Folge 62 - Zur Frage der Reinkarnation (Enzensberger)

Folge 62 - Zur Frage der Reinkarnation (Enzensberger)

21 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr
Hans Magnus Enzensberger ist gestorben und aus diesem Grund lassen
wir seine Texte aufleben. Gerade der Text 'Zur Frage der
Reinkarnation' offenbart uns einige ganz entscheidende Facetten,
wenn es um Enzensbergers Denken, um sein Verhältnis zur Natur und
zur Menschheit geht.

Enzensberger
Zur Frage der Reinkarnation

Die Fliege stört mich.
Ich betrachte die Fliege,
beschreibe sie,
wie sie die Taster rührt,
die dreigliedrigen,
dicht gefiederten Fühler,
wie sie sucht, saugt, schöpft
mit den fleischigen Endlippen
ihres Rüssels. Die Flügel,
aschgrau geädert,
glänzend geschuppt,
flimmern im Licht.
Tarsen 1, Klauen, Borsten
zittern vor Energie.
Mit den zweimal viertausend Linsen
ihrer riesigen Augen
betrachtet sie mich.
Wie behaart sie ist!
Es stört sie nicht,
dass ich sie beschreibe.
Der anderen Fliege, hier,
auf meinem Tisch, im Bernstein,
die keinen von uns gestört hat,
gleicht sie aufs Haar, aufs Haar.
Wie ist sie zurückgekehrt,
nach aberhundert Millionen
Geschlechterfolgen?
Vollkommen unverändert vibriert
ihr schwarz gewürfelter Hinterleib.
Sie stört mich.
Ich verscheuche sie –
diese, nicht jene Fliege.
Bei ihrer nächsten Wiederkehr
wird niemand mehr dasein,
um zu beschreiben,
wie die Fliege der Fliege gleicht.
Es stört mich nicht,
dass kein Mensch dasein wird,
um sie zu verscheuchen.



Brockes
Die kleine Fliege

Neulich sah ich, mit Ergetzen,


Eine kleine Fliege sich,


Auf ein Erlen-Blättchen setzen,


Deren Form verwunderlich


Von den Fingern der Natur,


So an Farb′, als an Figur,


Und an bunten Glantz gebildet.


Es war ihr klein Köpfgen grün,


Und ihr Körperchen vergüldet,


Ihrer klaren Flügel Paar,


Wenn die Sonne sie beschien,


Färbt ein Roth fast wie Rubin,


Das, indem es wandelbar,


Auch zuweilen bläulich war.


Liebster Gott! wie kann doch hier


Sich so mancher Farben Zier


Auf so kleinem Platz vereinen,


Und mit solchem Glantz vermählen,


Daß sie wie Metallen scheinen!


Rief ich, mit vergnügter Seelen.


Wie so künstlich! fiel mir ein,


Müssen hier die kleinen Theile


In einander eingeschrenckt,


durch einander hergelenckt


Wunderbar verbunden seyn!


Zu dem Endzweck, daß der Schein


Unsrer Sonnen und ihr Licht,


Das so wunderbarlich-schön,


Und von uns sonst nicht zu sehn,


Unserm forschenden Gesicht


Sichtbar werd, und unser Sinn,


Von derselben Pracht gerühret,


Durch den Glantz zuletzt dahin


Aufgezogen und geführet,


Woraus selbst der Sonnen Pracht


Erst entsprungen, der die Welt,


Wie erschaffen, so erhält,


Und so herrlich zubereitet.


Hast du also, kleine Fliege,


Da ich mir an die vergnüge,


selbst zur Gottheit mich geleitet.

Kommentare (0)

Lade Inhalte...
15
15
:
: