Wie Literatur Krisen und Kriege vorhersagen soll

Wie Literatur Krisen und Kriege vorhersagen soll

Romane sind die "Eingeweideschau in die inneren Strukturen eines Landes", sagt der deutsche Literaturwissenschafter Jürgen Wertheimer. Wer genau liest, könne in die Zukunft schauen
40 Minuten
Podcast
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Der STANDARD-Podcast über das Leben und die Welt von morgen

Beschreibung

vor 2 Jahren
Kassandra ist eine tragische Figur in der Mythologie. Die Tochter
des trojanischen Königs Priamos und Schwester von Hektor und Paris
war von überwältigender Schönheit gesegnet, weshalb ihr der Gott
Apollon die Gabe der Weissagung schenkte. Auch Apollon selbst
verliebte sich in Kassandra. Als diese jedoch seine Liebe nicht
erwidert, verfluchte er sie: Fortan sollte niemand ihren
Weissagungen Glauben schenken. Kassandra sah das Unheil durch das
trojanische Pferd voraus, blieb jedoch unerhört. Bis heute werden
solche Warnungen als Kassandrarufe bezeichnet. Für den deutschen
Literaturwissenschafter Jürgen Wertheimer ist Kassandra Warnung und
Inspiration zugleich. Warnung deshalb, weil wir auch heute nicht
viel besser darin geworden seien, auf die Kassandras unserer Zeit
zu hören – also auf Menschen, die laut Wertheimer in der Lage sind,
gesellschaftliche und politische Entwicklungen sehr gut zu
beobachten und zu analysieren – und frühzeitig auf die Warnungen zu
reagieren. Inspiration, weil Kassandra Namensgeberin und
Ausgangspunkt für ein Projekt war, das nicht nur für Wertheimer
selbst, sondern wohl auch für viele Beobachter anfangs wie eines
der gewagtesten und verrücktesten Unterfangen innerhalb der
Zukunftsforschung erschien. Das Ziel: Krisen und Konflikte mithilfe
von Literatur frühzeitig zu erkennen. Knapp vier Jahre lang
untersuchten Wertheimer und sein Team in Zusammenarbeit mit dem
deutschen Verteidigungsministerium Romane. "Wir schauen uns die
Eingeweide einer Kultur an, lesen Subtexte, schauen, welche
Emotionen die Texte in der Bevölkerung auslösen. Literatur ist ein
großes Teleskop, das uns ermöglicht, ins Innere von Menschen zu
schauen", sagt Wertheimer im STANDARD-Podcast "Edition Zukunft".
Diese Literatur-Analyse soll – ähnlich wie Seismographen –
Strukturen herauslesen, die Krisen, Konflikte oder Kriege in
unterschiedlichen Regionen der Welt wahrscheinlich machen: Welche
Feindbilder und Mythen werden in einer Gesellschaft konstruiert?
Welche Rolle spielen Religionen? Wie wird der Sinn der Worte
verfälscht, welche Begriffe werden annektiert? Daraus entstehen
Prognosen, die in der Lage sind, Konflikte ein bis drei Jahre im
Voraus vorherzusehen, sagt Wertheimer. Und was tun mit diesen
Informationen? "Damit können wir die sich aufbauenden verlogenen
Mythen bereits im Anfang kommunikativ zerstören", sagt Wertheimer.
Was er damit meint: Mithilfe von Sprache lässt sich medial eine
Gegenbotschaft erzeugen, die deeskalierend wirkt, noch bevor es zu
einem Konflikt oder Krieg kommt. Im Podcast spricht Wertheimer
außerdem darüber, was seine Forschung zu den aktuellen
Entwicklungen in Afghanistan zu sagen hat, wer seiner Meinung nach
die Kassandras von heute sind und wie sich die Erkenntnisse künftig
auch für Europa nutzen lassen.

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