Folge 67 - geburtsanzeige (Hans Magnus Enzensberger)

Folge 67 - geburtsanzeige (Hans Magnus Enzensberger)

35 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

Dass wir nicht frei sind im Leben, ist kein Gedanke der Neuzeit.
Aber Enzensberger dekliniert die Unfreiheit des Menschen in
seinem Gedicht geburtsanzeige so radikal durch, wie kaum ein
anderer und zeigt, dass der Mensch von der Wiege bis zur Bahre
ein determiniertes Wesen ist. Ihm werden Religion, ökonomische
Zwänge und gesellschaftliche Verpflichtungen oktroyiert. Ob man
sich dagegen wehren kann? Wer weiß ... vielleicht, indem man
Lyrik liest. 








geburtsanzeige





wenn dieses bündel auf die welt geworfen wird


die windeln sind noch nicht einmal gesäumt


der pfarrer nimmt das trinkgeld eh ers tauft


doch seine träume sind längst ausgeträumt


es ist verraten und verkauft





wenn es die zange noch am schädel packt


verzehrt der arzt bereits das huhn das es bezahlt


der händler zieht die tratte und es trieft


von tinte und von blut der stempel prahlt


es ist verzettelt und verbrieft





wenn es im süßlichen gestank der klinik plärrt


beziffern die strategen schon den tag


der musterung des mords der scharlatan


drückt seinen daumen unter den vertrag


es ist versichert und vertan





noch wiegt es wenig häßlich rot und zart


wieviel es netto abwirft welcher richtsatz gilt


was man es lehrt und was man ihm verbirgt


die zukunft ist vergriffen und gedrillt


es ist verworfen und verwirkt





wenn es mit krummer hand die luft noch fremd begreift


steht fest was es bezahlt für milch und telefon


der gastarif wenn es im grauen bett erstickt


und für das weib das es dann wäscht der lohn


es ist verbucht verhängt verstrickt





wenn nicht das bündel das da jault und greint


die grube überhäuft den groll vertreibt


was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft


mit unerhörter schrift die schiere zeit beschreibt


ist es verraten und verkauft.

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