(42) Friedrich Nietzsche »Menschliches, Allzumenschliches«

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Beschreibung

vor 14 Jahren
228 Der starke, gute Charakter Die Gebundenheit der Ansichten,
durch Gewöhnung zum Instinkt geworden, führt zu dem, was man
Charakterstärke nennt. Wenn Jemand aus wenigen, aber immer aus den
gleichen Motiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse
Energie; stehen diese Handlungen im Einklange mit den Grundsätzen
der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen in
Dem, der sie tut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige
Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was
man Charakterstärke nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntnis
der vielen Möglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein
Intellekt ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem gegebenen
Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss
er jetzt gemäss seiner ganzen Natur mit Notwendigkeit wählen, und
er tut dies leicht und schnell, weil er nicht zwischen fünfzig
Möglichkeiten zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden
Menschen unfrei machen, indem sie ihm immer die geringste Zahl von
Möglichkeiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen
Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine
Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas
Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem,
Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an
einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das
Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen
Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachsenen Gemeinsinn;
auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem
Staate oder Stande nützlich. 289 Wert der Krankheit Der Mensch, der
krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er gewöhnlich
an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und
durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt
diese Weisheit aus der Musse, zu welcher ihn seine Krankheit
zwingt. Musik: Ulrike Theusner

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