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20.11.2025
1 Stunde 2 Minuten
Nadine Menzel (Universität Bamberg) und Nina Weller (ZfL) sprechen
über ihre Bücher zur gesellschaftlichen Situation und
(Protest-)Kultur in Belarus. ———————— 2020 kam es im Gefolge der
Präsidentschaftswahl in Belarus zu den größten
Massendemonstrationen seit dem Ende der Sowjetunion. Das
Lukaschenka-Regime begegnete ihnen mit massiven Repressionen. Keine
drei Monate nach Beginn der Proteste erschien in Reaktion darauf
die von Nina Weller mitherausgegebene Flugschrift »Belarus! Das
weibliche Gesicht der Revolution«, in der über den feministischen
Charakter der Proteste diskutiert wird. Die 2023 veröffentlichte
Flugschrift »›Alles ist teurer als ukrainisches Leben‹« wiederum
versammelt Stimmen aus der Ukraine, die sich gegen die
Überheblichkeit wehren, mit der aus dem Westen allzu häufig auf die
Ukraine geblickt und dabei die russische imperiale Bedrohung
heruntergespielt wird. Während die Flugschriften
aktivistisch-interventionistischen Charakter haben und sich auch
als Handreichungen zum besseren Verständnis aktueller Entwicklungen
verstehen, verfolgt der Sammelband »Appropriating History« ein
wissenschaftlich-historisches Interesse. Ausgehend vom Befund, dass
Geschichte in der Populärkultur von Belarus, Russland und der
Ukraine allgegenwärtig ist, zielt ›Aneignung‹ dabei weniger auf die
Usurpation historischer Ereignisse durch die dominante Kultur ab,
sondern vielmehr auf die Neu(er)findung der Nationalgeschichte nach
dem Ende der Sowjetunion. Dabei geht es auch um die Frage, in
welchem Maße Geschichte als Unterhaltungsmedium und – nicht erst
seit der Vollinvasion Russlands in die Ukraine – zunehmend auch als
Waffe dient. Ein markantes Beispiel dafür liefert der Partisan, der
in der Erinnerungskultur von Belarus sowohl als historische Gestalt
wie auch als mythischer Held eine zentrale Rolle spielt. In den
letzten Jahren erlebte das Partisanentum als Taktik einer
dezentralen subversiven Aktion eine Renaissance: u.a. in Gestalt
von ›Künstlerpartisanen‹ wie Artur Klinau und Igor Tishin oder der
Cyber- und Schienenpartisanen der Gegenwart. Eine kritische
Hinterfragung des Partisanenmythos hingegen fand bereits im 1975
erschienenen Buch »Feuerdörfer« statt, das nun auch in deutscher
Übersetzung vorliegt. Die von Ales Adamowitsch, Janka Bryl und
Uladsimir Kalesnik geführten und collagierten Interviews mit
Überlebenden der Wehrmachtsverbrechen in Belarus liefern ein
vielstimmiges Bild der Geschichte und gelten als wegweisend für das
dokumentarische Erzählen zeitgenössischer Autor*innen wie Swetlana
Alexijewitsch. Traditions- und Einflusslinien geht schließlich auch
der von Iryna Herasimovich, Nadine Menzel und Nina Weller
herausgegebene Band »Befragungen am Nullpunkt« nach. Er verfolgt
das Ziel, die unabhängige belarusische Kultur – vertreten durch A.
Slabodchykava, A. Klinaŭ, Z. Vishnioŭ, M. Gulin und J. Dziwakoŭ –
bekannter zu machen und zeigt historische Vorläufer heutiger
Bewegungen und Kunstformen auf. Damit setzt er der häufigen
Fixierung auf Belarus als ›letzte Diktatur‹ und ›blinder Fleck‹
Europas Zeugnisse des beharrlichen Widerstands und des Kampfes um
die (Rück-)Eroberung von staatlich okkupierten Räumen der Kultur
und des Austauschs entgegen. ———————— Die Slawistin und
Literaturwissenschaftlerin Nina Weller ist seit 2023
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Anpassung und
Radikalisierung«. Bis 2022 leitete sie ein Projekt zu
Geschichtsbildern in der belarussischen, russischen und
ukrainischen Kultur an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt
(Oder) und war zuvor an der LMU München, der FU Berlin und der
Universität Potsdam beschäftigt. Nadine Menzel ist Slawistin und
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Slavische
Kunst- und Kulturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität
Bamberg. Zuvor war sie an der Universität Leipzig tätig, wo sie
2015 mit einer Arbeit zu Reiseschriften über das postrevolutionäre
Russland promovierte. www.zfl-berlin.org
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15.07.2025
39 Minuten
Jenaba Samura spricht mit Liola Mattheis (beide ZfL) über ihren
Essay »Afrotopia. Schwarze Konstruktionen von Gender und
Sexualität« (Berlin: Querverlag 2025). Darin kritisiert sie die
weitverbreitete Vorstellung, dass Schwarzsein und Queerness
einander ausschließen, und untersucht die Verwobenheit von
Geschlecht und Sexualität mit kolonialen Praktiken und Prozessen
der Rassifizierung. ———————— Samura verbindet in der integrativen
Form des Essays persönliche Erfahrungen mit wissenschaftlichen und
gesellschaftlichen Beobachtungen. Besonders kritisch beleuchtet sie
das Whitewashing queerer Geschichte sowie die Aneignung Schwarzer
Ästhetiken und Praktiken der Lebensgestaltung. Dabei zeigt sie,
dass Konzepte wie Nichtbinarität keine westlichen Erfindungen sind,
sondern dass umgekehrt die rigide binäre Geschlechterordnung ein
kolonialer Export ist, der als Teil einer ›colonization of the
mind‹ begriffen werden kann. Dies wird anhand der deutschen
Kolonialgeschichte und der Bedeutung ›weißer‹ deutscher Frauen für
die Konsolidierung der kolonialen (Geschlechter-)Ordnung in
Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) deutlich. Ihre
gezielte Aussiedlung, die von der ersten Frauenbewegung als
feministisches Aufstiegsprojekt gepriesen wurde, sollte sogenannte
Mischehen und somit die Weitergabe der Staatsbürgerschaft an
Nichtweiße verhindern. Dieses koloniale Projekt der Etablierung
›weißer‹ Vorherrschaft ging mit der Kriminalisierung von
Homosexualität durch den aus dem Kaiserreich exportierten § 175
einher. Generell lässt sich im Zuge der Etablierung einer auf
Reproduktion ausgerichteten heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit
in Europa die Tendenz feststellen, sexuelle ›Abweichungen‹ wie
Homosexualität und Polygamie außerhalb Europas zu verorten.
Nichtweiße Sexualität und Geschlechtlichkeit wurden dabei häufig
widersprüchlich gezeichnet, Schwarze Körper z.B. gleichzeitig de-
und hypersexualisiert. Im Bild des ›virgin land‹ verschmelzen
schließlich Vorstellungen des zu erobernden Lands mit solchen von
der Schwarzen Frau, was der Legitimierung kolonialer und
sexualisierter Gewalt dient. Samura betrachtet jedoch nicht nur
koloniale sowie cis- und heterosexistische Gewalt, sondern auch im
heutigen Sinne queere Personen und Praktiken in der afrikanischen
Geschichte. Deren Erforschung ist mit methodischen
Herausforderungen verbunden. Zum einen besteht die Gefahr, heutige
Identitätskategorien rückwirkend auf historische Kontexte zu
übertragen und dabei präzisere lokale Konzepte zu verdrängen. Zum
anderen gibt es große Lücken im Archiv, und vorhandenes Material
stammt oft von Kolonialbeamten und muss kritisch betrachtet werden.
›Critical fabulation‹ im Sinne Saidiya Hartmans kann helfen, diese
Lücken zu füllen. Insgesamt eröffnen historische Beispiele des
Widerstands und der ›Abweichung‹ von hegemonialen Vorstellungen von
Geschlecht und Sexualität Perspektiven für ein utopisches
Nachdenken, in dem sich Vorstellungen von Afro- und Queertopia
verbinden. ———————— Die Literaturwissenschaftlerin Jenaba Samura
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Schwarze Narrative
transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens
afroeuropäischer Welten und der Infragestellung europäischer
Grundlagen«. In ihrem Dissertationsprojekt untersucht sie
afropäische Reiseberichte als Gegenerzählungen zu
kolonial-ethnografischen Darstellungen. Liola Mattheis ist
Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im
Projekt »Aitiologien in den Wirklichkeitserzählungen der
Naturwissenschaften: Zur epistemischen Funktion von
Ursprungs(re)konstruktionen«. Sie promoviert zu rekapitulativen
Entwicklungsideen in Evolutionsbiologie und marxistischer Theorie.
www.zfl-berlin.org
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21.05.2025
46 Minuten
Detlev Schöttker spricht mit Claude Haas über sein Buch »Die
Archive des Chronisten. Ernst Jüngers Werke und Korrespondenzen«
(Wallstein 2025). Darin zeigt er Jünger als Chronisten des 20.
Jahrhunderts, der keineswegs bloß historische Tatsachen
aneinanderreiht, sondern sich als Geschichtsdeuter versteht. Das
auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorbilder zurückgehende
Darstellungsverfahren der Chronik macht sich Jünger
gattungsübergreifend zu eigen, in Tagebüchern und Briefwechseln,
Kriegsberichten, Romanen und Essays. ———————— Jüngers Schreiben
zeichnet sich durch eine Tiefe der Beobachtung aus, die erst durch
die Distanz zum Geschehen möglich wird und die Jünger in seinem
»Sizilianischen Brief an den Mann im Mond« zum poetologischen
Prinzip erhebt. Diese Distanziertheit birgt jedoch auch eine
gewisse Kälte in sich, die in der Rezeption immer wieder für
Irritationen gesorgt hat. Das trifft besonders auf die
»Strahlungen« zu, mit deren Veröffentlichung 1949 Jünger früh
literarisches Zeugnis von Konzentrationslagern, Gestapo- und
SS-Gefängnissen ablegte. Jüngers Schilderungen des Luftkriegs über
Paris wurde der Vorwurf gemacht, das Schrecken zu ästhetisieren.
Als bisweilen verstörend wurden Jüngers Versuche gewertet, den
Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten im Geiste einer
Universalgeschichte in ein größeres Sinngeschehen zu integrieren
oder doch zumindest Erklärungsansätze dafür zu liefern. Von vielen
als reaktionär bewertet, kann seine distanzierte Betrachtung der
Geschehnisse wohl mindestens als eskapistisch gelten. Jüngers
universalgeschichtlicher Zugriff stößt hier an eine politische
Grenze. Andererseits erlaubt es Jüngers Betonung der starken
Einzelpersönlichkeit des Geschichtsdeutenden, ihn entgegen gängigen
Kategorisierungen als Vertreter der Moderne zu betrachten – selbst
wenn der universalgeschichtliche Gestus seiner Chronistik in den
literarischen Werken häufig in Kitsch umschlägt. Anders verhält es
sich mit den Briefen, denen Schöttker neben den Tagebüchern
besondere Aufmerksamkeit schenkt. Der Brief galt Jünger als die
wichtigste historische Quelle überhaupt. Der schiere Umfang des
Briefarchivs, an dessen Form und Organisation Jüngers zweite
Ehefrau Liselotte als ausgebildete Archivarin maßgeblichen Anteil
hatte, zeugt von der herausragenden Bedeutung, die er der
Korrespondenz als partnerschaftlicher Form der Verbindlichkeit und
des intellektuellen Austauschs beimaß. Für den ›Archivautor‹
Jünger, der bereits zu Lebzeiten bemüht war, sein Nachleben, mithin
seine Unsterblichkeit zu sichern, hatten die sorgsam archivierten
Briefwechsel noch eine weitere Bedeutung: Bei der Lektüre nimmt man
posthum Anteil am persönlichen Leben der Schreibenden, die einem
somit (fast) lebendig erscheinen. ———————— Der Literatur- und
Medienwissenschaftler Detlev Schöttker ist Senior Fellow des ZfL
und erforschte dort das Briefarchiv Ernst Jüngers. Derzeit leitet
er das Projekt »Kommentierte Edition des Briefwechsels zwischen
Ernst und Friedrich Georg Jünger (1908–1977)«. Der Germanist und
Komparatist Claude Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs
Weltliteratur am ZfL und wissenschaftlicher Mitarbeiter im
Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart«.
www.zfl-berlin.org
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13.03.2025
38 Minuten
Henning Trüper spricht mit Falko Schmieder über sein Buch
»Unsterbliche Werte. Über Historizität und Historisierung«
(Wallstein 2024). Darin setzt er sich mit elementaren
geschichtsphilosophischen Kategorien und Methoden auseinander und
unterzieht die Geschichtswissenschaft einer grundlegenden Kritik.
Denn diese, so seine Diagnose, ist nicht nur, wie schon Koselleck
befand, theorie-, sondern auch therapiebedürftig. ———————— Die
Debatten um das Ende der Geschichte (Fukuyama) und die breite
Gegenwart (Gumbrecht), aber auch die als Reaktion auf den
russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgerufene
›Zeitenwende‹ machen deutlich, wie umkämpft das Feld der Geschichte
ist. Dass die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen
Disziplin nicht neu ist, zeigt die Kritik am Fortschrittsnarrativ
der Geschichtsphilosophie. Auch Henning Trüper versteht Geschichte
nicht als progressiven Lernprozess, sondern zeichnet nach, welche
teils widersprüchlichen Antworten zu verschiedenen Zeiten auf die
Frage gegeben wurden, was Geschichtlichkeit ist. Die Kritische
Theorie hat Geschichtlichkeit vor allem im Sinne der
Veränderlichkeit von Denkformen und Begriffen verstanden. Trüpers
Interesse gilt demgegenüber den Praktiken des Historisierens: Mit
welchem Ziel wird Vergangenes zu Geschichtlichem erklärt und als
solches erinnert, welchen Ereignissen wird historischer Wert
beigemessen und warum? Diese Wertsetzungen sind stets veränderlich
und folgen bestimmten Motivationen, wie bereits Nietzsches
Unterscheidung verschiedener Arten von Historisierung in der
zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« zeigt. Wann und wie aber
erhalten diese flüchtigen Werte den Charakter von ›unsterblichen
Werten‹, also von moralischen Normen? Und in welchem Verhältnis zur
Geschichte stehen vermeintliche Nebensachen wie Moral,
Humanitarismus oder auch naturgeschichtliche und philosophische
Diskurse über das Aussterben? Ein Blick auf die Textgestalt und die
Funktion von Intertextualität in der Geschichte hilft, sich diesen
Fragen zu nähern. Die Neulektüre geschichtswissenschaftlicher
Klassiker und deren Kombination mit unbekannten, in Vergessenheit
geratenen Texten und Autoren führt bei Trüper zu einer
aphoristischen, umwegigen, bisweilen ironischen Darstellung, die
gleichwohl systematische Ansprüche verfolgt. Gegen Relativierungen
und den Zerfall der Geschichte in plurale Geschichten setzt er
einen starken Begriff von Geschichte: Die Tätigkeit des
Geschichtlichmachens erzeugt ihren Gegenstandsbereich, der als Teil
der Wirklichkeit real und wirkmächtig ist. ———————— Henning Trüper
ist Historiker und leitet das ERC-Projekt »Archipelagische
Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen
Gesellschaften seit 1800« am ZfL. Seit Januar 2024 ist er Associate
Professor an der Universität Oslo. Der Kulturwissenschaftler Falko
Schmieder leitet das Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in
Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland«
am ZfL. www.zfl-berlin.org
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22.01.2025
38 Minuten
Claude Haas spricht mit Eva Geulen über sein Buch »Der König, sein
Held und ihr Drama. Politik und Poetik der klassischen Tragödie«
(Wallstein 2024). An der vermeintlich überholten Form der
klassischen Tragödie interessieren ihn vor allem ihre
Unwahrscheinlichkeit und der Kontrast zwischen Formstrenge und
unterschwelligem Chaos. Außerdem bietet sie Anknüpfungspunkte für
Debatten über die Rückkehr des Helden und Fragen der Souveränität
in der heutigen Politik. ———————— Bei Corneille dient die
klassische Dramenform der (Be-)Gründung absolutistischer Politik.
Die aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung werden in
den Dienst der Staatsgründung gestellt, der Souverän als derjenige
inszeniert, der Gewohnheiten institutionalisiert und mit dem Helden
dessen Machtverzicht verhandelt. Die Komplizenschaft von König und
Held kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide als
Verbrecher Recht stiften. Solche rechtspolitischen Probleme
verschärft Racine dadurch, dass er hinter der Bühne das Volk als
eine volatile Masse zu erkennen gibt, die die politische Handlung
vor sich hertreibt. Weder König noch Held können die Ordnung
stabilisieren und echte Souveränität schaffen. In der deutschen
Rezeption galten die Dramen der tragédie classique oft als hölzern
und formalistisch, im Gegensatz zur vermeintlich freieren und
natürlicheren Darstellung Shakespeares. Und doch gibt es im
ausgehenden 18. Jahrhundert Rückgriffe auf die Regelpoetik, die als
nostalgische Versuche interpretiert werden können, Ordnung in die
nach der Französischen Revolution in Unordnung geratene Welt zu
bringen. In ihnen scheinen jedoch stets das Wissen um deren
Nichtrestaurierbarkeit und die Einsicht durch, dass sich Politik
nicht letztendlich begründen lässt. Aus dem Grund sind es vor allem
die Schwierigkeiten, Widersprüche und unauflösbaren Reste der
klassischen französischen Tragödie, an die Goethe und Schiller
anknüpfen. Dennoch scheint die klassische Form spätestens in der
Weimarer Klassik aus der Zeit gefallen. Nicht nur ist der
Machtverzicht des Helden – bei Corneille noch als bewusster
Willensakt inszeniert – hier eher Ausdruck seiner Ohnmacht: Goethes
Tasso beruft sich auf ein am Hof bereits überholtes
Politikverständnis, Schillers Wilhelm Tell hat zwar noch heroische
Auftritte, liefert aber keinen Beitrag zur Neugründung der Schweiz.
Auch die Einheit der Zeit, von der der Anschein der
Zeitunabhängigkeit und universellen Gültigkeit des souveränen
Rechts abhängt, wird ironischerweise nur noch in der »Iphigenie auf
Tauris« eingehalten, wo das Recht bereits gegründet und sie
folglich funktionslos ist. Spätestens der »Faust« markiert das Ende
solcher Versuche, die Einheit der klassischen Form zu stiften. Zwar
finden sich hier noch vereinzelt Form- und Stilelemente der
klassischen Tragödie, doch ist die moderne Tragödie und mithin die
Moderne mit dem Geld durch eine völlig andere Gründungsökonomie
strukturiert als der absolutistische Staat. Angesichts dieser
Entwicklungen stellt sich die Frage, inwiefern Analysen der
klassischen Tragödie Schlüsse für gegenwärtige Fragen nach dem
Zusammenhang von ästhetischer Form und politischen Anliegen
zulassen. Angesichts autoritärer politischer Akteure, die sich
aufführen wie Heroen und Könige, ist mitunter ein unbewusster
identifikatorischer Rückgriff auf das klassische Drama zu
beobachten. Dem setzt Haas eine an der Analyse der dramatischen
Form geschulte Sensibilität für die Unterschiede zwischen
historischem Geschehen und Gegenwart entgegen. ———————— Der
Germanist und Komparatist Claude Haas ist Ko-Leiter des
Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und wissenschaftlicher
Mitarbeiter im Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart«.
Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des
ZfL, Vorstandsmitglied der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin
und Professorin für europäische Kultur- und Wissensgeschichte am
Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin. www.zfl-berlin.org
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Über diesen Podcast
Für »Bücher im Gespräch«, den Podcast des Leibniz-Zentrums für
Literatur- und Kulturforschung (ZfL), unterhalten sich
Wissenschaftler*innen über ihre neuen Publikationen.
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