Folge 32 - An die Sonne (Ingeborg Bachmann)

Folge 32 - An die Sonne (Ingeborg Bachmann)

20 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

Im heutigen Gedicht unternimmt die Autorin das Wagnis,
Liebeslied, Hymne und Klage miteinander zu vereinen und damit
eines der schönsten Gedichte des 20. Jahrhunderts zu verfassen,
dessen Schönheit vielleicht gerade aus dieser Mischung hervorgeht
- aus der Lebenslust, die um den Tod weiß, aus dem Sinn für
Schönheit, der dessen Zerbrechlichkeit kennt.








An die Sonne


Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,
Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,
Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen
Und zu weit Schönerem berufen als jedes andre Gestirn,
Weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die
Sonne.

Schöne Sonne, die aufgeht, ihr Werk nicht vergessen hat
Und beendet, am schönsten im Sommer, wenn ein Tag
An den Küsten verdampft und ohne Kraft gespiegelt die Segel
Über dein Aug ziehn, bis du müde wirst und das letzte
verkürzt.

Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier,
Du erscheinst mir nicht mehr, und die See und der Sand,
Von Schatten gepeitscht, fliehen unter mein Lid.

Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar
sorgt,
Dass ich wieder sehe und dass ich dich wiederseh!

Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein
...

Nichts Schönres als den Stab im Wasser zu sehn und den Vogel
oben,
Der seinen Flug überlegt, und unten die Fische im Schwarm,


Gefärbt, geformt, in die Welt gekommen mit einer Sendung von
Licht,
Und den Umkreis zu sehn, das Geviert eines Felds, das Tausendeck
meines Lands
Und das Kleid, das du angetan hast. Und dein Kleid, glockig und
blau!

Schönes Blau, in dem die Pfauen spazieren und sich
verneigen,
Blau der Fernen, der Zonen des Glücks mit den Wettern für mein
Gefühl,
Blauer Zufall am Horizont! Und meine begeisterten Augen
Weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund.

Schöne Sonne, der vom Staub noch die größte Bewundrung
gebührt,
Drum werde ich nicht wegen dem Mond und den Sternen und
nicht,
Weil die Nacht mit Kometen prahlt und in mir einen Narren
sucht,
Sondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonst
Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.





Rezitation Ingeborg Bachmann:


https://www.youtube.com/watch?v=J8e0Xj7cdBM



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