Folge 29 - das ende der eulen (Hans Magnus Enzensberger)

Folge 29 - das ende der eulen (Hans Magnus Enzensberger)

28 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren
Der heutige Text thematisiert den Kalten Krieg aus einer
ungewohnten Perspektive: Mit Blick auf die Natur. Auch wenn er in
einer politisch vergangenen Periode geschrieben wurde, ist dieser
Text nichtsdestotrotz aktuell und übertragbar auf unsere Gegenwart.
 
Hans Magnus Enzensberger[1]: das ende der eulen (1960)

ich spreche von euerm nicht,
ich spreche vom ende der eulen,
ich spreche von butt und wal,
in ihrem dunkeln haus.
dem siebenfältigen meer,
von den gletschern,
sie werden kalben[2]zu früh,
rab und taube, gefiederten zeugen
von allem was lebt in den lüften
und wäldern, und den flechten im kies
vom weglosen selbst, und vom grauen moor
und leeren gebirgen.


auf radarschirmen leuchtend
zum letzten mal, ausgewertet
auf meldetischen[3], von antennen
tödlich befingert floridas sümpfe
und das sibirische eis, tier
und schilf und schiefer erwürgt
von warnketten, umzingelt
vom letzten manöver, arglos
unter schwebenden feuerglocken[4],
im ticken des ernstfalls.


wir sind schon vergessen,
sorgt euch nicht um die waisen,
aus dem sinn schlagt euch
die mündelsichern[5]gefühle.
den ruhm, die rostfreien psalmen[6].
ich spreche nicht mehr von euch,
planern der spurlosen tat,
und von mir nicht, und keinem.
ich spreche von dem was nicht spricht,
von den sprachlosen zeugen,
von ottern und robben,
von den alten eulen der erde.


[1]Enzensberger wurde 1929 geboren. Er ist Publizist, Dichter,
Übersetzer und politisch engagierter Essayist.


[2]‚Kalben‘ bezeichnet das Abbrechen größerer Eismassen von im
Meer endenden Gletschern


[3]Meldetische = Verweist auf militärische Operationszentralen


[4]Feuerglocke = Atompilz


[5]Mündelsicher = Für die Zukunft abgesichert


[6]Psalm = Religiöse Textform

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