Der Tätowierer

Der Tätowierer

Dirk Schreiber überfiel Menschen, verschleppte sie und tätowierte sie gegen ihren Willen. Er hielt sich für einen Künstler. Playlist: Easy Rider – The Pusher – BY-NC-ND Martin Auer – Der Tätowierer 1 – BY-NC-SA Bruce Gremo – Cilian Developments – BY-NC...
57 Minuten

Beschreibung

vor 11 Jahren

Dirk Schreiber überfiel Menschen, verschleppte sie und tätowierte
sie gegen ihren Willen. Er hielt sich für einen Künstler.


Playlist:
Easy Rider – The Pusher – BY-NC-ND
Martin Auer – Der Tätowierer 1 – BY-NC-SA
Bruce Gremo – Cilian Developments – BY-NC-ND
Martin Auer – Der Tätowierer 2 – BY-NC-SA
Ergo Phizmiz – A Courtly Knees Up – BY-NC-SA
Kevin McLeod – Signation – BY
Der Tätowierer

F: Dirk Schreiber, Sie sind praktisch sofort nach Ihrer
Entlassung aus der Haftanstalt zur Eröffnung Ihrer ersten
Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum geflogen.


A: Ja, so war’s. Am Gefängnistor hat eine Limousine gewartet und
mich zum Flughafen gebracht.


F: Was war das für ein Gefühl? Einen so krassen Gegensatz erlebt
kaum jemand, der gerade aus dem Knast entlassen wird, und das
nach Verbüßung einer zehnjährigen Haftstrafe.


A: Ich weiß das nicht. Ich bin nur ein einziges Mal aus dem Knast
entlassen worden. Es war auch nicht so ein starker Gegensatz. Ich
hatte ja schon die ganzen Monate vorher die Ausstellung
vorbereitet, viel gemalt und gezeichnet, und dann das Hängen der
Bilder – das musste ich ja virtuell machen, am Computer, da ich
noch nicht vor Ort sein konnte. So war dann die Reise zur
Ausstellung nur der letzte logische Schritt, also nicht die große
Befreiung, sondern einfach die nächste Aufgabe, die sich mir
gestellt hat.


F: In der Ausstellung waren nur gemalte Bilder zu sehen? Keine
Tätowierungen?


A: Es waren auch einige Tonskulpturen dabei. Sonst nur
Acrylmalerei und Kohlezeichnungen. Ganz klassisch.


F: Und keine Tätowierungen?


A: Keine Tätowierungen.


F: Haben Sie in der Haft auch anderes getan als gemalt und
gezeichnet? Ich meine, haben Sie über die Taten nachgedacht, die
Sie in den Knast gebracht haben?


A: Sicherlich. Vor allem am Anfang, in den ersten Jahren.


F: Fanden Sie das Urteil gerecht?


A: Ob es gerecht war, kann ich bis heute nicht sagen. Aus einem
gewissen Blickwinkel heraus war es sicherlich verständlich. Ich
habe verstanden, dass die Richter nicht anders urteilen konnten,
ja. Ich bin wegen Freiheitsberaubung und schwerer
Körperverletzung in 28 Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt
worden, wovon man mir fünf Jahre erlassen hat wegen guter
Führung. Objektiv gesehen war es das wohl, Freiheitsberaubung und
so weiter. Objektiv gesehen waren das diese Delikte. Aber
subjektiv, muss ich sagen, subjektiv habe ich das getan, was
jeder Künstler tut: Ich bin meiner inneren Stimme gefolgt. Ich
habe getan, was ich tun musste.


F: Sie haben Menschen gegen ihren Willen tätowiert.


A: Ja.


F: Sie haben sie überfallen, betäubt, in ein Versteck verschleppt
und sie dort gefangen gehalten, bis die Tätowierung fertig war.


A: Ja.


F: Das Gericht hat diese Taten als Verbrechen angesehen, nicht
als Kunst.


A: Ja. Das war in der Kunstgeschichte schon oft so. Künstler sind
wegen Verstoß gegen die guten Sitten verurteilt worden, wegen
Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung, Wehrkraftzersetzung, wegen
konterrevolutionärer Umtriebe… Man hat Künstler auf dem
Scheiterhaufen verbrannt, ins KZ gesteckt, in die Irrenanstalt…


F: Wollen Sie damit sagen, dass man Sie wegen Ihrer Gesinnung
verurteilt hat?


A: Ich will damit sagen, wenn man als Künstler neue Wege geht,
muss man damit rechnen, verfolgt zu werden.


F: Leugnen Sie, dass Sie Menschen großen Schmerz zugefügt haben?


A: Natürlich nicht. Schmerz zufügen liegt in der Natur des
Tätowierens. Die Tätowierung war immer ein Zeichen: Seht her, ich
habe Schmerz ertragen, ich kann das aushalten. Früher, als man
noch nicht so hygienisch gearbeitet hat wie heute, hat sie
natürlich auch bedeutet: Seht her, ich habe eine gute
Konstitution, ein gutes Immunsystem, ich habe kein Wundfieber
bekommen, keine Tetanusinfektion, was weiß ich. Unbewusst
natürlich. Und das ist noch heute so. Man könnte ja eine
Tätowierung auch unter lokaler Betäubung machen. Aber das wäre
eine Farce. Und kein Mensch verlangt sowas. Die Menschen sind
immer zu mir gekommen, um sich Schmerz zufügen zu lassen.


F: Aber doch freiwillig.


A: Ja, die Menschen, die ins Tattoo-Studio kommen, kommen
freiwillig. Aber wie oft ist man unfreiwillig der Kunst oder
irgend einem Medium ausgesetzt. Man geht durch die Fußgängerzone,
und da spielt ein Straßenmusiker. Man geht durch ein Kaufhaus und
wird mit Musik berieselt. Sie fahren mit dem Auto und werden mit
Plakaten bombardiert, mit Leuchtreklamen, mit Videowänden. Das
alles stürmt auf Sie ein und Sie müssen sich damit
auseinandSersetzen, ob Sie wollen oder nicht. Sie gehen in eine
Kinopremiere und Sie wissen nicht, welchen Schockeffekten Sie
ausgesetzt sein werden. Hinterher müssen Sie vielleicht kotzen.
War das jetzt freiwillig? Im vorigen Jahrhundert haben
Schauspieler eine Theaterform entwickelt, „unsichtbares Theater“.
Die haben an der Bushaltestelle einen Ehestreit angefangen oder
etwas in der Art und haben die Passanten da hineinverwickelt und
wollten den Leuten damit Inhalte in Bezug auf die Emanzipation
der Frau vermitteln oder so was, und die Leute waren dem
ausgesetzt und waren sich gar nicht bewusst, dass sie Kunst
erleben oder sogar Teil eines Kunstwerks sind. So gesehen kann
man sagen, ich habe den Menschen ein Erlebnis vermittelt, eine
extreme Erfahrung, die sie vielleicht auch weitergebracht hat.
Eine Art Katharsis, ein heilsamer Schrecken.


F: Sie haben sich also von Anfang an als Aktionskünstler gesehen?


A: Nicht von Anfang an. Am Anfang war es die reine Verzweiflung.
Am Anfang wollte ich einfach nur gute Tattoos machen. Sehen Sie,
diese ganzen Schnörkel und Arabesken, die sich die Leute so
stechen lassen – das ist ja schrecklich. Das ist grauenhafter
Kitsch. Ich rede gar nicht von den Tigern und Herzen und
Totenköpfen. Auch das abstrakte Zeug, die chinesischen
Schriftzeichen, die keltischen Runen, die Arschgeweihe, das ist
ja zum Speien. Ich wollt einfach nur gute Tattoos machen,
spontan, nicht nach einer Vorlage, wo die Leute sich was aus
einem Katalog aussuchen, sondern ganz spontan, vom Körper
inspiriert, von der Haut, von den Reaktionen auf die Nadeln.
Einfach irgendwo anfangen und spüren, wo es hingeht, auf Grund
der Reize, die vom Tätowierten zurückkommen, den unwillkürlichen
Muskelspannungen, den Lauten, die er oder sie von sich gibt, in
einen echten Dialog treten, sich gemeinsam auf ein Abenteuer
einlassen. Vielleicht, wenn ich die richtigen Leute gekannt
hätte, Leute aus der Szene, wie sie jetzt zu mir kommen, Leute
mit Kunstverstand, ich hätte nie zu so radikalen Mitteln
gegriffen. Heute, heute kommen Leute zu mir, Künstler,
Schriftsteller, Musiker, die sagen: „Meister, mach mit mir, was
du willst!“ Und ich sage ihnen: „Nicht was ich will. Was wir
beide wollen.Wir beide werden dieses Abenteuer bestehen, wir
beide werden versuchen, dieses Kunstwerk zu schaffen. Und wir
beide werden siegen – oder untergehen.“ Und ich sage ihnen offen:
„Es kann schiefgehen. Wir können scheitern. Das Tattoo wird
vielleicht der größte Scheiß der Weltgeschichte, und dann stehst
du da damit! Es gibt keine Erfolgsgarantie.“ Und die Leute sind
geil auf das Risiko. Sie lassen sich darauf ein, sie zahlen im
Voraus, sie unterschreiben einen Wisch, dass sie von vornherein
mit dem Ergebnis einverstanden sind und auf jedes Rechtsmittel
verzichten, und dann arbeiten wir zusammen, frei, in dieser
wortlosen Kommunikation von Nadeln und Tusche und Körperspannung.
Er spürt auf der Haut, was vor sich geht, den Schmerz der
Einstiche, die Hitze der Entzündung, und ich bekomme alles von
ihm zurück durch meine Hand, die seine Haut unter Spannung hält,
ich spüre die Reaktionen seines oder ihres Körpers, und so
arbeiten wir zusammen, wie im Rausch, und so entsteht – meistens
– ein Kunstwerk.


Aber damals: „Mach mir dies, mach mir das! Mach mir einen
Dornenring um den Oberarm, mach mir Stacheldraht auf den Hals,
mach mir ein Arschgeweih, einen Tiger, eine Mondgöttin!“ Wenn ich
einem Kunden vorgeschlagen habe: „Komm, lass uns was Freies
machen, was Spontanes, was Niedagewesenes!“, dann haben sie
gesagt: „Au ja, super, zeichne mir mal einen Entwurf!“ Aber genau
das wollte ich eben nicht machen. Aus dem musste ich einfach
ausbrechen.


F: Hätten Sie es nicht gleich mit der Malerei versuchen können,
mit der Sie jetzt so großen Erfolg haben?


A: Das hätte nie geklappt. Wer war ich denn? Ein No-name. Ich
hatte keine Kunstschule besucht, keine Meisterklasse, ich hatte
keine Beziehungen zu irgendwelchen Galerien, ich kannte keine
Kritiker. Mir war klar, ich muss etwas Unerhörtes machen, etwas
Ungeheuerliches. Zuerst habe ich daran gedacht, Leichen zu
tätowieren. Ich habe übers Internet Menschen gesucht, die bereit
waren, mir ihren Körper nach ihrem Tod zu vermachen. Die wollte
ich dann tätowieren und die Leichen haltbar machen und
ausstellen.


F: Das klingt nach Gunther von Hagens.


A: Richtig. Von da kommt die Idee der Plastination. Auch noch
eine andere Inspiration war da. Ich dachte, wenn man übers
Internet jemand finden kann, der bereit ist, sich töten und essen
zu lassen, dann muss es um so eher möglich sein, jemand für mein
Projekt zu finden. Und es haben sich auch Leute gemeldet.


F: Aber…?


A: Es haben schließlich mehrere Gründe gegen dieses Projekt
gesprochen. Da war einmal die ungewissen Wartezeit. Dann ist das
Tätowieren einer Leiche ja auch ein Widerspruch in sich. Der Tote
spürt nichts. Und zum Tätowieren gehört eben der lebendige
Schmerz. Einen Toten könnte man genausogut anmalen und mit
farblosem Lack überziehen. Das wäre kein wesentlicher
Unterschied. Ein Unterschied in der künstlerischen Technik, aber
kein Unterschied im Wesen. Auch aus diesem Grund bin ich wieder
von der Idee abgekommen. Aber der entscheidende Grund war: Die
Leute, die sich gemeldet haben – auch die wollten einen Entwurf
sehen. Oder sie wollten mir überhaupt Vorschriften machen, mit
welchen Motiven ich sie tätowieren sollten und in welcher Pose
sie nach ihrem Tod ausgestellt werden wollten: Als Ninja in
Angriffsposition oder als Ritter mit erhobenem Schwert oder als
Mondgöttin. Genau das Zeug, das sie sich im Leben gern hätten
stechen lassen, aber nicht getraut haben, das wollten sie dann im
Tod darstellen. Widerlich.


F: Für die Form der Aktion, zu der Sie sich dann letztlich
entschlossen haben, gab es da auch ein Vorbild, eine Inspiration?


A: Unmittelbares Vorbild natürlich nicht. Denn ich musste ja
etwas machen, was noch niemand gemacht hatte. Aber die
Inspiration, die kam im Grunde von den Graffitikünstlern, von den
Sprayern. Die sind ja auch immer mehr von statischen auf mobile
Untergründe übergegangen. Statt der Eisenbahnunterführung haben
sie zum Beispiel Eisenbahnwaggons als Ziel ihrer Aktionen
genommen. Damit haben sie sozusagen eine Lokomotive vor ihre
Botschaft gespannt, die die Botschaft überall ins Land gebracht
hat. Oder sie haben ihre Initialen auf LKW-Planen gesprüht. Ich
habe eine Zeitlang überlegt, private PKWs zu besprühen.


F: Ein fast so schlimmer Tabubruch wie der, den Sie dann begangen
haben.


A: Ja, das mussten Sie jetzt sagen. Als Pointe ist das ganz gut,
aber in Wahrheit ist den meisten Menschen doch die eigene Haut
noch ein gutes Stück näher als der Lack ihres Autos.


F: Und damit haben Sie spekuliert.


A: In dem Moment, wo mir die Idee bewusst wurde, war mir klar,
dass ich damit eine ungeheure Aufmerksamkeit erzielen würde. Und
das ist es, was man als Künsteler will: man will, man muss
einfach wahrgenommen werden. Bevor man sich ausdrücken kann,
bevor man in Dialog treten, kommunizieren kann, muss man
wahrgenommen werden.


F: Man könnte ihre Aktion dann als grausamen Reklamegag abtun.


A: Bei meiner ersten Aktion war, ich muss das eingestehen, die
Reklame das vorherrschende Motiv. Der Effekt hat sich aber erst
beim dritten Fall eingestellt. Dem ersten hat man nämlich gar
nicht geglaubt. Es war ein junger Mann, ein holländischer Student
auf Ferienreise, und der war von niemandem vermisst worden. Es
hatte keine Abgänigkeitsanzeige gegeben. Als der dann zur Polizei
ging und meldete, ein schwarz maskierter Mann hätte ihn in einer
Zelle gefangen gehalten und ihm gegen seinen Willen ein Tatoo
gestochen, hat man die Anzeige zwar entegengenommen, aber weiter
nicht viel unternommen. Weil das Tattoo so ungewöhnlich war,
haben die Polizisten das einfach für ein schlechtes Tattoo
gehalten, für ein misslungenes, und haben gedacht, der hat sich
die Entführungsgeschichte ausgedacht, weil er sich für das Tattoo
schämt. Auch die Medien haben ähnlich gedacht und den Fall nur in
den Randnotizen im Lokalteil gebracht, aks Kuriosum, wenn
überhaupt.


F: Waren Sie enttäuscht?


A: Mir war klar, dass sich der Effekt erst nach und nach
einstellen kann. Als zweite Zielperson habe ich eine Frau
gewählt, so Mitte dreißig. Anna S. Die Arbeit mit ihr war sehr
interessant. Sie hatte am Anfang große Angst, schreckliche Angst.
Und sie hat mir auch Leid getan. Ich glaube, dass viel von diesem
Mitleid, diesem Mitgefühl in die Linienführung mit eingeflossen
ist. Ich habe ihren Schmerz und ihre Angst an die Oberfläche
geholt, ihr innerstes Gefühl auf ihrer Haut eingezeichnet. Und
dann, nach einiger Zeit, hat sich die Beziehung gewandelt. Sie
hat einfach ein paar Tage gebraucht um zu verstehen, dass ich
kein Perverser bin, dass ich sie nicht sexuell missbrauchen oder
töten will. Am Anfang musste ich sie für die Arbeit fesseln, aber
später ist sie sehr ruhig geworden. Wenn ich mit dem Tagespensum
fertig war – ich habe ja nicht mehr als zweieinhalb Stunden jeden
Tag mit ihr gearbeitet – dann ist sie ganz still da gesessen und
hat aufmerksam jede einzelne Linie sozusagen Millimeter für
Millimeter mit den Augen abgesucht, so als ob sie versucht hätte,
eine Schrift zu entziffern, als ob sie versucht hätte, sich
selbst zu entziffern. Sie hat mich auch um einen zweiten Spiegel
gebeten, um ihren Rücken und ihren Nacken sehen zu können. Das
Interessante war, dass sie mich beinahe wieder um den
Bekanntheitseffek gebracht hätte. Sie ist nämlich nicht zur
Polizei gegangen. Sie hat das Tattoo unter ihrer Bekleidung
versteckt. Und ihrem Mann hat sie gesagt, sie kann sich nicht
erinnern, was geschehen ist, sie hat vielleich einen Unfall mit
Gehirnerschütterung gehabt, verbunden mit Gedächtnisausfall. Ihr
Mann hat natürlich zuerst an eine Affäre gedacht und dann an eine
Psychose. Und als sie dann wirklich einmal einen Ohnmachtsanfall
hatte, hat er den Notarzt gerufen und sie ins Spital bringen
lassen, und da hat man dann die Tätowierung gesehen. Die Anzeige
hat dann er erstattet.


F: Und was, meinen Sie, war der Grund für die Zurückhaltung der
Frau? War da nicht doch eine Art Liebesbeziehung entstanden?


A: Es entsteht zweifellos eine sehr starke Beziehung. Aber das
hat nichts mit Liebe oder Hass zu tun oder mit Sexualität. Es
gibt dafür einfach kein Wort, keine Bezeichnung, weil vermutlich
nur wenige Menschen so etwas jemals erleben, deshalb gibt es auch
keinen allgemein verständlichen Begriff dafür. Ich hatte
keinerlei sexuelle Begierden dieser Frau gegenüber, und ich bin
ziemlich sicher, dass sie sie auch nicht mir gegenüber hatte. Sie
hat sich zu der ganzen Sache nie öffentlich geäußert, sie hat
Interviews und Fotos immer abgelehnt. Ich glaube, dass sie sehr
froh war, als ich ihr angekündigt habe, dass die Arbeit nun
vollendet war und ich sie freilassen würde. Aber gleichzeitig
habe ich doch auch gespürt, dass sie enttäuscht war, dass das
Abenteuer nun vorbei war, dass wir uns trennen mussten. Es war
sicher beides vorhanden. Vielleicht wäre sie ja später auch zur
Polizei gegangen, vielleicht hat sie einfach diese Zeit
gebraucht, um mit sich ins Reine zu kommen, um sich klar zu
werden, was eigentlich geschehen war. Ich glaube, wir haben
ungefähr zehn Tage zusammen verbracht, es war schon eine recht
komplexe Arbeit.


F: Aber Ihnen hat die Trennung nichts ausgemacht?


A: Oh doch. Für mich war die Trennung von meinem Gegenüber auch
immer hart. Aber es hat ja keinen Sinn, die Beziehung über das
ihr bestimmte Maß hinaus fortzusetzen. Und das Maß ist eben die
Vollendung des Werks. Irgendwann kommt der Punkt – auch wenn man
anfangs keine Vorstellung hat von dem, was entstehen soll –
irgendwann kommt der Punkt, wo man weiß, das ist es jetzt. Jede
zusätzliche Linie wäre zuviel. Und dann muss man aufhören. Dann
muss man sich trennen. Und dieses Wissen, dieses Gefühl von der
Notwendigkeit der Trennung, das habe natürlich nur ich gehabt.
Meine Partner wussten das nicht, konnten es nicht wissen, weil
sie zwar Partner waren, aber doch in gewisser Weise passive
Partner. Ich war der aktive, der wissende Teil. Vielleicht war es
für mich leichter. Meine Objekte mussten annehmen, dass sie mich
nie mehr wiedersehen würden, es sei denn, vor Gericht. Ich aber
konnte hoffen, ihren Weg weiter verfolgen zu können durch die
Medien. Ich konnte hoffen, im Grunde damit rechnen, dass sie für
mich weiter tätig sein würden, dass sie meinen Ruf verbreiten
würden, dass sie, wo immer sie hinkamen, von meiner Tätigkeit
künden mussten. Andererseits, muss ich sagen, haben sie etwas von
mir mitgenommen, jeder und jede hat etwas Einzigartiges von mir
mitbekommen auf Lebenszeit, während mir nur die Erinnerung
bleibt.


F: Wie ist es weitergegangen?


A: Mein dritter Versuch war künstlerisch gesehen ein absoluter
Misserfolg. Ich hatte mir für diesen Versuch ein junges und sehr
hübsches Mädchen ausgesucht, ich glaube, sie war achtzehn. Sie
hat leider nichts, aber auch gar nichts verstanden, weder
intellektuell noch gefühlsmäßig. Sie war genau der Typ, der sonst
zu mir um ein Arschgeweih oder eine Mondgöttin gekommen wäre. Als
sie über den ersten Schock hinweg war, hat sie mich nur
beschimpft, sich beklagt, dass ich ihren makellosen Körper
verunstalte, dass mein Tattoo absolut wertlos sei und so weiter.
Ich musste sie schließlich knebeln, um die Arbeit halbwegs
fertigstellen zu können und es ist wirklich nichts besonderes
draus geworden. Es hat einfach ihre Mitarbeit völlig gefehlt.


F: Aber von der Publicity her gesehen war das Ihr erster großer
Erfolg.


A: Von der Publicity her war es ein großer Erfolg. Natürlich. Sie
war hübsch, ein gefundenes Fressen für die Fotografen, und, wie
man so sagt, eine absolute Medienschlampe. Und damit ist
natürlich jetzt der Hype losgegangen. Jetzt ist auch der Polizei
klargeworden, dass da ein Serientäter am Werk ist, man hat sich
auch an den holländischen Studenten wieder erinnert und ihn noch
einmal einvernommen. Man hat auch Kunstsachverständige und
Profiler herangezogen, erstens um festzustellen, ob es wirklich
in allen drei Fällen derselbe Täter war, und dann eben, um
irgendwelche Hinweise auf die Person, auf den Charakter zu
bekommen. Und die Sachverständigen haben die Öffentlichkeit damit
überrascht, dass sie erklärt haben – also vor allem Diane
Waterhouse war da führend – nicht nur, dass es sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit um denselben Täter handelt, sondern auch,
dass, bei allen Vorbehalten gegen die gewaltsame und
menschenverachtende Vorgangsweise, man den Arbeiten einen
gewissen künstlerischen Gehalt nicht absprechen könne. Jetzt
haben sich die Medien natürlich überschlagen, und die kleine Göre
und der holländische Student sind zusammen in Talkshows
aufgetreten und gewisse Illustrierte haben die beiden schon als
Paar kolportiert.


Für mich war natürlich jetzt die Frage, was mach ich als
nächstes. Mir war klar, die Medien warten darauf, wer wird das
nächste Opfer. Und sie haben natürlich damit gerechnet, dass es
wieder jemand sein wird mit einem gewissen Sexappeal. Das wollte
ich unterlaufen. Zuerst habe ich mir gedacht, als nächstes nehme
ich einen widerlichen, alten Fettsack. Mal sehen, was ihr daraus
macht. Ab jetzt war das eben ein Spiel mit den Medien. Aber das
hat mir doch selber wiederstrebt. Ich meine, ich hätte nichts
gegen einen dicken Menschen gehabt, das habe ich später auch
bewiesen. Aber ich wollte eben keinen widerlichen alten Fettsack,
das ist schon ein Unterschied. Ich habe mich dann für einen
kleinen, sehr adretten älteren Herrn entschieden, der mir eines
Tages in Köln aufgefallen ist. Ich habe mir ja für jedes Projekt
eine andere deutsche Stadt ausgesucht, einerseits, um mein
eigenes Risiko zu minimieren, andererseits, um den
Publicityeffekt zu erhöhen.


F: „Ganz Deutschland hält den Atem an“ war wirksamer als „Ganz
Berlin hält den Atem an“.


A: Richtig. Meine erste Aktion war in Berlin gewesen. Berlin,
München, Darmstadt, und jetzt eben Köln. Das war die Route bis
dahin. Der Mann nun, er ist als Joachim R. bekannt geworden, mit
ihm war das eine unglaubliche Arbeit. Er war überhaupt nicht
schockiert. Er hat alles mit der größen nur denkbaren Ruhe
hingenommen. Er war der erste, bei dem ich bis ins Gesicht
gegangen bin und bis in die Fingerspitzen. Er hat sehr wenig
gesprochen, und das war mir recht so. Aus Worten entstehen nur
Missverständnisse. Ein Muskelzucken ist einfach eine Tatsache,
und ein Stich in die Haut ist auch eine Tatsache. In der Kunst
geht es viel weniger um Bedeutungen als um Tatsachen. Erst
nachdem unsere Arbeit schon beendet war, erst nachdem ich ihm den
Zeitpunkt seiner Freilassung bekanntgegeben habe, hat er mir
gesagt, dass er Jude ist. Und dass er deshalb einen besonderen
Bezug zu Tätowierungen habe. Sie wissen, die Geschichte mit den
Lampenschirmen. Und seiner Mutter hatte man eine Nummer in den
Unterarm tätowiert. Und dass es ihm als gläubigem Juden verboten
sei, sich tätowieren zu lassen, weil der Körper ein Geschenk
Gottes sei, das man nicht verändern dürfe. Und als ich daraufhin
das Tattoo betrachtete – er ist noch nackt vor mir gesessen, als
er das erzählt hatte, ganz ruhig, und hat eine Zigarette geraucht
– da war alles das in dem Tattoo enthalten. Es war alles drin und
er hatte es mir schon längst erzählt und ich hatte es nach seinem
Diktat in seine Haut geritzt. Dieser kleine Mann – er war ein
unbedeutender Antiquitätenhändler, er hatte es hauptsächlich mit
Biedermeiergläsern und Jugendstildrucken zu tun – er verstand
etwas von Kunst. Er hat alles erfasst. Er ist zu Diane Waterhouse
gefahren, hat sein Hemd ausgezogen und sie gefragt: „Was bin ich
wert?“ Und sie hat ihm einen Schätzwert gesagt. Sie hat ihm eine
Summe in Dollar genannt und gesagt: Das ist das Minimum. Und er
hat gesagt: Gut, jetzt weiß ich es, und hat sein Hemd wieder
angezogen. Aber das war von ihm nicht dieser jüdische
Krämergeist. Das war von ihm eine Aktion, das war seine Aktion.
Er hat sein Hemd nämlich nie wieder vor jemandem ausgezogen. Das
war seine Antwort an mich. Und ich musste das hinnehmen. Diane
Waterhouse hat über die Geschichte natürlich einen riesigen
Artikel im New Yorker geschrieben, bei jeder Vernissage hat sie
die Geschichte erzählt, wie der kleine Jude zu ihr kommt und sich
schätzen lässt.


Jetzt hatte ich, was ich wollte. Jetzt hatte ich internationale
Pulbicity, die Aufmerksamkeit der Kunstwelt. Ganz klar, dass
jetzt die Polizeifotos von Anna S. und Joachim R. den Weg in die
Öffentlichkeit gefunden haben, neben denen von Arne und Jessica,
die sich ja sowieso bei jeder Gelegenheit vor die Kamera gestellt
haben. Sie können mir glauben, noch nie ist in der Fachwelt so
viel über einen Künstler diskutiert worden, von dem überhaupt
erst vier Werke bekannt waren. Und ich dachte, ich muss jetzt
weitermachen. Es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen
aufzuhören oder mich vielleicht zu stellen um irgendwie von
meinem Ruhm, den ich jetzt schon hatte, profitieren zu können.
Nein, ich dachte nur, okay, ich bin auf dem richtigen Weg, ich
muss das so weitermachen, ich muss mich weiterentwickeln, aber
auf genau diesem Weg, den ich nun einmal eingeschlagen hatte.
Meinen nächsten Coup machte ich in Italien. Einfach, weil alle
meinten, ich würde mir wieder eine neue deutsche Stadt aussuchen.
Aber ich machte es in Venedig, genau zur Zeit der Biennale.


F: War das nicht ein bisschen plump?


A: Das war sogar sehr plump, aber ich bin damit durchgekommen.
Und zwar aus dem einfachen Grund, weil man sich unsicher war, ob
das jetzt ich war oder ein Neuer. Man hatte den nächsten Schlag
in Deutschland erwartet, und jetzt kam er in Italien. Es hatte
anlässlich der Biennale diese Diskussion gegeben, warum es in der
bildenden Kunst keine Ismen mehr gibt, keine Gruppierungen, keine
Schulen. Warum heutzutage jeder seine eigene Schule gründet, aber
keiner ein Schüler oder Mitstreiter sein will. Und man hat
gewitzelt, endlich ist es einem gelungen, eine Schule zu gründen,
Nachahmer zu finden. Nach Impressionismus, Expressionismus,
Surrealismus und so weiter gäbe es jetzt in der Kunst den
Terrorismus. Und wieder mussten die Experten aufgeboten werden um
festzustellen, ob es sich um eine Schülerarbeit oder um den
Meister selbst handle. Interessanter Weise meinten ein oder zwei
Experten tatsächlich, es sei ein Nachahmer am Werk. Es gab doch
verschiedene Nuancen, die anders waren. Das kam aber daher, dass
mein Ojekt ein algerischer Flüchtling war, mit dem ich überhaupt
keine sprachliche Verständigungsmöglichkeit hatte. Das hatte doch
einen Unterschied gemacht, obwohl ich glaube, dass ich die Arbeit
im großen und ganzen recht gut gemacht habe.


F: Und dann haben Sie wieder in Berlin zugeschlagen.


A: Ja, wenn Sie so wollen. Ich dachte, jetzt gehe ich zurück nach
Berlin, das erwartet keiner. Aber ich hatte mich getäuscht. Als
mein Objekt – eine einfache Hausfrau, Tatjana F. – aus der
Betäubung erwachte, sagte sie: „Ach, Sie sind der Tätowierer.“
Ich habe mit ihr nur eine mittelmäßige Arbeit zustande gebracht,
die auch von der Kritik entsprechend bewertet worden ist, obwohl
diese Tatjana sich gebärdet hat wie ein Pfau. Und die Bild hat
getitelt: „Willkommen daheim!“. In der zitty haben damals Leute
Kleinanzeigen geschaltet: „Hallo Tätowierer, ich gehe jeden
Freitag nach 23 Uhr in der und der Straße spazieren, bin blond,
mittelgroß und trage eine knallrote Latexhandtasche.“ Ich bin
aufs Land ausgewichen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt,
Bayern. Zwischendurch Abstecher nach Luxemburg, nach Österreich,
nach Portugal. Ich musste einfach weitermachen, bis ich gefasst
wurde. Ich wusste, dass das das Ergebnis sein würde. Eines Tages
würde man mich fassen, mir den Prozess machen, mich einsperren.
Anders konnte es nicht sein. Aber ich durfte es den Behörden
nicht zu leicht machen, ich durfte nicht darauf hinarbeiten. Ich
musste ehrlich spielen, mein Bestes geben.


Damals begannen die Leute in die Studios zu laufen und zu
verlangen: „Mach mir auch sowas!“ Das ist sicher der Satz, den
ein Tätowierer am häufigsten hört: „Mach mir auch sowas!“


Viele haben natürlich Angst gehabt, dass man sie dann für den
Tätowierer halten wird, oder sie haben abgelehnt, weil sie den
Stil nicht verstanden haben. Aber einige hatten instinktiv
begriffen, worum es mir gegangen war, und haben ihren Kunden
gesagt: „Ich mach dir was, aber du musst dich mir ausliefern, du
musst mir vertrauen, und es wird ganz anders aussehen, weil ich
ich bin und nicht der.“ Aber das wollten die Kunden nicht, die
wollten nicht an einem Kunstwerk teilhaben, die wollten einfach
nur so aussehen, als ob sie bei mir in Gefangenschaft gewesen
wären. Das war das Eklige, es sind dann wirklich diese
Imitationen rumgelaufen, manche direkt von den Polizeifotos oder
den Illustriertenfotos runterkopiert.


Und da haben dann Diane Waterhouse und Franco Caselli
eingegriffen und haben die erste Ausstellung organisiert, mit
Vergrößerungen der Fotos und mit Live-Auftritten. Von den 12
echten Arbeiten von mir, die es damals schon gegeben hat, waren
sieben bereit teilzunehmen. Und sie haben den ganzen Vorgang sehr
klug analysiert, haben eine echte Interpretation meiner Kunst
gegeben. Ich bin ja an sich kein Freund der Kunstinterpretation.
Wenn das Kunstwerk nicht unmittelbar wirkt, dann hilft auch die
Interpretation nicht. Das ist so wie bei einem Witz. Wenn man ihn
nicht versteht und man kriegt ihn erklärt, dann lacht man
trotzdem nicht mehr darüber. Aber hier war das notwendig, wegen
der vielen Imitationen, die in Umlauf gekommen sind. Und da war
viel meinen Zielpersonen zu danken. Waterhouse hat sehr
einfühlsam mit ihnen gesprochen. In den Talkshows, da wurden sie
ja immer nur nach dem Sensationellen gefragt, wie war der
Überfall, wie war die Gefangenschaft, haben sie Angst gehabt.
Waterhouse ist auf den künstlerischen Prozess eingegangen. Die
Menschen haben dann berichet, was sie auf ihrer Haut erlebt
haben, sie haben wirklich diese Körpererlebnisse geschildert, die
sich ja eigentlich gar nicht in Worte fassen lassen, außer in so
plumpe, dass es halt wehgetan hat. Das ist das Verdienst von
Waterhouse, dass sie das aus ihnen herausgeholt hat. Für mich war
das erschütternd. Ich habe nur den Film gesehen, der damals
gedreht wurde, ich war nicht dort. Es war ja klar, dass man alle,
die da hinkommen, genau unter die Lupe nehmen würde, von der
Polizei her. Ich bin nicht hingegangen, aus Vorsicht, aber alle
haben angenommen, dass ich doch sicher im Publikum sein werde,
und ich habe das dann im Film gesehen, dass meine Ziepersonen
manchmal solche Seitenblicke ins Publikum geworfen haben, als
wollten sie sich von mir, der dort irgendwo unerkannt sein würde,
eine Bestätigung holen. Für mich war das wirklich erschütternd.


Es ist dann in der Kunstwelt eine große und ernsthafte Debatte
gelaufen, ob das korrekt war, was Waterhouse gemacht hat, ob es
erlaubt ist, das, was ich mache, als Kunstwerk zu diskutieren.
Waterhouse und Caselli haben natürlich nie den kriminellen Aspekt
verleugnet oder heruntergespielt, aber sie haben betont, dass es
eben trotz allem Kunst sei und auch unter diesem Blickwinkel
betrachtet werden müsse. Andere haben gesagt, man darf einfach
nicht Menschen zu Objekten degradieren, man darf nicht einfach
einen Menschen so behandeln, als ob er nur eine aufgespannte
Leinwand wäre. Dem haben sie entgegnet, dass ich das ja nicht
tue, dass ich mich ja intensiv mit meinen Zielpersonen
auseinandersetze, und dass das in der Arbeit ja auch sichtbar
werde, und meine Zielpersonen haben das auch bestätigt. Und sie
haben auch gesagt, dass der kriminelle Aspekt untrenntbar mit dem
künstlerischen verbunden sei, dass das Kunstwerk wegen der
kriminellen Art seiner Entstehung ein ganz anderes Kunstwerk sei
als wenn es von vornherein im gegenseitigen Einverständnis
entstanden wäre.


F: Dass das Kunstwerk so eine ganz andere Aussage bekommt?


A: Diesen Ausdruck haben sie zum Glück nie gebraucht. Ein
Kunstwerk hat keine Aussage, die man von ihm abtrennen kann. Ein
Kunstwerk ist. Einen Dichter hat man einmal, nachdem er ein
ziemlich langes Gedicht rezitiert hat, gefragt, was er mit dem
Gedicht sagten wollte. Er hat darauf geantwortet: „Was ich mit
diesem Gedicht sagen will, ist folgendes:“ und dann hat er das
Gedicht noch einmal rezitiert. Und als er dann später diese
Anekdote erzählt hat, hat er hinzugefügt: „Und dabei hat es gar
nicht gestimmt. Denn beim zweiten Mal war es schon ein ganz
anderes Gedicht.“ Es war derselbe Text, aber ein anderes Gedicht.


Und Waterhouse hat auch ganz klar herausgearbeitet, dass es bei
meinen Kunstwerken primäre und sekundäre Empfänger gibt. Dass die
primären Empfänger eben meine Zielpersonen seien, die an der
Entstehung unmittelbar beteiligt seien. Diejenigen aber, die
hinterher das Tattoo sehen, seien sekundäre Empfänger, die ein
ganz anderes Kunstwerk erleben, oder besser einen ganz anderen
Aspekt des Kunstwerks. Sie hat gemeint, der Unterschied sei
ungefähr so, wie wenn ein Komponist für einen Monarchen ganz
allein die Uraufführung einer Oper veranstalten und der Monarch
dann später seinen Freunden und Bekannten die Arien vorpfeifen
würde. Und sie hat auch klargemacht, dass das Kunstwerk eben
nicht an der Hautoberfläche endet, sondern dass alles dazu
gehört, die Arbeit der Polizei, die Berichte der Medien, die
Angst, die sich verbreitet hat, vor allem am Anfang, diese
generelle Verunsicherung, aber auch dann eben die Nachahmung, die
plötzliche Geilheit der Leute, selbst als Opfer des Tätowierers
dazustehen. All das, sagte sie, können man nicht von den Bildern
auf der Haut trennen, und ohne das wären die Bilder auf der Haut
etwas ganz anderes, als was sie jetzt seien.


F: Wurden Sie an den Einspielergebnissen der Ausstellung und des
Films beteiligt?


A: Nein, ich habe nie einen Groschen davon gesehen. Ich habe auch
keine Forderungen gestellt, ich hätte das kaum einklagen können.
Die juristischen Implikationen wären freilich hoch interessant
gewesen, allein schon die Frage, wer nun eigentlich die Rechte an
der Wiedergabe und Vervielfältigung des Werks habe. Ich glaube,
es wurde sogar eine juristische Dissertation über den Fall
geschrieben, von der Urheberrechtsseite her, aber ich habe sie
nicht gelesen.


F: Die Ausstellung hatte aber noch Folgen.


A: Ja, die Ausstellung hatte Folgen. Jetzt traten tatsächlich
Nachahmer auf den Plan, die sich meine Methode zu eigen gemacht
hatten, zumindest äußerlich. Es waren auch einige wirkliche
Künstler darunter, Marcel Gummer zum Beispiel, der leider sehr
schnell gefasst wurde, oder Patrick M., den man bis heute nicht
erwischt hat, oder Serafine, die auch immer noch auf freiem Fuß
ist. Aber es es waren auch einige brutale Nichtskönner dabei,
echte Trittbrettfahrer, die nur darauf aus waren, die Leute zu
schocken und zu quälen. Und manche haben dann noch Geld verlangt.
Die haben tatsächlich ihre Opfer hinterher angerufen und gesagt:
„He, du bist jetzt ein Kunstwerk, was zahlst du dafür?“ Natürlich
haben die nichts gekriegt, und viele sind auch deswegen erwischt
worden. So hat das ganze bald wieder abgenommen, weil es im
Grunde ja sehr riskant ist, sehr viel Arbeit macht und nichts
einbringt.


F: Sie haben allerdings noch andere Nachahmer gefunden, die bis
heute tätig sind.


A: Ja, das ist leider richtig. Indirekt geht das wohl auf mein
Konto. Bei gewissen Jugendbanden ist das eine Mode geworden, das
Branding. Man überfällt irgend jemanden, reißt ihm die Kleider
vom Leib und drückt ihm ein Brandzeichen auf. Dann lässt man die
Person wieder laufen. Hier geht es aber nicht um Kunst. Das sind
reine Machtdemonstrationen. Welche Bande ist stärker, welche
Bande kann mehr Menschen ihr Siegel aufdrücken. Die betrachten
diese Menschen dann als ihr Eigentum, als ihre Herde. Sie
veröffentlichen sogar Bulletins auf ihren Webseiten: Unsere Herde
zählt schon 35 Stück, wieviel zählt eure? Die haben sich das zu
eigen gemacht und es auf ihre Art abgewandelt, so dass es schnell
geht, direkt auf der Straße, die machen die Brandeisen direkt auf
der Straße heiß, mit einer Lötlampe. Aber das andere, das was ich
gemacht habe, das geduldige, einfühlsame Tätowieren, das ist
abgekommen, weil es eben nichts einbringt.


F: Ihnen hat es aber auf die Dauer doch etwas eingebracht.


A: Ja, weil ich der erste war, weil ich konsequent war, und weil
ich gut bin. Wenn ich nicht gut wäre, wäre alles nur ein
Publicitygag und man hätte mich schnell vergessen.


F: Sind Sie sich dessen sicher?


A: Nein. Ich sage das, weil ich es glauben muss. Ich könnte den
Gedanken nicht ertragen, dass auch ein Scharlatan mit meiner
Methode hätte Erfolg haben können. Nämlich dauerhaften Erfolg,
der auch zehn Jahre später noch anhält. Das wäre schrecklich. Das
würde ich nicht aushalten.

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