Episode 24: Klassische Tragödie

Episode 24: Klassische Tragödie

38 Minuten

Beschreibung

vor 10 Monaten
Claude Haas spricht mit Eva Geulen über sein Buch »Der König, sein
Held und ihr Drama. Politik und Poetik der klassischen Tragödie«
(Wallstein 2024). An der vermeintlich überholten Form der
klassischen Tragödie interessieren ihn vor allem ihre
Unwahrscheinlichkeit und der Kontrast zwischen Formstrenge und
unterschwelligem Chaos. Außerdem bietet sie Anknüpfungspunkte für
Debatten über die Rückkehr des Helden und Fragen der Souveränität
in der heutigen Politik. ———————— Bei Corneille dient die
klassische Dramenform der (Be-)Gründung absolutistischer Politik.
Die aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung werden in
den Dienst der Staatsgründung gestellt, der Souverän als derjenige
inszeniert, der Gewohnheiten institutionalisiert und mit dem Helden
dessen Machtverzicht verhandelt. Die Komplizenschaft von König und
Held kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide als
Verbrecher Recht stiften. Solche rechtspolitischen Probleme
verschärft Racine dadurch, dass er hinter der Bühne das Volk als
eine volatile Masse zu erkennen gibt, die die politische Handlung
vor sich hertreibt. Weder König noch Held können die Ordnung
stabilisieren und echte Souveränität schaffen. In der deutschen
Rezeption galten die Dramen der tragédie classique oft als hölzern
und formalistisch, im Gegensatz zur vermeintlich freieren und
natürlicheren Darstellung Shakespeares. Und doch gibt es im
ausgehenden 18. Jahrhundert Rückgriffe auf die Regelpoetik, die als
nostalgische Versuche interpretiert werden können, Ordnung in die
nach der Französischen Revolution in Unordnung geratene Welt zu
bringen. In ihnen scheinen jedoch stets das Wissen um deren
Nichtrestaurierbarkeit und die Einsicht durch, dass sich Politik
nicht letztendlich begründen lässt. Aus dem Grund sind es vor allem
die Schwierigkeiten, Widersprüche und unauflösbaren Reste der
klassischen französischen Tragödie, an die Goethe und Schiller
anknüpfen. Dennoch scheint die klassische Form spätestens in der
Weimarer Klassik aus der Zeit gefallen. Nicht nur ist der
Machtverzicht des Helden – bei Corneille noch als bewusster
Willensakt inszeniert – hier eher Ausdruck seiner Ohnmacht: Goethes
Tasso beruft sich auf ein am Hof bereits überholtes
Politikverständnis, Schillers Wilhelm Tell hat zwar noch heroische
Auftritte, liefert aber keinen Beitrag zur Neugründung der Schweiz.
Auch die Einheit der Zeit, von der der Anschein der
Zeitunabhängigkeit und universellen Gültigkeit des souveränen
Rechts abhängt, wird ironischerweise nur noch in der »Iphigenie auf
Tauris« eingehalten, wo das Recht bereits gegründet und sie
folglich funktionslos ist. Spätestens der »Faust« markiert das Ende
solcher Versuche, die Einheit der klassischen Form zu stiften. Zwar
finden sich hier noch vereinzelt Form- und Stilelemente der
klassischen Tragödie, doch ist die moderne Tragödie und mithin die
Moderne mit dem Geld durch eine völlig andere Gründungsökonomie
strukturiert als der absolutistische Staat. Angesichts dieser
Entwicklungen stellt sich die Frage, inwiefern Analysen der
klassischen Tragödie Schlüsse für gegenwärtige Fragen nach dem
Zusammenhang von ästhetischer Form und politischen Anliegen
zulassen. Angesichts autoritärer politischer Akteure, die sich
aufführen wie Heroen und Könige, ist mitunter ein unbewusster
identifikatorischer Rückgriff auf das klassische Drama zu
beobachten. Dem setzt Haas eine an der Analyse der dramatischen
Form geschulte Sensibilität für die Unterschiede zwischen
historischem Geschehen und Gegenwart entgegen. ———————— Der
Germanist und Komparatist Claude Haas ist Ko-Leiter des
Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und wissenschaftlicher
Mitarbeiter im Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart«.
Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des
ZfL, Vorstandsmitglied der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin
und Professorin für europäische Kultur- und Wissensgeschichte am
Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin. www.zfl-berlin.org

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