Jessica Anya Blau: Mary Jane. A Novel

Jessica Anya Blau: Mary Jane. A Novel

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Beschreibung

vor 2 Jahren

Das Sein bestimmt das Bewusstsein. So hat es Karl Marx nicht
geschrieben, sondern etwas ausführlicher: Zitat "„Es ist nicht
das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr
gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“


"Mary Jane. A Novel" wurde im Mai dieses Jahres veröffentlicht,
auf dem Einband prangen lobende Worte von Nick Hornby, aber das
reichte nicht aus, um das Werk für eine Übersetzung ins Deutsche
zu qualifizieren. Wieder einmal schnappt die Falle des immer noch
strikt zwischen ernst und unterhaltsam unterscheidendem
Kulturbewusstseins zu und disqualifiziert dieses Buch von einer
weiteren Verbreitung in unserer Sprache. Unterhaltsame leichte
Belletristik haben wir schon genug, so das Kalkül der hiesigen
Verlagshäuser. Keine der bisherigen Veröffentlichungen von
Jessica Anya Blau, dies ist ihr 5. Buch, hat diese Sprachgrenze
bisher überwinden können.


In der englischsprachigen Welt ist es hingegen auf allen
möglichen Bestseller- und Empfehlungslisten für die Lesezeit des
Sommers gelandet, und damit auch auf meinem Tisch.


Mary Jane Dillard, ist nicht nur die Protagonistin des nach ihr
benannten Buches, sondern auch ihre Erzählerin, die Marxens
Diktum vom Anfang als Coming of Age Story in der Mitte der 1970er
Jahre zeichnet.


In einem weißen konservativen Viertel Baltimores wohnt sie mit
ihren gut situierten Eltern. Sie singt im Kirchenchor, hilft
ihrer Mutter im Haushalt und beim Kochen, besonders gerne macht
sie Desserts. Ihren  schweigsamen Vater sieht immer nur beim
Abendessen, der - ein wenig holzschnittartig - zu diesen Anlässen
immer zeitungslesend selten mit seiner Frau, noch weniger aber
mit Mary Jane spricht. Im Wohnzimmer hängt ein Bild des
Präsidenten Ford, im Gebet dankt der Vater seiner "wundervollen
Frau und dem gehorsamen Kind". Mary Jane ist 14, ein perfektes
Alter, um ihr Bewusstsein und damit ihr Leben zu ändern. Nichts
liegt ihr ferner als Rebellion, ihre Werte sind die ihr
vermittelten. Ihre Mutter besorgt ihr einen Sommerjob als Nanny
für die Tochter eines Arztes namens Dr. Cone, der auf einem
Missverständnis beruht: Der Arzttitel lässt sie einen ähnlichen
Haushalt wie den ihren vermuten.


Während Mary Jane dem Telefonat ihrer Mutter lauscht, beschließt
sie, das verdiente Geld komplett zu sparen, um am Ende des
Sommers einen Plattenspieler für ihr Zimmer kaufen zu können,
vielleicht sogar - Zitat: "mit zusätzlichen Lautsprechern." -
Zitatende. Musik jeder Art, von christlichen Hymnen über
Kinderlieder zu Rock spielt eine große Nebenrolle: in ihrer
vordergründigen Art als Unterhaltung, Inspiration, aber auch als
die Gefühle weckender und verstärkender Soundtrack, als
Anrührung, als Erweckung.


Mary Jane ist ein zufriedener Teenager. Die ihr zugeteilten
Aufgaben geben ihrem Leben eine Struktur, die sie schätzt. Aber
natürlich hat sie auch Träume: ihr bis jetzt größter ist es, eine
Show am New Yorker Broadway zu sehen. Sie und ihre Mutter sind
nicht nur devote Kirchgänger, sondern auch Mitglieder im Show
Tunes of the Month Club und bekommen jeden Monat eine neue
Schallplatte. Sie hat alle Songs auswendig gelernt, und auch ihre
Mutter liebt diese Platten, leider aber nicht New York, dass in
ihren Worten voll von Dieben, Drogenabhängigen und Degenerierten
ist.


Nun also sucht Mary Jane die Familie Cone auf um sich
vorzustellen. Die falschen Annahmen ihrer Mutter über die Familie
Cone sind nach dem Öffnen der Haustür sofort sichtbar: das Haus
versinkt im Chaos, die Mutter trägt nicht nur keine Büstenhalter,
sondern kann auch nicht kochen, Dr. Cone behandelt als Psychiater
vorrangig Suchtkranke, und die 5jährige zu betreuende Tochter
Izzy rennt nackt durchs Haus und schenkt Mary Jane sofort ihr
Vertrauen. Deren Reaktion ist nicht so sehr Schock oder
Überraschung, sondern spontane Zuneigung und Vorfreude. 


Vorfreude voller Glanz, die sie auf ihrer Haut spürt, darauf,
etwas zu tun, was sie nie zuvor gemacht hat, darauf, ihre Tage in
einer Welt zu vollbringen, die sich von ihrer bisherigen so
unterscheidet. Und so beschließt sie, geplagt vom schlechten
Gewissen, ihrer Mutter zu verschweigen, wie sie die Cones
vorgefunden hat und nur stumm deren Annahmen über die respektable
Familie zu bestätigen.


Die Sprache von "Mary Jane: A Novel" ist leicht, nicht seicht,
und verliert diese Leichtigkeit nicht, egal, mit welchen
Erlebnissen Mary Jane im Verlauf des Sommers konfrontiert wird.


Jessica Anya Blau findet einen überraschenden Weg, der das Buch
gegen den bekannten und in vielen Filmen erzählten Fortgang von
der Ausgangslage "behütete Tochter trifft auf die Gegenkultur und
geht in ihr auf/verliert sich in ihr oder wendet sich schockiert
ab" abschirmt: sie gibt Mary Jane Persönlichkeit, die ihrerseits
auf ihr neues Umfeld wirkt: die fünfjährige Izzy nimmt sie als
Respektsperson wahr und stürzt sich voller Begeisterung in alle
Projekte, die Mary Jane beginnt und anstößt, um den Haushalt der
Cones zu organisieren und auszumisten. Mary Jane wird aber auch
von den Erwachsenen im Umfeld ihres Sommerjobs respektiert und
nicht als anzuleitender Teenager, sondern als Person mit eigenen
und zu unterstützenden Ideen wahr- und in die Gemeinschaft
gleichberechtigt aufgenommen. Der Grund für Mary Janes
Verpflichtung als Izzys Nanny ist die neue Arbeit von Dr. Cone,
der über den Sommer den inkognito angereisten Rockstar Jimmy von
seiner Sexsucht via Gesprächstherapie heilen soll. Begleitet wird
er von seiner bezaubernden Ehefrau Sheba, die weitaus bekannter
als Jimmy ist, weil sie als singende Schauspielerin der TV Nation
berühmt wurde.


Mary Janes Ideen sind teilweise pragmatisch, wenn sie das Haus
ausmistet; wunderbar naiv, wenn sie über einen längeren Zeitraum
versucht herauszufinden, ob sie auch sexsüchtig ist, weil sie oft
daran denkt, ohne je geküsst worden zu sein; einfallsreich, wenn
sie unter dem Vorwand, auch kochen zu müssen das jeweilige
Wochenmenü ihrer Mutter nachkocht. Die Erlaubnis hierfür und
dafür auch die Abende bei den Cones verbringen zu können bekommt
Mary Jane, weil ihre Mutter wieder einmal Annahmen trifft, die
falsch sind, denen ihre Tochter aber nicht widerspricht, sondern
sie schweigend hinnimmt: nämlich, dass eine Frau, hier Frau Cone,
sehr krank sein muss, wenn sie nicht in der Lage ist zu kochen.
Eine Vorstellung, die für Mary Janes Mutter nur möglich ist, wenn
diese Frau Krebs hat. 


Eine großes Thema des Buches ist, worüber und durch wen über
etwas gesprochen wird. In Mary Janes zu Hause herrscht Schweigen,
die für eine Konversation zulässigen Objekte und Vorkommnisse
sind stark reglementiert und zementieren damit ein Leben, dass
keine Adaptionen zulässt und die Zeit mit ihren
gesellschaftlichen Änderungen versucht fernzuhalten, in einen
starren immergleichen Wochenablauf eingezwängt. 


Im Hause der Cones ist dies anders, gesprochen wird über alles,
es wird versucht allen Gehör zu geben, Persönlichkeit und
künstlerischer Ausdruck - vorrangig durch Musik - werden
anerkannt und respektiert. Am Ende des Sommers hat Mary Jane die
Welt kennengelernt, Vertrauen in sich selbst und Selbstvertrauen
in die Schönheit ihres Gesangs gewonnen.


Vielleicht hätte es der Zusammenfassung der Entwicklung von Mary
Jane am Ende nicht bedurft, die etwas holzhammerartig darauf
hinweist, dass Mary Jane nun die Angst erkennen kann, die ihr
meist sprachloser Vater verbreitet, sein Rassismus, sein
Antisemitismus, seine Verweigerung, über all dies zu sprechen und
seine Familie als Diskussionspartner anzuerkennen. Izzy, die
wirklich reizende 5jährige, nervt manchmal ein bisschen, und die
Fähigkeit der Cones und ihrer Gäste, über alles zu sprechen,
Verletzungen zuzufügen und auch heilen zu können, scheint
manchmal dezent unrealistisch. Das Vergnügen an Mary Janes
Geschichte über ihren Sommer auf dem Weg zum Erwachsenwerden, in
dem ihr der moralische Kompass, den sie in ihrem Elternhaus
bekommen hat zugute kommt und die Erlebnisse mit den Cones ihre
Welt öffnen; der Zauber der Magie erster Erfahrungen aller
möglichen Dinge, die beschwingte Unterstützung all dessen durch
Musik ist groß.


Nächste Woche diskutieren Anne Findeisen, Irmgard Lumpini und
Herr Falschgold die Bücher der letzten Wochen.


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