschenleben zu retten: die Googles und Apples und Amazons
schafften es, den Großteil davon in ihre Börsenkurse umzuleiten.


Wie das genau passiert ist und was daraus folgt, wird im Buch
“Technofeudalism” erklärt. Nun ist Varoufakis ein
Wirtschaftswissenschaftler und damit in meiner persönlichen
Wertschätzungsskala theoretisch auf ganz dünnem Eis, wir sprachen
erst letztens drüber. Manche sagen sogar er sei ein Antisemit.
Nun gut, wer ist das heute nicht. Aber Varou, wie wir Fanboys ‘n’
Gals ihn nennen, hat in meiner Buchhaltung eine Menge auf der
Habenseite. Er war 2015 für sechs Monate griechischer
Finanzminister, und was er dort geliefert hat, war zu cool. Wie
er den europäischen Finanzministern vorrechnete, wie falsch das
ist, was sie da machen, für die griechische Volkswirtschaft, aber
auch für ihre eigenen, und wie die das nicht interessiert hat,
weil es ihnen nie um irgendeine Wirtschaft fürs Volk ging,
sondern um eine für die der zugrundeliegenden Wirtschaftsart
namensgebenden Kapitalisten - es war mir ein inneres
EU-Parlament. Das kulminierte in einer Episode, in der Varoufakis
den leider viel zu spät verstorbenen Wolfgang Schäuble mit seiner
Fachkompetenz und dem hellenistischen Urglauben an die Demokratie
so außer sich brachte, dass sich dieser selbst die
pseudodemokratische Maske vom Gesicht riss, mit dem Ausspruch,
dass Wahlen nichts ändern würden, es gäbe Regeln, Pech gehabt,
sie sind tief in den Statuten der Europäischen Gemeinschaft
verankert versteckt, und halt keine demokratischen, sondern
urkapitalistische. Das soll man sich eigentlich nur denken, aber
um Gottes Willen nicht laut sagen. Unter Schäubles Führung
rächten sich die nackisch gemachten europäischen Finanzminister
an Varoufakis und raubten stellvertretend seine Landsleute aus.
Aber das war eh der Plan. Yanis Varoufakis hielt seine
schonungslose Ehrlichkeit übrigens bis nach dem Ableben des
Minister Stasi 2.0 am Lodern und hackte ordentlich nach. Dass man
über Tote nichts Schlechtes sagt, ist ohnehin eine vollständig
überflüssige Regel. Wolfgang Schäuble war als Politiker immer ein
rücksichtsloser Drecksack. So, jetzt ist es raus.


In seinem neuesten Werk “Technofeudalismus” erklärt uns
Varoufakis also in dem ihm eigenen Stil das Ende vom
Kapitalismus. Diesmal schreibt er nicht an seine Tochter, wie in
seinem wohl erfolgreichsten Buch, sondern an seinen Vater, der
Metallurg war. Diese gelegentlichen persönlichen Anreden im Text
schwanken zwischen Aufhänger und Rührstück und machen mich eher
wirr, aber man kann drüber hinweglesen und die Ideen dennoch
verstehen: So wie es in der Antike Umwälzungen gab, ein halbes
Jahrtausend vor Christi Geburt die von der Bronze in die
Eisenzeit, beschrieben, oder besser: lamentiert von Hesiod, gibt
es diese Paradigmenwechsel auch später. Es gab den Übergang vom
Feudalismus zum Kapitalismus, also von einem System, welches auf
der Verpachtung von Grund und Boden, vom König bis hinunter zum
Fronbauern reichte, hin zu einem System, in dem man mit dem
namensgebenden Kapital und ohne großen Grundbesitz reich werden
konnte. Diese Hochzeit des Kapitalismus der reinen Lehre
funktionierte bis zu einem Zeitraum in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, den Varoufakis, übernommen vom Ökonomen John
Kenneth Galbraith etwas steif als “Technostruktur” benennt und im
Grunde eine finanzkapitalistische Planwirtschaft war, mit dem
Ende des 2. Weltkrieges ausgedacht von und praktiziert zum
Vorteil der USA. Ihr einziges Prinzip: der Dollar ist
Weltwirtschaftswährung. Diese Ära ging in zwei Schritten unter:
einmal mit der Aufkündigung der Verträge von Bretton Woods und
der Goldpreisbindung 1971 durch Richard Nixon und ein zweites Mal
mit der Finanzkrise von 2008. In beiden Situationen trennte sich
Geld von Kapital, man konnte auf einmal reich werden ohne
Kapitalist zu sein. Statt wie früher mit Schmerbauch, Zylinder
und Zigarre im Mundwinkel und einem Sack voll Kapital Sachen
erfinden und ausbeutend produzieren zu lassen, damit man sie dann
irgendwelchen Deppen verkauft und dabei stinkereich wird, gab es
nun neue Wege zur Yacht. Bis 2008 mit der Spekulation mit den
mittlerweile allbekannten “Derivaten”, also finanzmathematischen
Konstrukten, die mit der Realität nichts zu tun haben und dennoch
“irgendwie” Geld abwarfen. Seit 2008 wurde das nochmal einfacher.
Der weltweite Finanzmarkt war mal wieder nur fast gecrasht und
wir alle beobachteten horrorfasziniert, wie der Kapitalismus sich
der Schlinge mal wieder entzog, durch das mit "quantitatives
Easing" herrlich benannte Drucken von Geld. Diese Gelddruckerei,
immer schön verbrämt als die Rettung der “Wirtschaft” und damit
von “uns allen”, you know, real aber natürlich nur eine Rettung
der Banken, wurde nochmals befördert durch die Pandemie. Dieses
gedruckte Geld landete jedoch zum allergrößten Teil nie in “der
Wirtschaft”, noch nicht mal bei “den Banken” sondern fast
ausschließlich in den Aktienkursen weniger Unternehmen, und zwar
ausschließlich solchen, die in der Branche tätig sind, die wir
heute “die Cloud” nennen.


Diese Cloud ist ein immaterielles Land in den Wolken, in dem wir
mittlerweile alle täglich 16 Stunden verbringen. Wir sitzen ohne
Schlüpper in der Videokonferenz, und wischen parallel Tiktok, wir
versuchen zwischen zwölf Werbebannern die spiegel.de app zu lesen
und abends Netflixen und relaxen wir, weil wir vor Stress nicht
schlafen können. Diese Cloud - und das ist der Clou und die große
Theorie des Buches - hat aber nichts mehr mit dem Markt oder auch
nur dem Kapitalismus zu tun. Sie ist wie ein feudales Kaiserreich
aufgeteilt zwischen Königen mit Namen wie Musk, Zuckerberg und
Bezos. Darunter sitzen deren Vasallen, die ihnen hörig sind,
namentlich die Kapitalisten der alten Schule, die noch “Zeug”
herstellen: Daimler, Bayer, Nestle, Hakle, die auf die
Cloudkönigreiche angewiesen sind um ihre Produkte loszuwerden,
den keiner geht mehr einkaufen, alles ist digital. Wir, die
Mittellosen, also fast alle, sind in diesem neufeudalistischem
Bild nicht nur die Tagelöhner, die den S**t kaufen, sondern
gleichzeitig auch Fronbauern. Denn mit unserem permanenten
Klicken, Wischen oder einfach nur auf den Screen starren leisten
wir Fronarbeit, wir beackern das Land, äh…, die Cloud, und machen
sie mit unseren Daten zu dem was sie ist, auf dass die Vasallen
und Könige diese Daten abschöpfen können und wissen, welchen
Scheiß sie uns oben oder unten reindrücken sollen. Klingt logisch
und wird von Wirtschaftswissenschaftlern wahrscheinlich in genau
diesem Augenblick in Grund und Boden zerlegt, wie sie so sind,
die Ökonomen, siehe mein letzter Studio B Beitrag.


Das alles liest sich faszinierend und schlüssig. Aber Theorien
müssen nicht “stimmen”, und selbst ich, der ich mit Geld so gut
umgehen kann wie ein schwäbischer Hausmann, der sich im
Weinstüble den Frust von der Seele trinkt, weil er gerade als
Leiharbeiter bei “Daimler” geschasst wurde, findet ein paar
Löcher in Varoufakis Herleitung, aber ich werde mich natürlich
hüten, dem ehemaligen griechischen Finanzminister die Fehler in
seinem Buch zu germansplaining!


Wie gesagt, Theorien sind richtig oder falsch, who knows. Das
Leben braucht keine Anleitung, oft reicht es, wenn dir jemand den
Ansatz einer Erklärung liefert, für den S**t, der dir schon lange
auffällt. Dass es nur noch einen Onlineshop gibt, zum Beispiel,
eine Suchmaschine, die jeder nimmt, obwohl sie schon lange kaputt
ist, zwei Handybetriebssystem, die alles genau so ein bisschen
andern machen, dass man nie wirklich wechseln kann und im Kino
kommen die immer gleichen Superheldenfilme mit Cliffhangern, wer
guckt den Scheiß?! Mit Varoufakis’ Buch haben wir eine Erklärung,
warum das so ist und wir realisieren, wir sollten beginnen zu
handeln. Nicht um den Lauf dieser Dinge aufzuhalten, das ist
ziemlich zu spät. Aber so wie sich Bauern kaum gekümmert haben um
den Voigt, bis er zweimal im Jahr kam, die Fron zu kassieren,
können auch wir versuchen, ein richtiges Leben im Falschen zu
führen.


Man muss zum Beispiel nicht die FAZ abonnieren, um Reportagen zu
lesen, wenn man Krautreporter lesen kann, man muss kein Spotify
haben, wenn man eine gemeinsame Musiksammlung hat (zumindest
solange das alte Recht auf Privatkopie noch gilt). Man muss nicht
allein versuchen, seinen nach zwei Jahren obsoleten
Staubsaugerroboter zum Laufen zu bekommen, dafür gibt’s in jeder
kleineren und größeren Stadt einen Ableger des Chaos Computer
Club oder auch nur einen alten Mann, der den Mut und den
Anschluss nicht verloren hat und dir das Ding irgendwie zum
saugen bringt. Und mal echt, wenn man Netflix kündigt, passiert
recht wenig, wenn man Leute kennt, die einem erklären, dass das
konsumieren von gestreamten Videos nicht strafbar ist, egal, was
die Bildzeitung schreibt und dass das mit einem Werbeblocker
sogar recht sicher ist und den grandiosen Nebeneffekt hat, dass
man dann die Bildzeitung nicht mehr lesen kann.


Social Media braucht man, klar, man will nicht einsam sterben,
aber Social Media ist nicht Twitter, man muss es nur mal ohne
probieren. Die erste, gewissermaßen urzeitliche, Theorie, was
dieses Internet ermöglichen wird, war doch, dass jeder mit jedem
reden können wird, dass man zu einer viel größeren Anzahl von
Menschen Kontakt halten, sich organisieren kann. Social Media
heute ist ziemlich das Gegenteil davon. Denn es kamen diese
Leute, diese lauten, extrovertierten, deren Lebensziel es ist,
von möglichst vielen gehört zu werden und schon bald war
vergessen, worum es ging, in diesem Internet: das Miteinander,
das Zuhören oder sich Belegen, das streiten und richtig sauer
sein, aber es ging nie um das Sprechen zu möglichst vielen auf
einmal. Da die Lauten am Ende immer die Erfolgreichen sind, in
unserem System also “reicher”, hatten sie bald die Möglichkeit,
diese Perversion der Theorie des Miteinander, das Schreien in 140
Worten, in die Praxis umzusetzen. Myspace, Facebook, Twitter und
das, was jetzt davon als X dahinvegetiert sind das Ergebnis, wenn
man Idioten machen lässt. Aber die Nerds wachen endlich auf. Die
Introvertierten, die keine Millionen Follower brauchen um sich
selbst zu bestätigen, die wussten schon immer, dass das
großartige am Internet nicht die Plattform, die endlose Ebene
ist, sondern die Nische , die kleine Echokammer, in der man
gemeinsam flüstern kann. Warum soll ein Fediverse-Account, der
Übersetzungen deutschsprachiger Sagen ins Englische postet
120.000 Follower beschallen wollen? Wenn diesem Account 3000
Leute folgen, reicht das doch völlig aus. Diese 3000 Follower
scrollen jeden Tag über diese brillanten kleinen Sagenposts ohne
sie zu lesen, nur um ab und an hängen zu bleiben. Ist das
schlimm, dass sie nicht jeden Tag hängen bleiben, jeden Post
lesen? Das es “nur” 3000 sind? Nein, dem Autor macht es
offensichtlich Freude, alte deutsche Sagen zu übersetzen, ein
paar Lesern Freude das zu lesen, ab und an, wo ist das Problem?


Unser Literaturmagazin, hier, das hier, was Du gerade liest,
erhalten jede Woche 35 Freunde in ihr Postfach und laut todsicher
marketinggerecht gefälschter Statistik öffnen angeblich 50% davon
sogar die E-Mail! Wäre es schön, wenn es 1000 wären? Ich habe das
leise Gefühl eher nein. Wir müssten die Kommentare abschalten,
weil Yanis Varoufakis natürlich kein/natürlich ein ganz extremer
Antisemit ist. Irgendein Idiot oder zwei würden sich verpflichtet
fühlen, uns mit Hilfe von Reddit oder 4chan Links zu erklären,
dass Siri Hustvedt natürlich bei Paul Auster abschreibt, weiß
jeder. Bei einer Million Leserinnen unseres Newsletter würden wir
dann alle $ in den Augen haben und die neuesten Neuerscheinungen
würden unsere Kindles zum Überlaufen bringen und wir würden nicht
mehr das lesen, was wir lesen wollen, alte Bücher, obskure
Bücher, amerikanische Novellisten aus dem 19. Jahrhundert und
derlei. Aber Ok, 200 Leser, das wäre schön, und ihr könnt gerne
dafür sorgen:


Aber wenn ihr Besseres zu tun habt, dann halt nicht. Wir werden
weiter jede Woche Bücher lesen, rezensieren, es manchmal nicht
schaffen und Wiederholungen senden und uns freuen, dass das jetzt
elektronisch geht und nicht wie 1985 nur mit einer
Thermopapierkopiermaschine, die man nachts heimlich benutzt um
damit ein Fanzine zu drucken, was ausserhalb des
Postleitzahlbereiches nie jemand sieht.


Das alles ist kein Widerstand, keine Revolution. Der Kapitalismus
ist zu Ende, wir müssen nicht mehr mitspielen, es gab noch nie
was zu gewinnen. Wir sind wieder zurück im Mittelalter und wenn
man den Sagen glauben kann, die Jürgen Hubert sammelt und ins
Englische übersetzt oder den Rezepten aus dieser Zeit, die Volker
Bach ausprobiert, um uns davon zu berichten, hatte man dort etwas
mehr Fun, als uns das in Buch, Funk und Fernsehn vermittelt wird.
Woran das wohl liegt?!


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