Folge 71 - Politische Lyrik (Bürger, Gellert, Fontane, Grass)

Folge 71 - Politische Lyrik (Bürger, Gellert, Fontane, Grass)

48 Minuten

Beschreibung

vor 7 Monaten

Wie funktionieren politische Texte? Was sind ihre Strategien? Das
wird in dieser Folge an 4 Beispielen gezeigt.





Die ersten beiden Texte sind von Gottfried August Bürger (der
Bauer an seinen durchlauchtigen Tyann) und Christian Fürchtegott
Gellert (das Kutschpferd). Ich kann sie hier leider nicht
vollumfänglich zitieren, da die Shownotes auf 4000 Zeichen
begrenzt sind.


Dafür aber im Folgenden die anderen beiden Texte in ganzer Länge:





Theodor Fontane


Berliner Republikaner (um 1841)
     Berliner Jungen scharten sich
Vor einiger Zeit allabendlich
Nicht weit vom Kupfergraben
Und sangen gottserbärmlich:


„Wir brauchen keenen Kenig nich,


Wir wollen keenen haben!“
     Da endlich packt ein
Fußgendarm
Nicht eben allzuzart am Arm
Den allergrößten Jungen,


Und spricht: „He, Bursch, juckt dir das Fell,


Du Tausendsapperments-Rebell?
Was hast du da gesungen?“
     Doch der Berliner comme il
faut
Erwidert: „Hab Er sich nicht so,


Und laß Er sich begraben;


Wozu denn gleich so ängstiglich,
Wir brauchen keenen Kenig nich,
Weil wir schon eenen haben!“





Günter Grass


Was gesagt werden muss (2012)


Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.


Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
einer Atombombe vermutet wird.
Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten -
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?
Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er mißachtet wird;
das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig.
Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,
ein weiteres U-Boot nach Israel
geliefert werden soll, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe
dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,
doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,
sage ich, was gesagt werden muß.
Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.
Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir - als Deutsche belastet genug -
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.
Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.
Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
und letztlich auch uns zu helfen.

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