Podcaster
Episoden
08.04.2021
49 Minuten
An einem milden Frühsommerabend machen sich Dr. B und seine
Kolleginnen Lisa und Caro auf den Weg. Sie suchen sich ein
idyllisches Kiesbänkchen an der Wertach, um umgeben von einem
alten Autoreifen und geleerten Wodkaflaschen über Sophie Calles
Adressbuch zu sprechen.
Die Erzählerin findet das Adressbuch eines gewissen Pierre D. und
startet ein Experiment. Sie trifft sich mit Freunden und Familie,
um, Erkenntnisse über Pierre D. zu erlangen. Nach und nach lassen
diese Erkenntnisse ein Bild vor dem inneren Auge entstehen.
Dennoch bleibt dieses Bild, trotz verschiedener, interessanter
Facetten gleichzeitig leer. Sophie Calle hat diese
Begegnungen mit den Menschen aus Pierres Adressbuch dokumentiert.
1983 erschienen diese Dokumentationen einen Monat lang als Serie
in der französischen Tageszeitung Libération. Damals lösten sie
einen Skandal aus. Heute wahrscheinlich auch, nur unter dem neuen
Begriff “stalking”.
Heute finden wir im Café vermutlich kein verlorenes Adressbuch
mehr. Vielleicht ein Smartphone. Dank Instagram, Google, Facebook
und Co ist es ein leichtes, verschiedene Aspekte einer Person
herauszufinden. Man gibt wenige Schlagwörter in eine Suchmaschine
ein oder ruft das Profil desjenigen auf. Aber gelingt ein
Kennenlernen so besser?
Werte Zuhörer, haben Sie schon einmal eine Person digital
erkundet, vielleicht sogar gestalked? Auf Datingplattformen à la
Tinder stellen sich Menschen mithilfe weniger Bilder, Sentenzen
oder Pseudo-Wisdoms vor. Die einen zeigen ihr pornösestes
Duckface, ihre Thighgap oder den Monsterbizeps, die anderen
lichten sich beim Eiswasserfallklettern, mit der anspruchsvollen
Lektüre oder beim Kröten-über-die-Straße-Tragen ab. Auf jeden
Fall skizziert man ein Bild seines eigenen Lebens, wie man sich
gerne sehen würde. Am besten authentisch, selbstbewusst und „mit
beiden Beinen im Leben stehend“.
Ist es möglich, oder besser: will man ein „authentisches“,
bruchloses Bild abgeben? Heute, im Zeitalter der sogenannten
Achtsamkeit, wird oft postuliert, dass es wichtig sei,
authentisch, man selbst, mit sich im Reinen oder angekommen zu
sein. Für mich sind das inhaltsleere Begriffe. Was soll das
bedeuten, authentisch, also echt zu sein? Ist das überhaupt
relevant oder erstrebenswert? Ist nicht alles, auch das
Sich-Verstellen, ein authentischer Teil meiner selbst? Ist nicht
das Gesellschaftlich-Aufgezwungene, von dem ich mich vermeintlich
befreien muss, für mich genauso echt wie das angeblich
Unverstellte? Was ist echt? Ist „wissen was man will“ echt oder
darf man als Mensch widersprüchlich sein?
Die Gleichung, je mehr eine Person über ihr Leben teilt desto
besser lernt man sie kennen, geht nicht auf. Ist es nicht
reizvoller, jemanden zu treffen, der nicht schon vermeintlich
jeden Aspekt seines Lebens ablichtet? Denn je weniger man
(hoffentlich nur im übertragenen Sinne) blankzieht, desto mehr
gibt es zu entdecken.
Sehr verehrte Zuhörer, achten Sie stets darauf, dass Ihrem so
konzipierten Bild noch zahlreiche Puzzleteile fehlen, die
jederzeit eingefügt oder ausgetauscht werden können.
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19.12.2020
42 Minuten
“Wir wollten über Pornos sprechen!”, rufen Dr. D. und
Katrin M. “Nicht über Gedichte.” Ja, warum eigentlich Lyrik? Das
fragen sie sich gemeinsam mit Dr. B., während sie auf dem Balkon
einer Stuttgarter Altbauwohnung im spärlichen Schatten der
Tomatenpflanze sitzen. Dr. B. muss während der gesamten Aufnahmen
einen Kinderregenschirm über die Köpfe der Damen halten, damit
sie nicht in der Sonne schmelzen. “Ja, warum eigentlich nicht
über Gedichte sprechen?”, frage ich mich, das Millennial; ein
Wort, das bei Dr. B. oft Schweißausbrüche auslöst. Im gleichen
Zug schreibt er für die Kategorie Burning the
Midnight Oil einen Text, in dem er über sein
Alter klagt; die Jugend, die so kurz war und den schwachen Trost,
dass es uns allen irgendwann so ergehen wird - aber unsere
Generation nervt. Schon klar. Manchmal wirklich. Im Sommer teilte
meine Cousine - ebenfalls Mitte 20 - folgende Weisheit mit mir:
“Ja, Literatur ist, glaub’ ich, irgendwie over.” Wenn das für
Literatur gelten sollte, dann gilt das für Gedichte allemal, aber
wieso? Fehlt die Zeit? Nach einem 8-Stunden-Tag haben die
wenigsten Lust und Nerven, ein Gedicht zu lesen
und zu verstehen. Oder sind sie dem
eigenen Alltag einfach zu fremd? Aber ist nicht beispielsweise
Rilkes Der Panther aktueller
denn je? Die Band AnnenMayKantereit
verarbeitet diese Zeilen in ihrem Song, aber wer erkennt
diese Referenz überhaupt noch, wenn Leadsänger Henning von seinem
müden Blick und tausend Städten
singt, hinter denen es keine Welt gibt? Vielleicht gehört
Rilke den Intellektuellen, vielleicht noch den Künstlern, aber da
hört es meist auf. Doch bleibt dann wirklich nur noch diese
furchtbare Pseudo-Poesie, die einem als Wandtattoo “Lächle und
die Welt verändert sich.” entgegenschreit, oder Instagram
Captions, die mir etwas von “Good vibes only” erzählen?
Vielleicht sind Gedichte gar nicht “over”, vielleicht sind sie
nur leiser als all diese künstliche Wortaufplüscherei. Eine
Antwort habe ich nicht.
Jetzt aber zurück zu der Generation, die uns so furchtbar
findet. Hat sie eine Antwort, oder geht’s dann doch nur um
Pornos? Mit dem Alter kommt ja angeblich auch die Weisheit, oder,
Dr. B.?
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04.11.2020
36 Minuten
"Die Obszönität beginnt, wenn es kein Schauspiel, keine
Szene, kein Theater, keine Illusion mehr gibt, wenn alles dem
kalten, unerbittlichen Licht der Information und Kommunikation
ausgesetzt ist. Wir erleben nicht mehr das
Drama der Entfremdung, wir erleben die Ekstase der
Kommunikation."
Aus: Das Andere Selbst von Jean Baudrillard, erschienen im Jahr
1987
Wir haben rüber gemacht, haben den Wertachstrand und die
goldenen Sonnenuntergänge Oberhausens hinter uns gelassen, um
jenseits der Alpen im gleissenden Licht der Grossstadt zwischen
Bankentürmen und Versicherungswolkenkratzern abzutauchen. Hier in
Zürich gibt es dreckiges Geld und saubere Luft, schlechte Brezen
und guten Kaffee. Es gibt Subkultur und Überpopulation.
In einem Café sitzend, sich den letzten Sonnenstrahlen
des Sommers hingebend, verschlingt Dr. B seine softscrambled eggs
auf sourdough bread binnen weniger Minuten. Er hat immer noch
Angst, dass sich wieder diese unsichtbare Hand um seinen Hals
legt und zudrückt. Katrin M. hat das auf der Fahrt schon
beobachtet: Denn sobald sie auf Tanja und Jérôme zu sprechen
kommt, fängt Dr. Bs Gesicht an, Rot zu werden und zu zucken. Aber
es muss sein, sie kann ihm diese Diskussion jetzt nicht
ersparen.
Dr. B und Katrin M. brauchen Neutralität und die Idee von
Basisdemokratie, um über Tanja und Jérôme zu sprechen, über das
Buch «Allegro Pastell». Der Roman von Leif Randt begleitet Tanja,
eine Romanautorin und Jérôme, einen Webdesigner, zwischen
Frankfurt und Berlin – long distance, alles andere wäre für die
beiden auch keine Option. Tanja und Jérôme, sie sind voller Liebe
füreinander, aber vor allem für sich selbst. Und das zelebrieren
sie. Ebenfalls und ausschließlich für sich selbst.
Das Café, in dem sich Dr. B und Katrin M. befinden, liegt
im Kreis 4, mitten in Zürich. Unweit der Bäckeranlage versteckt
sich das grün gekachelte Gebäude zwischen Grundschule, Saunaclub
und gehobener Weinhandlung. Nackte Betonwände, reduziertes
Mobiliar, im Hinterhof weisse Plastikgartenstühle. Hier würde es
auch Jérôme und Tanja gefallen. Nur Steckdosen gibt es zu wenig,
fast keine eigentlich, deshalb werden Dr. B und Katrin M. später
den Ort wechseln müssen.
Während das heiße Wasser eine Schneise durch die frisch
gemahlene Hondurasbohne gräbt – Katrin M. wartet ungeduldig auf
den zweiten Kaffee – wischt sich Dr. B den Mund mit einer braunen
Papierserviette ab, checkt noch schnell den Akku des
Aufnahmegerätes und drückt dann auf Play.
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13.09.2020
26 Minuten
Der Schatten wandert mit der Drehung der Erde. Auf dem Balkon der
Stuttgarter Altbauwohnung hat sich der Schatten der
Tomatenpflanze mittlerweile länglich in Richtung Osten
verschoben. Dr. Franzi D. und Dr. B. rücken ihm nach, aber etwas
ist bei ihnen geblieben. Sie diskutieren eine Frage, die ihnen
aus dem letzten Gespräch gefolgt ist: Wieso sollten wir noch
Bücher lesen, wenn es viel leichter ist, einen der vielzähligen
Streaming-Dienste aufzurufen, sich zurückzulehnen und berieseln
zu lassen, während ein Buch immer mit Arbeit verbunden ist? Wenn
ich lese, muss ich mich auf das Buch einlassen und anderen
Ablenkungen entsagen. Dann müssen sich meine Augen mit den
Buchstaben auf dem Papier begnügen, obwohl sie gerade lieber
durch den Instagram Feed gleiten würden - was nicht unbedingt
befriedigender, sondern schlichtweg einfacher ist. Dr. B. hat mir
gestanden, dass er sich in letzter Zeit kaum noch auf Bücher
konzentrieren kann und bis spät nachts ausschließlich First Dates
auf Facebook schaut. Das sei unbefriedigend und man fühle sich
überhaupt nicht angenehm müde wie nach dem Lesen, sondern nur
erschöpft und leer.
Filme und Serien haben, trotz ihrer Beliebtheit, oft einen
schlechteren Ruf als Bücher, besonders wenn es sich dabei um eine
Adaption eines Buches handelt. Das mag in manchen Fällen wahr
sein, aber gilt das wirklich immer? Kann ein Film nicht
mindestens genauso gut sein, wie das Buch, auf dem er basiert?
Vielleicht liegt der erste Fehler schon darin, diese beiden
Medien miteinander zu vergleichen.
Erzählen müssen wir jedenfalls immer. Doch die Art des Erzählens
scheint sich dauernd zu wandeln. Zeitgenössische Literatur
erzählt nicht mehr im Stil Thomas Manns und wenn sie das
versuchte, könnte ihr das überhaupt gelingen?
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29.06.2020
33 Minuten
Ein brauner Topf, aus dem eine Tomatenpflanze wächst,
steht auf dem Balkon einer Stuttgarter Altbauwohnung und wirft
Schatten. Die grünen Blätter der Pflanze ragen schräg in die
Luft, und die Tomaten sind in der Sonne rot und dick geworden.
Dr. Franzi D. und Dr. B. haben an einem warmen Sommertag im
Schatten dieser Pflanze über Lennart Loß’ Roman
Und andere Formen menschlichen Versagens
gesprochen und darüber gestritten, ob es sich hier denn
wirklich um einen Roman handelt. Das Buch ist dünn und weiß, und
sein Cover ziert ein blau, lila, gelber Tintenfisch. Er sieht gut
aus - in der Hand, der Sakkotasche oder auf dem Schoß im Cafe.
Damit kann man sich sehen lassen.
Aus dem Gespräch ergibt sich aber eine viel essentiellere
Frage: Warum sollten wir überhaupt noch lesen, wenn wir nach
einem langen Arbeitstag nach Hause kommen, und Filme und Serien
immer und überall verfügbar, und viel leichter zu konsumieren
sind? Auch sie erzählen uns von Geschichten und Welten, in die
wir beizeiten fliehen können. Alles, was wir tun müssen, ist
hinsehen. Ein Buch hingegen muss gelesen werden, und das ist mit
Arbeit verbunden. Wenn es sich um ein gutes Buch handelt, dann
bleibt es bei uns. Dann schleichen sich Teile seiner Welt in
unseren Alltag ein. Sie legen sich wie ein Filter über unseren
Blick und sie verweilen. Als ich mit ungefähr 10 Jahren
Ronja die Räubertochter gelesen
habe, war ich Ronja - zumindest
für ein Vierteljahr. Ich habe kleine Höhlen aus Schulbüchern,
Decken und Kissen gebaut und meiner Mutter den Eintritt verboten.
Ich habe meine Haare verwuschelt, weil ich genauso wild und
rebellisch sein wollte. Oft war ich im Wald und bin geklettert,
habe kleine Stöcke und Steine gesammelt, mit nach Hause genommen,
einen Bogen gebastelt und eine Feuerstelle auf meinem orangen
Teppich gebaut. Meine Höhle war die Bärenhöhle, in der Ronja und
Birk sich vor ihren Eltern verstecken. Ich hatte nicht ihren Mut,
aber ihre Höhle. Zuhause, nicht im Wald, aber den Unterschied
spürte ich gar nicht.
Filme und Serien können sowas auch, aber anders. Wenn ich
lese, sind meine Gedanken freier. Dann sieht Ronja mir irgendwie
ähnlich, und die Bärenhöhle sieht ein bisschen so aus wie meine.
Bei Film oder Serie sieht alles so aus, wie es sich ein anderer
gedacht hat. Ich muss es mir nur ansehen. Eine Welt, die ich mir
selber gebaut habe, bleibt länger bei mir, denn ich baue sie nach
und nach, Seite um Seite. Ich baue sie in meine Welt, und somit
ist sie unmittelbarer und viel näher als alles, was durch einen
Bildschirm von mir getrennt ist. Das Buch konkretisiert sich
nicht, es bleibt in der Fantasie aktualisierbar. Aber lohnt sich
ein Buch eigentlich nur, wenn es bleibt? Auch darüber sind sich
Dr. D. und Dr. B. nicht einig.
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Über diesen Podcast
In dieser Podcastreihe spricht das Literaturhaus Augsburg mit
verschiedensten Gästen über Literatur, Kultur, Ästhetik, das Leben
und vieles mehr.
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