Sayaka Murata - Die Ladenhüterin

Sayaka Murata - Die Ladenhüterin

7 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Jahr

Meine bisherigen Erfahrungen mit japanischen Autorinnen und
Autoren beschränkten sich aktuell leider nur auf Banana Yoshimoto
und Haruki Murakami, von denen ich zwar jeweils einige Bücher
gelesen hatte – Yoshimoto auch rezensiert – aber über die ich
eben noch nicht hinaus gekommen war. Eine willkommene Abwechslung
und ein guter Start ins Lesejahr 2023 war daher die Empfehlung,
Sayaka Murata zu lesen, die ich kürzlich bekam. Gespannt, ob Die
Ladenhüterin, welches bereits 2016 im Original erschien und 2018
im Aufbau Verlag in deutscher Ausgabe veröffentlicht wurde,
ähnlich schräg sein würde, wie es meine bisherigen rudimentären
Erlebnisse mit der japanischen Literatur waren, widmete ich mich
diesem schmalen Roman.


Protagonistin und Ich-Erzählerin ist die 36-jährige Keiko
Furukura, die bereits seit über 18 Jahren in einem Convenience
Store arbeitet, der rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche
geöffnet hat und welche in Japan kurz Konbini genannt werden.
Über ihren Beginn als Arbeitskraft in dem Markt sagt sie
folgendes: „Mein erster Tag im Konbini war mein Geburtstag als
normales Mitglied der Gesellschaft.“ (S. 22) Hintergrund dieser
befremdlichen Formulierung ist die Tatsache, dass Keiko sich
bereits seit ihrer Kindheit als nicht normal fühlt und ihr
permanent von ihrer Umgebung dieses Gefühl vermittelt wird. Dies
wird dem Lesenden in Rückblicken auf ihre Kindheit deutlich
gemacht. Als sie beispielsweise als Kind einmal einen toten Vogel
findet und ihn ihrer Mutter bringt, möchte diese ihn beerdigen.
Keiko versteht allerdings nicht, warum man ihn nicht stattdessen
essen soll – ihr Vater mag doch so gern gegrilltes Geflügel. Um
ihren Eltern keinen Kummer mehr zu bereiten und nicht weiter
aufzufallen, entschließt sie sich eines Tages zu folgendem
drastischen Schritt: „Ich tat nur noch, was die anderen taten,
folgte allen Anweisungen und stellte so gut wie jede eigene
Lebensäußerung ein.“ (S. 14) So schafft sie es auch durch ihr
Studium, wobei sie auch hier keine neuen Kontakte aufbaut. Erst
als Mitarbeiterin im Konbini fühlt sie sich als brauchbares
Mitglied der Gesellschaft. Die Geräusche des Marktes hat sie auch
zu Hause noch im Ohr und sie beruhigen sie und helfen ihr
einzuschlafen. Zudem hat sie sich angewöhnt, die Stimmen ihrer
Kolleginnen zu imitieren oder auch deren Kleidungsstil
nachzuahmen. Zudem meint sie selbiges Verhalten auch bei ihren
Kolleginnen und deren Freundinnen zu beobachten und stellt fest:
„Diese Art der Anpassung macht offenbar einen großen Teil unseres
Mensch-Seins aus.“ (S. 28)


Sayaka Murata führt uns anhand des kleinen Systems Konbini und
ihrer Protagonistin vor Augen, dass Anders-Sein in der
japanischen Kultur nicht erwünscht ist. Gefühle und Verhalten,
die nicht der Norm entsprechen, sind etwas Negatives, das nicht
verstanden wird und als eine Art Krankheit empfunden wird, die es
zu heilen gilt. Jeder hat seine Funktion und so fühlt sich auch
Keiko nie wohler als in jenen Momenten, in denen sie sich als
kleines Rädchen in der täglich neuen Geschäftigkeit der Welt
spürt und als Individuum möglichst gar nicht auffällt. Es gibt
nur zwei Probleme: Sie ist eine Frau und sie ist nicht mehr jung.
Während ihr Aushilfsjob während ihres Studiums völlig legitim
war, stellt sich nun, da sie bereits 36 ist, die Frage, warum sie
keinen vollwertigen Beruf hat oder verheiratet ist und gar nicht
mehr arbeitet. In Japan gelten Frauen, die mit über 30 noch nicht
verheiratet sind, nach wie vor als Verlierer. Sind sie
verheiratet und haben auch Kinder, ist es die Aufgabe der Frau,
diese zu versorgen und sich um den Haushalt zu kümmern, was sich
mit beruflichem Erfolg oft nicht vereinbaren lässt.


Keiko kann jedoch nichts davon vorweisen, weshalb sie sich immer
häufiger Fragen anhören muss, warum sie keinen Partner oder einen
anderen Job hat. Dabei scheint sie an Männern oder sexuellen
Beziehungen im Allgemeinen gar kein Interesse zu haben und die
Arbeit im Konbini füllt sie so aus, dass sie sich mit Hilfe ihrer
Schwester Ausreden ausdenkt, weshalb sie keine andere Arbeit
verrichten kann. Schließlich lernt sie Shiraha kennen, einen Mann
Mitte 30, der zunächst ebenfalls im Konbini arbeitet, seine
Anstellung aber aufgrund seiner Faulheit und seines respektlosen
Verhaltens schnell wieder verliert. Die Meinung ihres Chefs und
ihrer Kolleginnen über Shiraha fällt folgendermaßen aus: „Aus dem
wird nichts mehr. Er ist erledigt. Eine Last für die
Gesellschaft. Der Mensch hat die Pflicht, ein nützliches Mitglied
der Gesellschaft zu werden, indem er einen Beruf ergreift oder
eine Familie gründet. Oder beides.“(S.59/60) Shiraha, der zwar
das System kritisiert und der Meinung ist, dass sich seit der
Jōmon-Zeit in Japan nichts verändert hat, ist aber letztlich ein
Nutznießer Keikos' Großzügigkeit und lässt sich von ihr
durchfüttern, als sie ihn bei sich aufnimmt. Obwohl sie beide
nicht der Norm entsprechen, kritisiert er sie ständig und macht
sie zum Puffer seiner eigenen Unzufriedenheit. Keiko hingegen
scheint mit ihrem Leben im Konbini zufrieden zu sein, sie hat
keinen hohen Ansprüche und ist es leid, sich ständig für ihr
Leben rechtfertigen zu müssen: „Wie lästig, warum brauchten die
anderen zu ihrer eigenen Beruhigung ständig Erklärungen?“ (S. 39)


Die Themen, die Sayaka Murata in ihrem Roman zur Sprache bringt,
sind aber kein ausschließlich japanisches Phänomen. Die Frage
nach dem „Was ist eigentlich normal?“ mag zwar immer auch in
Abhängigkeit zum eigenen Kulturkreis stehen, letztlich
beantwortet sie aber jeder für sich selbst. In Keikos Fall
entsteht ihr Gefühl des Nicht-Normal-Seins ja gar nicht aus ihr
selbst heraus, sondern aus ihrem Umfeld. Was im Umkehrschluss
vielleicht zeigt, wie merkwürdig doch diejenigen sind, die sich
für normal halten. Murata macht uns aber auch auf das starre
Rollensystem ihres Landes aufmerksam, das es Menschen schwer
macht, individuell zu sein.


Ein Ladenhüter ist ein Artikel, der sich schlecht oder fast gar
nicht verkauft und indem Muratas Roman im Deutschen Die
Ladenhüterin heißt, bekommt er gleich eine doppelte Bedeutung.
Keiko, die in Bezug auf Partnerschaft und Ehe ein Ladenhüter ist,
die aber auch eine Hüterin des Konbini, also eines Ladens, ist.
Ein Roman, der zunächst vielleicht etwas befremdlich anmuten mag,
aber in seiner Kürze, Prägnanz und Klugheit das Panorama einer
Gesellschaft entfaltet und ohne großen Spannungsbogen in seinen
Bann zieht und zum Nachdenken anregt. Eine ausgesprochene
Empfehlung.


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