Aidan Truhen: The Price You Pay

Aidan Truhen: The Price You Pay

5 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Jahr

Manchmal wird es einfach alles zu viel.


2,5 ℃ Erderwärmung? Kein Supermarkteinkauf mehr unter 50€? Die
lokale Fußballmannschaft schießt Eigentore? Krieg und Wetter. Und
weil wir nicht ganz dicht sind, besprechen wir dann hier im
Safespace unserer eigenen Kunstbücher von Precht und Welzer. Und
ich lese den Quatsch vorher auch noch. Wie bescheuert kann man
eigentlich sein? Irgendwann reicht es. Der Kopf will Ruhe haben.
Aber er will auch lesen.


Zum Glück folge ich, solange das in Elon Musks digitaler Voliere
noch aushaltbar ist, coolen Autoren und die spülen oft ganz ohne
Werbegedanken (solange das noch erlaubt ist) Lesetipps in die
Twittertimeline und die Treffsicherheit ist beängstigend.


So folge ich zum Beispiel Nick Harkaway, der ein britischer
Fantasy Autor ist und gleichzeitig meine liebster Erklärbär der
Londoner Shitshow um Brexit, Boris Johnson, Liz Truss und wer da
auch immer den Prime Minister spielt, wenn diese Episode
erscheint. Da dieser Job als Explainer des Wahnsinns, brillant
mit Insight und Humor ausgeübt, erschöpft ohne Ende, bricht auch
Harkaway ab und an aus und muss sich den aufgestauten Stress von
der Seele schreiben. So war das 2018, also in den Nachwehen des
Brexit und 2021, als in Großbritannien Corona, sagen wir:
“verbesserungswürdig” missgehandelt wurde. Seine so entstandenen
und dem Pseudonym Aidan Truhen zugeschriebenen Fluchtromane
heißen “The Price you Pay” und “Seven Demons”. Sie haben
keinerlei Referenz zu unserer Realität und sind ganz bewusst,
sagen wir, “unterkomplex”. Und wie macht Harkaway das? Er
schreibt einen Plot, der auf eine halbe Seite passt und füllt
diesen mit dem Wahnsinnigsten, was ihm an Sprache, Gewalt und
Absurdität einfällt. So muss man eigentlich nur darauf achten,
dass man nicht aus Versehen jemanden zweimal umbringt und kann
seiner in monatelanger Politikbeobachtung und -kommentar
gesteigerten Gewaltphantasie freien Lauf lassen.


Wobei. Der Plot des hier empfohlenen ersten Teils der Serie “The
Price You Pay” passt nicht auf eine halbe Seite - er passt in
zwei Sätze:


Jack Price, Kokaindealer der gehobenen Sorte in New York, gerät
in das Visier der gefährlichsten Auftragsmörder der Welt, den
‘Seven Demons’. Aber Jack Price weiß sich zu wehren.


Es beginnt ein Fest sinnfreier, lustigster und abgefahrenster
Gewalt, bei der wörtlich zum Schluss kein Stein auf dem anderen
bleibt. Die sieben Dämonen sind die üblichen Hollywood
Action-Bösewichte mit dem einen oder anderen Twist, der in
Hollywood dem Zensurrotstift zum Opfer fallen würde, aber das ist
hier britische Literatur, da kann der Humor schwarz sein und die
Klischees dick aufgetragen.


Jetzt das Überraschende: Der erste Teil dieser hoffentlich nicht
beendeten Serie ist auch auf Deutsch erschienen und trägt den
ganz hervorragenden Titel “F**k you very much!”. Die spannende
Frage ist: “Wie gut ist er übersetzt?”. Mein erster Gedanke beim
Lesen des Originals war: “Schade, das Ding wird hier nie
rauskommen..”, weil es mir nicht übertragbar erschien. Das Buch
ist ein einziger langer Monolog eines etwas zu schnell
sprechenden, alles checkenden, geschäftstüchtigen und sagen wir,
zielorientierten, New Yorkers unbestimmter ethnischer Herkunft,
dessen moralische Kompassnadel sich manchmal wild dreht. Es
wimmelt von Füll-, Slang- und Schimpfwörtern. Die Hälfte der
monologisierten Sätze ist gefühlt kürzer als fünf Worte, die
andere Hälfte sind Nebensatzmonster, gespickt mit 10$ Worten und
absurden Gedankensprüngen, bei denen man am Ende lachen muss. Und
was soll ich sagen: Suhrkamp hat einerseits einen ganz
hervorragend Übersetzer an den Start gebracht und dann,
Jesusfuckingchrist, dem Mann oder der Frau die Erwähnung auf dem
Cover des Buches verwehrt. Aber wir stehen bereit um zu loben: Es
sind Sven Koch und Andrea Stumpf, die den Grat zwischen 1:1
Übersetzung, die nur hätte peinlich werden können und zu freier
Schreibe, die dem ganz hervorragenden Original nicht gerecht
wird, selbstbewusst entlang schreiten.


Und wenn ich vor vier Wochen 4000 Worte in eine Rezension des
unwichtigsten Buches des Jahres von Precht und Welzer stopfte um
zu belegen, dass diesen pseudointellektuellen Quatsch kein Mensch
auch nur anlesen muss, habe ich mir von der Leserschaft dieses
substack hoffentlich das Vertrauen erworben, in knapp 800 Worten
spoilerfrei ein Buch zu empfehlen, welches todsicher die Laune
hebt und einem hilft kurz den Malmström von
Kreditkartenabrechnungen, mittleren Tabellenrängen in der dritten
Liga und 25 Grad Celsius am Tag der Umstellung von Sommer- auf
Winterzeit zu vergessen.


Denn wir haben uns das alles verdient und wenn ich, liebe Leser,
ganz, ganz ehrlich bin, habe ich nämlich gerade eben erst
herausgefunden, dass es von “The Price You Pay” einen zweiten
Teil gibt - denn wir recherchieren hier fundiert beim Studio B!
Und ich will diesen zweiten Teil jetzt sofort lesen. Und ich
hoffe doch sehr, dass Sven Koch und Andrea Stumpf den
Übersetzervorschuss von Suhrkamp schon erhalten haben.


Falschgold over and out oder um beim Titel der deutschen
Übersetzung zu bleiben: “F**k you very much!”


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