Gedanken am frühen Morgen - Nichts ist schlimmer

Gedanken am frühen Morgen - Nichts ist schlimmer

5 Minuten

Beschreibung

vor 11 Monaten

Keine furchtbarere Leidenschaft wuchert ja im Herzen des Menschen
als der Neid, der (zwar) der Außenwelt am wenigsten wehe tut,
aber für den damit Behafteten ein ganz besonderes und
höchstpersönliches Übel ist. Wie Rost das Eisen, so verzehrt der
Neid die von ihm besessene Seele. Ja noch mehr, wie die Nattern
bei ihrer Geburt den Leib der Mutter durchnagen sollen1, so
pflegt auch der Neid die ihn mit Wehen gebärende Seele zu
verzehren. Denn der Neid ist der Ärger über das Wohlergehen des
Nächsten. Deshalb wird der Neidische Kummer und Missmut nie los.
Trägt der Acker des Nachbars reichlich Frucht, ist sein Haus mit
allem zum Leben Erforderlichen reichlich versehen, ist der Mann
seelenvergnügt, so gibt all das der Krankheit des Neiders Nahrung
und steigert seinen Schmerz. So gleicht er ganz einem Nackten,
der von allen Seiten verwundet wird. Ist jemand rüstig und
gesund, so verwundet das den Missgünstigen; hat jemand eine
schönere Gestalt, so ist das eine neue Wunde für ihn. Überragt
einer die Menge an Geistesgaben, wird er wegen seiner Klugheit
und Rednergabe geachtet und bewundert, ist ein anderer reich und
zeigt sich splendid im Geben und Mitteilen an Dürftige und wird
er darob von den wohltätig Bedachten recht gelobt, dann sind das
lauter Schläge und Wunden, die den Geizhals mitten ins Herz
treffen. — Und das Schlimmste bei dieser Krankheit ist, dass er
sie nicht einmal offenbaren kann. Er schlägt nur die Augen
nieder, ist traurig, verwirrt, klagt und geht am Übel zugrunde.
Frägt man ihn nach seinem Leiden, so schämt er sich, sein Weh zu
verraten und zu sagen: Ich bin neidisch und verbittert; es kränkt
mich das Glück des Freundes; ich bin traurig ob der Freude meines
Bruders und kann fremdes Glück nicht sehen; das Wohlergehen des
Nächsten macht mich unglücklich. So müsste er nämlich reden, wenn
er die Wahrheit sagen wollte.

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