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04.12.2025
3 Minuten
So ein politischer Aufstieg will gründlich geplant sein. Die Zeit
vor seinem ersten Einzug in den Bundestag nennt Özdemir im
Rückblick ein Leben wie im Zeitraffer. Seine Unterstützer im
Wahlkreis Ludwigsburg fragten sich, ob er das Mandat überhaupt
stemmen könne. Oder ob er vielleicht abheben würde. Er weckte
Interesse mit seiner Herkunft, seiner Jugend und dieser
erstaunlichen Beredsamkeit. Nicht nur politisch, auch
organisatorisch gut vorbereitet wollte er in Bonn einziehen. Dazu
gehörte, dass der Novize sich sachkundig machte, welche grünen
Kollegen nicht mehr antraten. Konrad Weiß war ihm aufgefallen,
Regisseur und Bürgerrechtler aus Sachsen-Anhalt. Der hatte 1992
eine stark beachtete Rede im Bundestag gehalten, die später sogar
in Schulbüchern abgedruckt wurde. Der hatte 1992 eine stark
beachtete Rede im Bundestag gehalten, die später sogar in
Schulbüchern abgedruckt wurde, 1994 trat er nicht mehr
an. Als das publik wurde, nahm Özdemir sofort Kontakt auf
mit der profanen Frage, ob er Nachmieter der beiden Büros in Bonn
werden und Weiß‘ Mitarbeiterin übernehmen könne.
Die Übergabe funktionierte. In der neuen Fraktion war er der
Einzige mit solchem Weitblick – und stolz die Arbeitsfähigkeit
sofort beim EInzug und auf sein Organisationstalent. Was ihm
schlussendlich nichts nutzte. Die Enttäuschung ließ nicht lange
auf sich warten. Und sie hatte einen Namen: Joschka Fischer.
Der frühere hessische Staatsminister für Energie und Umwelt war
in die Bundespolitik gewechselt, aber ohne Büro in Bonn
angekommen. Er quartierte sich selbst ein und den Novizen zügig
aus, dann überredete er dessen Mitarbeiterin, für ihn zu
arbeiten: für ihn, den neuen Fraktionschef. Der 29-jährige
Neuling aus Bad Urach fügte sich, im sicheren Wissen, dass eine
Auseinandersetzung ihm schwer geschadet hätte und er sie ohnehin
nie hätte gewinnen können.
Immerhin durfte er sicher sein, dass ihm die „Bürogemeinschaft“,
wie er das Umsiedlungsresultat beschönigend nannte, in Zukunft
keinen Nachteil bescheren würde.
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03.12.2025
5 Minuten
Es ist eine Geschichte, wie erfunden von hyperaktiven
PR-Beratern, allerdings mit dem Vorzug, wahr zu sein. Cem Özdemir
suchte eine Unterkunft in Stuttgart, weil er immer öfter aus
Berlin in seinen Wahlkreis pendelte. Fündig wurde er in der WG
eines Freundes in einem Quartier von moderner schwäbischer
Urbanität in der Hauptstadt jenes drittgrößten der sechzehn
Bundesländer, in dem er noch so einiges vorhat. Es gibt Cafés,
Kneipen, einen türkischen Lebensmittelmarkt mit Metzgerei und die
ehrwürdige Zahnradbahn. Sie fährt aus dem Talkessel über die
berühmte Halbhöhenlage hinauf nach Degerloch, fast bis zum ersten
Fernsehturm der Welt.
Im Treppenhaus seiner Bleibe waren die Spinnweben nicht zu
übersehen. Ganz im Gegenteil: Jedes Mal, wenn er aus der
Bundeshauptstadt wiederkam, war die Staubschicht dicker. Über die
strengen Putzregeln in den Mehrfamilienhäusern der angeblichen
schwäbischen Provinz haben sich Generationen von Kabarettisten
lustig gemacht. An der Universität Tübingen wurde ihre Bedeutung
für den Nationalcharakter sogar wissenschaftlich
herausgearbeitet. Die Kehrpflicht der deutschen Fürsten
besungenen Eberhard im Barte. Gut fünfhundert Jahre später wurde
in Stuttgart aus dem allwöchentlichen Brauch eine locker
gehandhabte Bei-Bedarf-Vorschrift.
Özdemir wollte wissen, wie es denn so steht ums wöchentliche
Großreinemachen. Die Zusammensetzung im Haus hatte sich im Laufe
der Zeit geändert. Die Jüngeren konnten mit der Tradition nichts
anfangen. Mit jedem neuen Bewohner aber, der ihr den Rücken
kehrte, stellten sich die Älteren die Frage, warum sie als
einzige noch kehren sollten. Es kam, wie es kommen musste: Bald
putzte niemand mehr. Und das Kehrwochenschild war auch
verschwunden.
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02.12.2025
4 Minuten
Der Zirkel der in Marbach Geehrten war ein illustrer, angeführt
vom früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der seine
Einladung zur alljährlichen Schiller-Rede an den Neckar als Ehre
empfand, „von der ich niemals geträumt habe“. Cem Özdemir, das
Arbeiterkind aus Bad Urach ging noch weiter: „Ich stehe hier
nicht als Einzelperson vor Ihnen, sondern als einer von vielen
Menschen in diesem Land, bei deren Geburt eine Einladung als
Schiller-Redner ungefähr genauso denkbar war wie ein Flug zum
Mond. Wobei die bemannte Raumfahrt durchaus Thema bei uns zu
Hause war, Friedrich Schiller dagegen war es nicht.“ Er sprach
über den in Marbach geborenen Dichter als „großen politischen
Denker“, über den Schwaben „so wie ich“ und schlug den Bogen zu
den Schillers von heute. In vielen Ländern erfordere es nicht nur
große Kreativität, sondern großen Mut, Dichter und Denker zu
werden und seine Ge-danken in die Öffentlichkeit zu tragen. Laut
Reporter ohne Grenzen seien allein in den ersten Monaten des
Jahres 2019 schon 47 Medienschaffende weltweit getötet worden.Der
andere Schwabe mit den türkischen Eltern berichtete von einem
Zusammentreffen mit Recep Tayyip Erdoğan einige Monate zuvor.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte zum abendlichen
Bankett auf Schloss Bellevue geladen und Özdemir lange darüber
gegrübelt, wie er dem Gast begegnen sollte. Schließlich griff er
zu Schillers Tragödie „Don Karlos“ mit dem berühmten „Sire, geben
Sie Gedankenfreiheit!“. Heute seien damit der türkische
Staatspräsident sowie Orban und Donald Trump gemeint, sagt er,
„und ihr oberster Boss nennt sich Putin.“ „Sire, geben Sie
Gedankenfreiheit“ stand in türkisch auf einem Button geworden,
den er trug. Leider sei es ihm nicht vergönnt gewesen, nach dem
Dinner mit Erdoğan über Schiller zu sprechen, erzählte er später
in der Gewissheit, dass dieser Satz seiner Rede dem Adressaten
nicht entgangen war. Die Fernsehbilder vom Defilee zeigen
jedenfalls, wie zögerlich der Präsident sein Gegenüber ansieht,
ehe er doch die zum Gruß ausgestreckte Hand ergreift.
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30.11.2025
3 Minuten
Nach dem Aus der Ampel trug Wolfgang Ischinger, der renommierte
internationale Spitzendiplomat und langjährige frühere Chef der
Münchener Sicherheitskonferenz, beim Bundesparteitag im November
2024 dieses Lob in die Gegenwart. Vor ziemlich erstaunten und am
Ende begeisterten Delegierten rügte er im RheinMain
CongressCenter in Wiesbaden „die Liebesaffäre mit dem Status
quo“, die Deutschland seit dem Fall der Mauer eingegangen sei,
und dass „viele Dinge, die heute nicht mehr so gut funktionieren,
auf diese Liebesaffäre zurückzuführen sind“. Nur eine Partei nahm
er aus: die Grünen, „die über diese Zeit hinweg nicht nur auf
eigene Veränderung gesetzt haben, sondern auch auf die
Veränderung des Landes“. Zum Beispiel in Schönau im
Schwarzwald. Dieser Termin im Sommer 2025 ist ein Wohlfühltermin
für Özdemir. Vor drei Jahrzehnten wurde die „Energie EW Schönau“
als kleine Bürgerinitiative in dem Schwarzwalddorf gegründet. Das
Ziel: die Trampelpfade der fossilen Energieerzeugung zu verlassen
mithilfe der Erneuerbaren, des Engagements der Bürgerschaft und
einer couragierten Strategie, die vor Firmengründungen oder
Unternehmensbeteiligungen so wenig zurückschreckt wie 1997 vor
dem Kauf des bis dahin gemeindeeigenen Stromnetzes. Heute ist sie
eine Genossenschaft mit bundesweit über 200.00 Strom-, Gas- und
Wärmekunden. Einer davon ist Özdemir, der die Rede zum
dreißigsten Geburtstag hält.
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Über diesen Podcast
24 Tage, 24 Texte. Ausgewählte Passagen aus dem Buch „Cem Özdemir –
Brücken bauen“ von Johanna Henkel-Waidhofer und Peter Henkel,
gelesen vom Landtagsabgeordneten Ralf Nentwich. Cem Özdemir gehört
zu den profiliertesten Stimmen der deutschen Politik. Und wenn er
sagt: „Mein Spezialgebiet ist Brückenbauen“, dann weiß er, wovon er
spricht – denn er stand selbst oft zwischen den Welten. Ein
herzlicher Dank geht an den Bonifatius Verlag für die Möglichkeit,
die Buchtexte verwenden zu dürfen.
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