John Mearsheimer Eskalation Ukrainekrieg
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vor 4 Monaten
Die Analyse, die sich über das gesamte Gespräch entfaltet,
kulminiert in einer schonungslos düsteren Einschätzung der
geopolitischen Lage – nicht nur für die Ukraine, sondern für die
internationale Ordnung insgesamt. Die Ausgangsthese bleibt dabei
konstant: Der Krieg ist nicht nur ein regionaler Konflikt,
sondern das Epizentrum einer tektonischen Verschiebung im
globalen Machtgefüge, mit potenziell katastrophalen Konsequenzen.
Im Zentrum der Überlegungen steht die Annahme, dass Russland –
militärisch und strategisch betrachtet – versuchen wird, weitere
ukrainische Gebiete zu erobern, insbesondere jene Regionen, in
denen viele ethnische Russen oder russischsprachige
Bevölkerungsgruppen leben. Odessa und Charkiw werden als mögliche
nächste Ziele genannt, ergänzt durch zwei weitere Oblaste
westlich der bereits besetzten vier. Sollte Moskau dies gelingen,
würde Russland über rund 43 % des ukrainischen Territoriums
(gemessen an den Grenzen von 2014) verfügen – ein erheblicher
territorialer und strategischer Gewinn.
Doch dieser mögliche Sieg wäre kein triumphaler, sondern ein
„hässlicher Sieg“, wie der Redner ihn nennt. Ein solcher Sieg
hätte zur Folge, dass die Ukraine zu einem dysfunktionalen
Rumpfstaat verkomme – politisch geschwächt, wirtschaftlich
zerstört, sozial zerrüttet. Ein solches Ergebnis sei keineswegs
ein nachhaltiger Frieden, sondern die Grundlage für eine
gefährliche „kalte Ruhe“, in der jederzeit neue Eskalationen
drohen. Die Möglichkeit eines Rückzugs Russlands im Austausch für
ukrainische Neutralität – wie sie vielleicht Anfang 2022 noch
existierte – sei heute vollkommen illusorisch. Russland spiele
inzwischen „Hardball“, sei also bereit, den Preis für eine
aggressive geopolitische Neugestaltung zu zahlen – auch, wenn er
hoch sei.
Die nukleare Dimension dieses Konflikts wird dabei nicht nur als
Worst-Case-Risiko betrachtet, sondern als reales
politisch-strategisches Instrument. Besonders gefährlich wird es
laut Analyse in zwei Szenarien: wenn Russland massiv im Krieg
zurückgedrängt wird – etwa durch eine erfolgreiche ukrainische
Offensive in Kombination mit wirkungsvollen westlichen Sanktionen
– oder paradoxerweise auch dann, wenn Russland zwar gewinnt, der
Sieg sich jedoch als strategisch wertlos, als „hässlich“,
herausstellt.
An dieser Stelle wird die Figur des russischen Strategen Sergej
Karaganow eingeführt. Seine Argumentation, dass der Einsatz
taktischer Nuklearwaffen notwendig sein könnte, um den Westen zu
einem Umdenken zu zwingen, wird nicht als abwegig abgetan,
sondern als Ausdruck einer wachsenden strategischen Verzweiflung
innerhalb russischer Eliten gedeutet. Karaganow sei nicht daran
interessiert, den Westen zu vernichten – sondern ihn mit der
Androhung oder begrenzten Anwendung von Atomwaffen zu einem
Kurswechsel zu bewegen. Das Ziel: Die Durchsetzung einer neuen
Ordnung, in der Russland nicht nur territorial, sondern auch
geopolitisch als Sieger hervorgeht.
Doch selbst wenn dies nicht offizielle russische Politik sei –
die Möglichkeit, dass ein zukünftiger Machthaber in Moskau diesen
Kurs verfolgt, könne man nicht ausschließen. Diese strategische
Ungewissheit mache die Lage so gefährlich: Niemand könne
vorhersagen, wer in einigen Jahren über die russischen Atomwaffen
bestimmt – und ob dieser Mensch bereit ist, den letzten Schritt
zu gehen, wenn Russland vor einem für Moskau unerträglichen Patt
steht.
Gleichzeitig wird die gegenteilige Perspektive aufgegriffen: Was,
wenn die Ukraine militärisch kollabiert? Wenn die ukrainischen
Streitkräfte – etwa wie die französische Armee 1917 – innerlich
zerbrechen und nicht mehr kampffähig sind? Was, wenn die
russische Übermacht so groß wird, dass sich der Westen
entscheiden muss, entweder zuzusehen oder selbst militärisch
einzugreifen? Besonders Polen wird hier als mögliches Korrektiv
genannt – ein Land, das sich möglicherweise gezwungen sieht, auch
ohne NATO-Mandat aktiv zu werden. Sollte das geschehen, könnte
ein Flächenbrand entstehen, der schließlich die NATO und Russland
direkt aufeinanderprallen lässt.
Am Ende dieser Analyse steht kein Hoffnungsschimmer, sondern ein
resignativer Blick zurück: Der größte Fehler war es, nicht alles
getan zu haben, um diesen Krieg vor dem 24. Februar 2022 zu
verhindern. Die Verhandlungen, die möglich gewesen wären, wurden
nicht ernsthaft verfolgt. Die politische Arroganz und
strategische Kurzsichtigkeit des Westens – so die implizite
Kritik – haben zu einem Krieg geführt, dessen Dynamik sich heute
nur noch schwer kontrollieren lässt.
Was bleibt, ist das Bild einer Weltordnung am Abgrund. Jede
denkbare Entwicklung – Sieg oder Niederlage, Eskalation oder
Einfrieren des Konflikts – führt in Szenarien, in denen das
Risiko nuklearer Erpressung, regionaler Destabilisierung und
systemischer Unsicherheit massiv zunimmt. Der Krieg in der
Ukraine, so das bittere Fazit, ist kein Krieg, der „gewonnen“
werden kann. Er ist eine geopolitische Tragödie, deren Folgen
noch über Jahrzehnte hinaus wirken könnten. #johnmearsheimer
#ukraine #geopolitik
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