#12: Erich Fromms Überlegungen zum "Einkommen für alle"

#12: Erich Fromms Überlegungen zum "Einkommen für alle"

22 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Monat

Schon in den 1960er Jahren hat sich Erich Fromm mit dem Thema
Grundeinkommen beschäftigt. Sowohl in seinen Werken "Haben oder
Sein" oder "Anatomie der menschlichen Destruktivität" , speziell
aber in seiner 1966 erschienenen Publikation
"Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten
Einkommens für alle"


Dr. Franu Lichtenberger hat diese Werke schon vor 50 Jahren
gelesen. Im Interview mit Paul Ettl berichtet er davon und liest
dann die Publikation von Erich Fromm.


 


Dieser Beitrag befasst sich ausschließlich mit den
psychologischen Aspekten eines garantierten Einkommens, mit
dessen Wert, seinen Risiken und mit den menschlichen Problemen,
die dabei entstehen können.


Für ein garantiertes Einkommen für alle spricht in erster
Linie, dass die Freiheit des einzelnen auf diese Weise
entschieden erweitert werden könnte. (Vgl. hierzu auch
meine Ausführungen zu einem garantierten Existenzminimum in The
Sane Society,1955a, GA IV, S. 234-236.) Bisher war der Mensch
während seiner gesamten Geschichte durch zwei Faktoren in seiner
Handlungsfreiheit eingeschränkt: durch die Anwendung von Gewalt
von Seiten der Herrschenden (besonders dadurch, dass diese in der
Lage waren, Abweichler umzubringen) und - was noch wesentlicher
war - dadurch, dass alle vom Hungertod bedroht waren, die nicht
bereit waren, die ihnen auferlegten Bedingungen in Bezug auf ihre
Arbeit und ihre soziale Existenz zu akzeptieren.


Jeder, der nicht bereit war, diese Bedingungen anzunehmen, sah
sich der Gefahr, verhungern zu müssen, ausgesetzt, und zwar sogar
dann, wenn keine anderen Gewaltmaßnahmen gegen ihn angewandt
wurden. Das während des größten Teils der vergangenen und der
gegenwärtigen Menschheitsgeschichte vorherrschende Prinzip lautet
(im Kapitalismus genau wie in der Sowjetunion): „Wer nicht
arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Diese Drohung zwang den
Menschen, nicht nur so zu handeln, wie von ihm verlangt wurde,
sondern auch so zu denken und zu fühlen, dass er nicht einmal in
Versuchung geriet, sich anders zu verhalten.


Dass die Geschichte auf dem Prinzip der Angst beruht, verhungern
zu müssen, hat seine Ursache letzten Endes darin, dass der Mensch
- von bestimmten primitiven Gesellschaften abgesehen - auf einem
wirtschaftlich wie psychologisch niedrigen Existenzniveau lebte.
Es waren niemals ausreichend materielle Güter vorhanden, mit
denen man die Bedürfnisse aller hätte befriedigen können.
Gewöhnlich war es so, dass eine kleine Führungsschicht alles an
sich nahm, was ihr Herz begehrte, und dass man den vielen, die
sich nicht an einen gedeckten Tisch setzen konnten, sagte, es sei
Gottes Wille oder das Gesetz der Natur. Hierzu ist allerdings zu
bemerken, dass das Ausschlaggebende dabei nicht die Habgier der
„Regierenden“, sondern das niedrige Niveau der materiellen
Produktivität war.


Ein garantiertes Einkommen, das im Zeitalter des
wirtschaftlichen Überflusses möglich wird, könnte zum ersten Mal
den Menschen von der Drohung des Hungertods befreien und ihn auf
diese Weise von wirtschaftlicher Bedrohung wahrhaft frei und
unabhängig machen. Niemand müsste sich mehr nur deshalb auf
bestimmte Arbeitsbedingungen einlassen, weil er sonst befürchten
müsste, er würde verhungern. Begabte oder ehrgeizige Männer und
Frauen könnten die Ausbildung wechseln, um sich damit auf einen
anderen Beruf vorzubereiten; eine Frau könnte ihren Ehemann, ein
Jugendlicher seine Familie verlassen. Die Menschen hätten keine
Angst mehr, wenn sie den Hunger nicht mehr zu befürchten
brauchten. (Dies trifft natürlich nur dann zu, wenn
keine politischen Drohungen den Menschen am freien Denken, Reden
und Handeln hindern.)


Das garantierte Einkommen würde nicht nur aus dem
Schlagwort „Freiheit“ eine Realität machen, es würde auch ein
tief in der religiösen und humanistischen Tradition des Westens
verwurzeltes Prinzip bestätigen, dass der Mensch unter allen
Umständen das Recht hat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung
und Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung usw. ist ein
dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen Umständen
eingeschränkt werden darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob
der Betreffende für die Gesellschaft „von Nutzen ist“.


Der Übergang von einer Psychologie des Mangels zu einer des
Überflusses bedeutet einen der wichtigsten Schritte in der
menschlichen Entwicklung. Eine Psychologie des Mangels erzeugt
Angst, Neid und Egoismus (was man auf der ganzen Welt am
intensivsten in Bauernkulturen beobachten kann). Eine Psychologie
des Überflusses erzeugt Initiative, Glauben an das Leben und
Solidarität. Tatsache ist jedoch, dass die meisten Menschen
psychologisch immer noch in den ökonomischen Bedingungen des
Mangels befangen sind, während die industrialisierte Welt im
Begriff ist, in ein neues Zeitalter des ökonomischen Überflusses
einzutreten. Aber wegen dieser psychologischen
„Phasenverschiebung“ sind viele Menschen nicht einmal imstande,
neue Ideen wie die eines garantierten Einkommens zu begreifen,
denn traditionelle Ideen werden gewöhnlich von Gefühlen bestimmt,
die ihren Ursprung in früheren Gesellschaftsformen haben.


Eine weitere Auswirkung des garantierten Einkommens in Verbindung
mit einer wesentlich verkürzten Arbeitszeit für alle wäre sicher,
dass die geistigen und religiösen Probleme des menschlichen
Daseins real und bestimmend würden. Bisher war der Mensch mit
seiner Arbeit zu sehr beschäftigt (oder er war nach der Arbeit zu
müde), um sich ernsthaft mit den Problemen abzugeben: „Was ist
der Sinn des Lebens?“, „Woran glaube ich?“, „Welche Werte
vertrete ich?“, „Wer bin ich?“ usw. Wenn er nicht mehr
ausschließlich von seiner Arbeit in Anspruch genommen ist, wird
es ihm entweder freistehen, sich ernsthaft mit diesen Problemen
auseinanderzusetzen, oder er wird aus unmittelbarer oder
kompensierter Langeweile halb verrückt werden. Prinzipiell kann
der wirtschaftliche Überfluss die Befreiung von der Angst vor dem
Hungertod, den Übergang von einer vormenschlichen zu einer
wahrhaft menschlichen Gesellschaft kennzeichnen.


Um ein ausgeglichenes Bild zu bieten, sollte man aber
auch einige Einwände gegen diese Vorstellung von einem
garantierten Einkommen für alle und kritische Fragen nicht außer
Acht lassen. Die nächstliegende Frage lautet, ob ein garantiertes
Einkommen nicht die Arbeitsmotivation beeinträchtigen
würde.


Ganz abgesehen davon, dass bereits heute für einen ständig
wachsenden Teil unserer Bevölkerung überhaupt keine Arbeit
vorhanden ist und dass daher die Frage der Arbeitsmotivation für
diese Menschen nicht relevant ist, sollte man diesen Einwand
trotzdem ernst nehmen. Meines Erachtens kann man zeigen, dass der
materielle Anreiz keineswegs das einzige Motiv ist, um zu
arbeiten und sich anzustrengen. Erstens gibt es auch noch andere
Motive - wie z. B. Stolz, soziale Anerkennung, Freude an der
Arbeit selbst usw. An Beispielen hierfür fehlt es nicht. Am
deutlichsten sieht man es an der Arbeit des Wissenschaftlers, des
Künstlers usw., deren hervorragende Leistungen nicht vom
finanziellen Gewinn, sondern von verschiedenen Faktoren motiviert
sind: vor allem vom Interesse an seiner Arbeit, vom Stolz auf die
eigene Leistung und dem Streben nach Anerkennung. Aber so
augenfällig diese Beispiele auch sein mögen, so sind sie doch
nicht völlig überzeugend, weil man sagen könnte, diese
Ausnahmemenschen seien zu solchen außergewöhnlichen Anstrengungen
eben deshalb fähig, weil sie so außergewöhnlich begabt seien, und
sie seien deshalb keine typischen Beispiele für die Reaktion des
Durchschnittsmenschen. Mir scheint dieser Einwand jedoch nicht
stichhaltig, wenn wir uns die Antriebe zur Aktivität bei Menschen
näher ansehen, welche diese Eigenschaften des außergewöhnlichen,
kreativen Menschen nicht besitzen. Welche Anstrengungen werden im
Bereich des Sports und vieler Hobbys aufgeboten, wo keinerlei
materielle Anreize gegeben sind. In welchem Ausmaß  das
Interesse am Arbeitsprozess selbst ein Antrieb zur Arbeit sein
kann, hat zuerst Professor Mayo in seiner klassischen
Untersuchung in den Chicagoer Hawthorne-Werken der „Western
Electric Company“ nachgewiesen (E. Mayo, 1933). Allein die
Tatsache, dass man ungelernte Arbeiterinnen bei dem Experiment,
das ihre Arbeitsproduktivität betraf, selbst heranzog und sie
durch ihre Beteiligung zu interessierten, aktiven Teilnehmern
wurden, führte zu einer höheren Produktivität, ja sogar zu einem
besseren Gesundheitszustand.


Das Problem wird noch deutlicher, wenn wir uns ältere
Gesellschaftsformen einmal genauer ansehen. Die Tüchtigkeit und
Unbestechlichkeit der traditionellen preußischen Beamten war
berühmt, obwohl sie sehr schlecht bezahlt wurden; in diesem Fall
waren Begriffe wie Ehre, Treue und Pflichterfüllung die
entscheidenden Antriebe zu guten Arbeitsleistungen. Betrachten
wir vorindustrielle Gesellschaften (wie zum Beispiel die
mittelalterliche europäische Gesellschaft oder die halbfeudalen
Gesellschaften zu Anfang unseres Jahrhunderts in Lateinamerika),
so taucht noch ein anderer Faktor auf. In diesen Gesellschaften
wollte beispielsweise ein Zimmermann nur so viel verdienen, dass
er sich das leisten konnte, was zu seinem traditionellen
Lebensstandard gehörte. Er hätte sich geweigert, mehr zu arbeiten
und zu verdienen, als er brauchte.


Ein zweites Argument dafür, dass der Mensch nicht nur aus
materiellem Anreiz arbeiten und sich anstrengen will, ergibt sich
aus der Tatsache, dass der Mensch unter den Folgen von
Untätigkeit leidet und eben gerade nicht von Natur aus träge ist.
Sicher würden viele Leute gerne für ein oder zwei Monate nicht
arbeiten. Die allermeisten würden aber dringend darum bitten,
arbeiten zu dürfen, selbst wenn sie nichts dafür bezahlt bekämen.
Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung und über
Geisteskrankheiten liefern eine Fülle Daten hierfür. Es sollte
unbedingt eine systematische Untersuchung gemacht werden, bei der
alle verfügbaren Daten unter dem Aspekt „Trägheit als Krankheit“
analysiert würden.


Wenn nun Geld nicht der Hauptanreiz ist, müsste doch die Arbeit
in ihren technischen oder gesellschaftlichen Aspekten so
attraktiv und interessant sein, dass man sie eher in Kauf nehmen
würde als Untätigkeit. Der moderne, entfremdete Mensch ist (meist
{179} unbewusst) apathisch und sehnt sich daher mehr nach
Nichtstun als nach Betätigung. Diese Sehnsucht ist jedoch ein
Symptom unserer „Pathologie der Normalität“. Vermutlich würde der
Missbrauch des garantierten Einkommens nach kurzer Zeit wieder
verschwinden, genauso wie auch die Leute, wenn sie für
Süßigkeiten nichts zu bezahlen brauchten, sich nach ein paar
Wochen nicht mehr daran überfressen würden.


Ein weiterer Einwand lautet: Wird es den Menschen wirklich freier
machen, wenn er keine Angst vor dem Verhungern mehr zu haben
braucht, wenn man bedenkt, dass Menschen mit einem guten
Einkommen vermutlich genauso viel Angst haben, ihre Stelle zu
verlieren, die ihnen im Jahr 15 000 Dollar einbringt, wie die,
welche hungern müssten, wenn sie ihren Job verlieren würden. Wenn
dieser Eindruck richtig ist, würde das garantierte Einkommen die
Freiheit der Mehrheit, jedoch nicht die Freiheit der oberen
Schichten vergrößern.


Um diesen Einwand ganz zu begreifen, müssen wir bedenken, von
welchem Geist unsere heutige Industriegesellschaft erfüllt ist.
Der Mensch hat sich in einen homo consumens verwandelt. Er ist
unersättlich und passiv und versucht seine innere Leere mit einem
ständigen, stets wachsenden Konsum zu kompensieren. Es gibt viele
klinische Beispiele für diesen Mechanismus, bei dem übermäßiges
Essen, Kaufen und Trinken eine Reaktion auf Depression und Angst
ist. Konsumiert werden Zigaretten, Schnaps, Sex, Filme, Reisen,
Bildungsgüter wie Bücher, Vorlesungen, Kunst. Der Mensch macht
den Eindruck, als sei er aktiv und höchst angeregt, in seinem
tiefsten Innern ist er jedoch erfüllt von Angst, ist er einsam,
deprimiert und gelangweilt. (Langeweile kann als jene Art
chronischer Depression begriffen werden, die man erfolgreich mit
Konsum kompensieren kann.) Die Industriegesellschaft des
zwanzigsten Jahrhunderts hat diesen neuen psychologischen Typ,
den homo consumens, in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen
geschaffen, d. h. um des notwendigen Massenkonsums willen, der
durch die Werbung stimuliert und manipuliert wird. Aber der
einmal geschaffene Charaktertyp beeinflusst seinerseits wieder
die Wirtschaft und läßt das Prinzip der ständig zunehmenden
Befriedigung vernünftig und realistisch erscheinen. Das Problem
wird dadurch noch komplizierter, dass mindestens zwanzig Prozent
der amerikanischen Bevölkerung in unzureichenden Verhältnissen
leben, dass einige Länder Europas, vor allem die sozialistischen,
noch keinen befriedigenden Lebensstandard erreicht haben und dass
der größte Teil der Menschheit in Lateinamerika, Afrika und Asien
kaum über dem Hungerniveau existiert. Jedes Argument, das sich
für einen geringeren Konsum einsetzt, wird mit dem Gegenargument
beantwortet, dass in den meisten Teilen der Welt der Konsum noch
gesteigert werden müsse. Dies ist richtig; doch besteht die
Gefahr, dass selbst in den heute noch armen Ländern das Ideal des
maximalen Konsums richtungweisend für alle Anstrengungen wird,
dass es den Geist der Menschen formen und daher auch weiterhin
wirksam sein wird, wenn das optimale Konsumniveau bereits
erreicht ist.


Mit den ökonomisch orientierten Forschungsarbeiten auf dem Gebiet
des garantierten Einkommens für alle müssen auch noch andere
Forschungen betrieben werden: psychologische, philosophische,
religiöse und erziehungswissenschaftliche. Der große Schritt zu
einem garantierten Einkommen wird meiner Meinung nach nur Erfolg
haben, wenn Veränderungen in anderen Bereichen mit ihm Hand in
Hand gehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass das garantierte
Einkommen nur zustande kommen kann, wenn wir aufhören, zehn
Prozent unseres Gesamteinkommens für die wirtschaftlich nutzlose
und gefährliche Rüstung auszugeben, wenn wir der Ausbreitung
sinnloser Gewalttätigkeiten dadurch Einhalt gebieten, dass wir
die unterentwickelten Länder systematisch unterstützen, und wenn
wir Mittel und Wege finden, der Bevölkerungsexplosion Einhalt zu
gebieten. Ohne diese Wandlungen wird kein Plan für die Zukunft
gelingen, weil es keine Zukunft geben wird.

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