Beschreibung

vor 3 Jahren

Ein brauner Topf, aus dem eine Tomatenpflanze wächst,
steht auf dem Balkon einer Stuttgarter Altbauwohnung und wirft
Schatten. Die grünen Blätter der Pflanze ragen schräg in die
Luft, und die Tomaten sind in der Sonne rot und dick geworden.
Dr. Franzi D. und Dr. B. haben an einem warmen Sommertag im
Schatten dieser Pflanze über Lennart Loß’ Roman
Und andere Formen menschlichen Versagens
gesprochen und darüber gestritten, ob es sich hier denn
wirklich um einen Roman handelt. Das Buch ist dünn und weiß, und
sein Cover ziert ein blau, lila, gelber Tintenfisch. Er sieht gut
aus - in der Hand, der Sakkotasche oder auf dem Schoß im Cafe.
Damit kann man sich sehen lassen.


Aus dem Gespräch ergibt sich aber eine viel essentiellere
Frage: Warum sollten wir überhaupt noch lesen, wenn wir nach
einem langen Arbeitstag nach Hause kommen, und Filme und Serien
immer und überall verfügbar, und viel leichter zu konsumieren
sind? Auch sie erzählen uns von Geschichten und Welten, in die
wir beizeiten fliehen können. Alles, was wir tun müssen, ist
hinsehen. Ein Buch hingegen muss gelesen werden, und das ist mit
Arbeit verbunden. Wenn es sich um ein gutes Buch handelt, dann
bleibt es bei uns. Dann schleichen sich Teile seiner Welt in
unseren Alltag ein. Sie legen sich wie ein Filter über unseren
Blick und sie verweilen. Als ich mit ungefähr 10 Jahren
Ronja die Räubertochter gelesen
habe, war ich Ronja - zumindest
für ein Vierteljahr. Ich habe kleine Höhlen aus Schulbüchern,
Decken und Kissen gebaut und meiner Mutter den Eintritt verboten.
Ich habe meine Haare verwuschelt, weil ich genauso wild und
rebellisch sein wollte. Oft war ich im Wald und bin geklettert,
habe kleine Stöcke und Steine gesammelt, mit nach Hause genommen,
einen Bogen gebastelt und eine Feuerstelle auf meinem orangen
Teppich gebaut. Meine Höhle war die Bärenhöhle, in der Ronja und
Birk sich vor ihren Eltern verstecken. Ich hatte nicht ihren Mut,
aber ihre Höhle. Zuhause, nicht im Wald, aber den Unterschied
spürte ich gar nicht.


Filme und Serien können sowas auch, aber anders. Wenn ich
lese, sind meine Gedanken freier. Dann sieht Ronja mir irgendwie
ähnlich, und die Bärenhöhle sieht ein bisschen so aus wie meine.
Bei Film oder Serie sieht alles so aus, wie es sich ein anderer
gedacht hat. Ich muss es mir nur ansehen. Eine Welt, die ich mir
selber gebaut habe, bleibt länger bei mir, denn ich baue sie nach
und nach, Seite um Seite. Ich baue sie in meine Welt, und somit
ist sie unmittelbarer und viel näher als alles, was durch einen
Bildschirm von mir getrennt ist. Das Buch konkretisiert sich
nicht, es bleibt in der Fantasie aktualisierbar. Aber lohnt sich
ein Buch eigentlich nur, wenn es bleibt? Auch darüber sind sich
Dr. D. und Dr. B. nicht einig.

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