Beschreibung

vor 3 Monaten

Ein Standpunkt von Rüdiger Lenz. 


Würdest du mit meinen Augen sehen, würdest du unter der Wucht
zerbrechen. Alles, was ich tue, wie ich denke, wie ich spreche –
es entzieht sich dir. Sobald ich rede, schweifst du ab zu
Kuchenrezepten, Kinderabholzeiten oder der Bundesliga. Manchmal
weichst du mir sogar aus, sobald mein Tonfall sich verdichtet. Es
erschlägt dich. Von oben nach unten kann ich mich beugen. Von
unten nach oben jedoch kannst du dich nicht erheben. Du wirst nie
wissen, wie es ist, ich zu sein. Schade.


Wie ich ein Psychologiebuch wegwarf


Wissen Sie, was ein Hochbegabter ist? Wie sie oder er die Welt
sieht? Ein hochbegabter Mensch nimmt eine ganz spezielle
Perspektive auf seine Umwelt ein. Eine Perspektive, über die so
gut wie nie gesprochen oder geschrieben wird. Es ist die
Perspektive, auf die Welt zu schauen, die ein hochbegabter Mensch
einnimmt, wenn fast alle um ihn herum Stinos sind. Stino ist eine
Abkürzung für den stinknormalen Menschen, den ich hier im Text
den Normi nenne. Es ist nicht abwertend gemeint, eher sachlich
neutral.


Als Therapeut hatte ich viele Hochbegabte, vor allem junge
Hochbegabte, die in der Welt nicht zurechtkamen. Oft werden
diesen Menschen irgendwelche seelischen Krankheiten angedichtet.
Doch in Wahrheit fangen Hochbegabte an, am Mittelmaß zu
verzweifeln, was viele von ihnen innerlich zu Introjektionen
wandeln. Und das führt dann zu einer Abspaltung von Teilen ihres
Selbst, meistens sind es die hochbegabten Anteile ihrer Selbste.
Ab hier beginnen sie mit Selbstzweifeln, und wenn es für sie
subjektiv ganz schlecht läuft, endet das mit einem ausgeprägten
Selbsthass auf ihre Begabungen. Denn auch Hochbegabte wollen
dazugehören, sich anpassen, doch wird ihnen das oft ihr ganzes
Leben verwehrt. 


Mein erster Kontakt mit einem Hochbegabten reicht jedoch weiter
zurück. Ich selbst bin dieser Hochbegabte, doch bis ich das
akzeptierte, brauchte ich 40 Jahre. Ich war zwischen 10 und 12
Jahren (so genau weiß ich es leider nicht mehr), da schenkten mir
meine Eltern ein Buch über die Grundkenntnisse der Psychologie.
Freudig nahm ich es auf, um es wenig später enttäuscht in den
Mülleimer zu werfen. Meine Mutter fand das gar nicht lustig und
fragte mich, warum ich das Buch in den Mülleimer geworfen hätte.
„Was da drin steht“, antwortete ich ihr, „das weiß doch jeder,
warum steht das in einem Buch?“ 


Es sollten jedoch noch weitere 30 Jahre vergehen, bis ich
wirklich begriff, was mit mir los ist. Ich traf 2002 eine kleine
Gruppe junger Erwachsener, und wir unterhielten uns miteinander.
Sie sagten mir, dass sie alle bei Mensa, einem Club für
Hochbegabte, seien und sie sich wunderten, dass ich mit ihnen
mithalten könne. Sie würden das selten so erleben, sagte einer
von ihnen zu mir. Dann legte ich los und besprach mit ihnen ihre
psychologischen Probleme, ohne dass sie mir überhaupt davon
erzählten. Ich ließ bei ihnen meiner Hochbegabung freien Lauf,
und wir unterhielten uns blendend miteinander. Danach fragten sie
mich, warum ich denn nicht auch bei Mensa sei, und ich antwortete
ihnen, dass mein offizieller Bildungsabschluss das nicht zulasse
und ich keinen Club brauche, der mir sagt, dass ich klug bin. Wir
lachten lauthals und verabschiedeten uns.


...https://apolut.net/hochbegabt-von-rudiger-lenz/


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