Wozu freie Rituale? Jürg Fassbind

Wozu freie Rituale? Jürg Fassbind

Verlieren wir an Bodenhaftung, wenn wir uns immer mehr in virtuellen Umgebungen bewegen? Und können Rituale helfen, uns zu erden? Ein Gespräch mit dem Ritualexperten Jürg Fassbind über Dauerbeschleunigung, die Kunst des Unterbrechens und das Aushalten von
51 Minuten

Beschreibung

vor 3 Wochen
Ich bin Jürg Fassbind in einem spirituellen Zentrum begegnet. Wir
stellten fest, dass uns das Interesse an Meditation, neuen
spirituellen Formen und die Aufgeschlossenheit gegenüber
christlicher Mystik verbindet. Das aktuelle Buch «Rituale in Teams
und Organisationen. Innehalten – Verbinden – Transformieren» des
Organisationsberaters und Ritualfachmanns nahm ich als Anlass für
ein Gespräch, das ihr hier als Podcast nachhören könnt. Jürg
Fassbind stellt fest, dass heute viele Menschen, aber auch
Organisationen von Veränderung zu Veränderung stolpern: «Die
Menschen arbeiten in virtuellen Räumen, sind eigentlich gar nicht
mehr im Alltag fix miteinander in Kontakt. Und das kann wirklich
dazu führen, dass man sich nicht mehr wirklich orientieren kann im
Alltag. Und dass man vor lauter Veränderung gar nicht mehr weiss,
wo man steht.» Freie Rituale sind ein neues kreatives Feld. Ein
Höhepunkt des Austausches für mich war, als mir der Ritualexperte
erklärt, welche Rituale Kirchen helfen könnten. Kirchen und
Glaubensgemeinschaften sehen sich traditionell als Begleiter von
Trauerprozessen. Angesichts von Mitgliederschwund brauchen sie aber
selbst Trost. Der freie Ritualexperte meint, Kirchen müssten
vielleicht eine Weile die Leere aushalten, anstatt sie mit
Aktivismus und Innovationen zu füllen. Fünf Himmel und Erdung
Einsichten aus dem Gespräch mit Jürg Fassbind: 1. Rituale sind
bewusste Übergänge – keine Automatismen. Ein Ritual braucht
Aufmerksamkeit. Es hebt das Alltägliche für einen Moment heraus. So
wird das Fensteröffnen zur Begrüssung des Tages. 2. Freie Rituale
entstehen, wenn alte Formen verblassen. Sie holen das Heilige ins
Leben von Menschen ohne festen Glaubensbezug. Manchmal sind sie
aber auch der Anfang von Glauben, wenn man darunter tiefes
Vertrauen versteht. 3. Innehalten ist eine soziale Technik. Rituale
lassen nicht aus dem Alltag flüchten, sie unterbrechen ihn. Sie
schaffen Orientierung, holen das Ich zurück ins Wir, machen Wandel
spürbar und Zeit erfahrbar. In Organisationen sind sie ein
Gegengewicht zur Dauerbeschleunigung. 4. Wachstum verläuft
zyklisch. Das Lebensrad symbolisiert: Auf Frühling und Sommer
folgen Herbst und Winter. Nur wer loslässt, kann neu beginnen.
Rituale helfen, dieses Werden und Vergehen zu würdigen – im Leben
wie bei der  Arbeit. 5. Rituale erfordern Verantwortung. Sie
können verbinden oder ausschliessen, heilen oder vereinnahmen. Ein
achtsames Ritual öffnet, statt zu kontrollieren. Seine Kraft liegt
in der Haltung, nicht in der Form. Zu meinem Gast: Jürg Fassbind
ist systemischer Organisationsberater, Coach und Ritualfachmann mit
eigener Praxis in Bern, Schweiz. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in
der Begleitung von Menschen und Organisationen in
Veränderungsprozessen und Übergängen. Er ist Lehrbeauftragter an
der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit und Dozent an der
Fachschule für Rituale. 

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

15
15