Seneca: Über die Muße

Seneca: Über die Muße

29 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

Massengeselligkeit ist durch die Wucht der Einstimmigkeit für uns
eine Schule der Fehler. Mögen wir auch sonst nichts für unser
Seelenheil tun, die Abgeschiedenheit ist doch an und für sich
schon von Nutzen: wir werden uns bessern, wenn wir vereinzelt
sind. Können wir uns doch beschränken auf den Umgang mit den
trefflichsten Männern und uns ein Muster auserwählen, nach dem
wir uns in unserer Lebensführung richten, eine Möglichkeit, die
uns nur durch die Abgeschiedenheit vom Geschäftsleben gewährt
wird. Nur dann kann man sich das zu eigen machen, was einmal
unseren Beifall gefunden hat, wenn sich niemand dazwischen
schiebt, der unser noch nicht zum festen Grundsatz gewordenes
Urteil unter Beihilfe des großen Haufens in andere Bahnen lenkt;
dann kann das Leben in gleichmäßigem und einheitlichem Zuge
fortschreiten, das wir gemeinhin durch die sich
widersprechendsten Vorsätze in Zwiespalt mit sich bringen; denn
unter den sonstigen Übeln ist dies das schlimmste, daß wir mit
den Fehlern selbst wechseln. ... Dazu achte noch darauf, daß man
nach dem Grundsatz des Chrysippus in Muße leben darf, nicht etwa
nur in dem Sinn, daß man sie nicht abzuweisen brauche, sondern in
dem, daß man sie sich selber erwählt. Wir Stoiker sind weit
entfernt, zu behaupten, der Weise werde sich jedem beliebigen
Staatswesen widmen. Was aber macht es für einen Unterschied, auf
welche Art und Weise der Weise zur Muße gelangt, ob deshalb, weil
sich für ihn kein Staatswesen findet, oder deshalb, weil er
selbst sich nicht in das Staatswesen findet, es müßte denn
allenthalben sich ein wirkliches Gemeinwesen finden? Ein solches
aber wird uns bei scharfen Anforderungen immer fehlen. Ich frage,
welchem Staatwesen sich der Weise widmen soll, dem der Athener,
wo ein Sokrates verurteilt wird, aus dem ein Aristoteles
entfliehen muß, um sich der Verurteilung zu entziehen, wo die
Gehässigkeit aller Tugend den Garaus macht? Du wirst nicht
zugeben, daß der Weise sich einem solchen Staatswesen widmen
werde. Wird sich also der Weise etwa in den Dienst des
Karthager-Staates stellen wollen, wo ewiger Aufruhr herrscht und
der Freiheitssinn jedem Ehrenmann gefährlich wird, wo Recht und
Sittlichkeit nichts gilt, wo gegen Feinde unmenschliche
Grausamkeit und gegen die eigenen Bürger Feindseligkeit herrscht?
Auch diesen Staat wird er meiden. Wollte ich sie alle, einen nach
dem anderen, durchgehen, ich werde keinen finden, der sich den
Weisen oder den der Weise sich gefallen lassen könnte. Findet
sich nun nirgends jener Staat, der unserem Geiste vorschwebt, so
tritt der Fall ein, daß die Muße für alle notwendig wird, weil
sich nirgends dasjenige findet, das vor der Muße den Vorzug
erhalten könnte. Wenn einer behauptet, es sei das Beste, zu
Schiff zu gehen, dann aber die Warnung hinzufügt, man dürfe sich
nicht auf ein Meer begeben, wo Schiffbrüche an der Tagesordnung
und plötzliche Stürme die Regel sind, die dem Steuermann das
Spiel gänzlich verderben, dann, glaube ich, verwehrt er mir die
Anker zu lichten, wenngleich er die Seefahrt preist.

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