Episode 15: Europäische Denker im Kalten Krieg

Episode 15: Europäische Denker im Kalten Krieg

56 Minuten

Beschreibung

vor 11 Monaten
Barbara Picht und Moritz Neuffer (beide ZfL) unterhalten sich
ausgehend von Barbara Pichts Buch »Die ›Interpreten Europas‹ und
der Kalte Krieg« (Wallstein 2022) über die Selbsterforschung
europäischer Intellektueller der Nachkriegsjahrzehnte. Was hat die
veränderte Weltlage nach dem Zweiten Weltkrieg für diejenigen
bedeutet, die sich von Berufs wegen mit der kulturellen,
sprachlichen und wissenschaftlichen Entwicklung von Gesellschaften
befassen? ———————— Unser Bild der Nachkriegszeit ist geprägt von
der Metapher des Kalten Krieges. Umso erstaunlicher ist es, dass
diese in den von Barbara Picht untersuchten Schriften von Oskar
Halecki und Czesław Miłosz (Polen, aus dem US-Exil schreibend),
Fernand Braudel und Robert Minder (Frankreich), Walter Markov und
Werner Krauss (DDR) sowie Werner Conze und Ernst Robert Curtius
(BRD) kaum eine Rolle spielt. Gemeinsam ist den ideologisch teils
weit voneinander entfernten Historikern und
Literaturwissenschaftlern, dass sich ihr Denken der Logik der
Blockkonfrontation entzieht. Stattdessen arbeiten sie an einer
historischen Tiefenverortung der europäischen Gegenwart, in der
Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg Verschärfungen einer
europäischen Krise sind, die für sie bereits mit dem Ersten
Weltkrieg einsetzte. Über gemeinsame Referenzautoren – von T.S.
Eliot über Ortega y Gasset bis Toynbee – treten die Autoren in ein
Gespräch miteinander, das sowohl reale als auch Phantomgrenzen
übersteigt und das auch der Eiserne Vorhang nicht ganz unterbinden
kann. Besonders deutlich wird das mit Blick auf Ostmitteleuropa,
dem in der zweigeteilten Logik des Kalten Kriegs lediglich die
Rolle einer Pufferzone zwischen den Blöcken zukam. Der sich selbst
als historischer Diplomat verstehende Historiker Halecki hingegen
nutzte den Fundus der ostmitteleuropäischen Geschichte und schlug
vor, die 200 Jahre währende Jagiellonische Union als Vorbild für
einen neuen Völkerbund zu betrachten – eine Idee, die auch heute
noch ungewohnt wirken mag. Während der fast ausschließliche Fokus
auf Europa manchen heutigen Leser*innen Unbehagen bereitet,
plädiert Barbara Picht dafür, den Blick zu schärfen für durchaus
vorhandene globalgeschichtliche Ansätze bei Braudel und Markov, der
ausgehend von den Befreiungsbestrebungen in den Kolonien an einer
vergleichenden globalen Revolutionshistoriografie arbeitete. Als
öffentliche Intellektuelle sahen aber alle untersuchten Autoren
ihre Aufgabe darin, zu einer Selbstbesinnung Europas beizutragen.
Und auch jene von ihnen, die das politische Parkett nicht so
offensiv nutzten, wirkten wie Curtius und Minder im Feld der
Literaturkritik gezielt gegenwartsbeeinflussend und alles andere
als apolitisch. Ob sie dabei jenseits der institutionellen Zwänge,
die sich aus der Logik des Kalten Krieges ergaben, von politischer
Seite in Dienst genommen oder gar instrumentalisiert wurden, bleibt
kritisch zu betrachten. ———————— Barbara Picht ist Historikerin und
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Das 20. Jahrhundert in
Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen
Semantik in Deutschland«. Gemeinsam mit Kerstin Schoor hat sie am
Axel Springer-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Literatur- und
Kulturgeschichte, Exil und Migration an der Europa-Universität
Viadrina in Frankfurt (Oder) das Harald von Troschke-Archiv
eingerichtet, das die Interviews, die der Journalist Harald von
Troschke in den 1960er bis 1980er Jahren mit zahlreichen
Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Film, Theater, Musik
und Literatur führte, digital verfügbar macht. Der Historiker und
Kulturwissenschaftler Moritz Neuffer erforscht am ZfL das
persönliche Archiv der Germanistin, Publizistin und
Kulturhistorikerin Hildegard Brenner. Beide sind Mitglieder im
Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung.
www.zfl-berlin.org

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