Folge 34 - Schlechte Zeit für Lyrik, Neue Naturdichtung (Bertolt Brecht, Erich Fried)

Folge 34 - Schlechte Zeit für Lyrik, Neue Naturdichtung (Bertolt Brecht, Erich Fried)

25 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

Darf ein Autor über die Natur schreiben, wenn die Welt
dringendere Themen bereithält? Kann ein Autor oder eine Autorin
ruhigen Gewissens ein Naturidyll beschreiben oder gibt es nicht
geradezu eine Pflicht, sich politischen und
gesellschaftskritischen Themen zuzuwenden? Das sind die Fragen,
die Brecht und Fried in diesen beiden Texten umtreiben.
Nichtsdestotrotz enthalten sie auch naturlyrische Beobachtungen,
die den Autoren als Kontrastfolie dienen, um ihre jeweiligen
Anliegen zu begründen.





Bertolt Brecht


Schlechte Zeit für Lyrik (1939)


Ich weiß doch: nur der Glückliche
Ist beliebt. Seine Stimme
Hört man gern. Sein Gesicht ist schön.


Der verkrüppelte Baum im Hof
Zeigt auf den schlechten Boden, aber
Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel
Doch mit Recht.


Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes
Sehe ich nicht. Von allem
Sehe ich nur der Fischer rissiges Garnnetz.
Warum rede ich nur davon
Daß die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht?
Die Brüste der Mädchen
Sind warm wie ehedem.


In meinem Lied ein Reim
Käme mir fast vor wie Übermut.


In mir streiten sich
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch.








Erich Fried


Neue Naturdichtung (1972)


Er weiß daß es eintönig wäre
nur immer Gedichte zu machen
über die Widersprüche dieser Gesellschaft
und daß er lieber über die Tannen am Morgen
schreiben sollte
Daher fällt ihm bald ein Gedicht ein
über den nötigen Themenwechsel und über
seinen Vorsatz
von den Tannen am Morgen zu schreiben


Aber sogar wenn er wirklich früh genug aufsteht
und sich hinausfahren läßt zu den Tannen am Morgen
fällt ihm dann etwas ein zu ihrem Anblick und Duft?
Oder ertappt er sich auf der Fahrt bei dem Einfall:
Wenn wir hinauskommen
sind sie vielleicht schon gefällt
und liegen astlos auf dem zerklüfteten Sandgrund
zwischen Sägemehl Spänen und abgefallenen Nadeln
weil irgendein Spekulant den Boden gekauft hat


Das wäre zwar traurig
doch der Harzgeruch wäre dann stärker
und das Morgenlicht auf den gelben gesägten Stümpfen
wäre dann heller weil keine Baumkrone mehr
der Sonne im Weg stünde. Das
wäre ein neuer Eindruck
selbsterlebt und sicher mehr als genug
für ein Gedicht
das diese Gesellschaft anklagt

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