Podcaster
Episoden
06.02.2022
1 Stunde 5 Minuten
„mein ‚Ich‘ ist überhaupt nichts Gewagtes! ich stelle es
lediglich mit aller Sorgfalt dar! … mit tausend
Vorsichtsmaßnahmen! … ich bedecke es stets vollständig und auf
die behutsamste Art und Weise mit Scheiße!“
Das schrieb Louis-Ferdinand Céline in seinem schmalen Buch
„Gespräche mit Professor Y“. Ein Band, der noch am ehesten als so
etwas wie eine Poetologie durchgehen könnte.
2021 ist „Tod auf Raten“, die Neuübersetzung von „Mort a credit“
erschienen. Hinrich Schmidt-Henkel hat erstmals den zweiten Roman
von Céline vollständig übersetzt. Die erste Übersetzung, unter
dem Titel „Tod auf Kredit“ war deutlich schmaler. Zuerst ist der
Roman 1936 herausgekommen, vier Jahre nach dem Debüt „Reise ans
Ende der Nacht“, mit dem Céline damals schlagartig berühmt
geworden ist. So hat niemand zuvor die französische Sprache auf
Touren gebracht. Mit dem zweiten Buch lieferte Céline nun einen
stark autofiktionalen Roman hinterher, der von Kindheit und
Jugend seines Alter Ego Ferdinand erzählt. Nur ein Jahr später
veröffentlichte Céline die erste seiner extrem antisemitischen
Hetzschriften, die „Bagatelles pour un massacre“.
Grund genug, der Frage - wie wird man Nazi - auf den Grund zu
gehen.
Diese Frage hat maßgeblich das Werk des deutschen
Kulturtheoretikers Klaus Theweleit bewegt, der in diesen Tagen 80
Jahre alt wird. 1977/78 erschien seine bahnbrechende, monumentale
Untersuchung „Männerphantasien“ über die Entstehung des
faschistischen Mannes. Als Theweleit 2021 den Adorno-Preise
erhielt, sagte er in seiner Preisrede, dass ihn schon früh, aus
den Erfahrungen in seiner eigenen Familie heraus, die Frage
bewegt hat: „wie kann man Deutscher sein?“
Die Frage nach dem Nazi-Werden, nach der Dynamik von Kunst- und
Machtpol, vor allem in der Literatur, hat Theweleit dann von 1988
an in seinem nächsten großen Werk untersucht, dem auf vier Bände
angelegten „Buch der Könige“. Darin geht es um Gottfried Benn,
Ezra Pound, Knut Hamsun, Franz Kafka, Sigmund Freud und viele
andere mehr. „Eh man sich dazu äußert,“ schreibt Theweleit
einmal, „was eine Figur wie Benn gesucht, gewollt und gemacht hat
am Nazi-Pol, muss man beschreiben, zwischen welchen Polen sie
sich sonst bewegte, beschreiben, wo und was diese waren um 1930,
beschreiben, was der Kunst-Pol ist, was man da macht, was man
dazu braucht, sich dort aufhalten zu können“. Der vierte Band
sollte sich hauptsächlich mit Louis-Ferdinand Céline
beschäftigen. Diesen Band wird es nicht mehr geben. Also habe ich
für diese letzte Folge in „Ränder. Theorien der Literatur“
versucht, im Gespräch mit Klaus Theweleit wesentliche Punkte
seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Céline aufzusuchen.
Wir haben über Kotze und Scheiße ebenso gesprochen, wie darüber,
was Frauen wie Astrid Lindgren, Patricia Highsmith oder Else
Lasker-Schüler anders gemacht haben als all diese Männer.
Das war die letzte Episode der zweiten Staffel. Ob es weitergeht,
ist momentan noch nicht zu sagen.
Gerade ist die erste Staffel dieser Vorlesung als Buch
erschienen: „Theorien der Literatur“ im Universitätsverlag
Hildesheim, als erster Band von „Theorie & Praxis“, der neuen
Schriftenreihe des Literaturinstituts Hildesheim. Überall im
Buchhandel erhältlich, 222 Seiten für 10 Euro. Die
kostenlose elektronische Fassung dieses Bandes findet sich
hier.
Ich bedanke mich bei allen meinen Gesprächspartner:innen, die
diese Vorlesung, diesen Podcast überhaupt erst ermöglicht haben.
Bei: Clemens Setz, Karosh Taha, Rasha Khayat, Ulf Stolterfoht,
Katerina Poladjan, Abdalrahman ALqalaq, Shida Bazyar, Nava
Ebrahimi, Georg Klein, Olga Grjasnowa, Mithu Sanyal, Dagmara
Kraus, Khesrau Behroz und Klaus Theweleit.
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26.01.2022
43 Minuten
„Ich schlage alle Warteschlangen aus, laufe in den Schneisen, die
Du schlägst. Das ist der einzige Weg. - Ich schäme mich. In dieser
Stadt hängt der Segen schief. Doch in meinen Erinnerungen ist Kabul
so weiß. Du bist mir in das Kranke nhaus gefolgt. - Ich habe mich
nur hingesetzt, wo niemand saß, hielt eine Hand, die niemanden
hielt. - Weil ich mich verloren hatte in ärmlichen Gedanken.“
Seit knapp einem Jahr postet Khesrau Behroz auf seinem
Instagram-Kanal Prosa-Fragmente, die seinem langjährigen
Romanprojekt entnommen sind.
Khesrau Behroz, geboren in Kabul (Afghanistan), arbeitet als
Journalist und Autor. Er entwickelt und produziert
journalistische Formate als Co-Gründer und -Geschäftsführer der
neuen Berliner Produktionsfirma Undone.
Er ist Host und Produzent des Podcasts Noise und hat als Autor,
Host und Producer Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen? gemacht.
Behroz ist zudem Mitherausgeber und Chefredakteur des
Gesellschaftsmagazins ROM. Er studierte Vergleichende
Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, der Freien
Universität Berlin und der New York University.
Wir haben über Wahrheit gesprochen und wie relativ sie zu
persönlichen und auch sozialen und historischen Veränderungen
aussehen kann. Wir haben über seine Aufsehen erregenden Podcasts
gesprochen, über das Was und vor allem das Wie des akustischen
Erzählens. Aber zunächst ging es um seinen schon fast legendären
Roman.
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19.01.2022
1 Stunde 5 Minuten
„drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind
kau die an der kruste hier muskeln an, nimm“
So heißt es in Dagmara Kraus’ jüngstem Gedichtband liedvoll,
deutschyzno, der 2021 bei kookbooks erschienen ist.
liedvoll, deutschyzno moja
1
millionen flüchtige wörter stehen an
der grenze zu diesem gedicht
die beine in den bauch sich
schlange an der grenze
dunkle wörter, dunkle fremde
suchen nach zuflucht, wollen hier wohnen
verjaschmakt, betschadort, da warten
mummen von jenseits der pole
es sind welche von ungarn gekommen
zupełnie niedeutschałe słowa
drängen sich hier in die futura
ręce błagają, bebeten die grenzen
deine, deutschyzno moja
2
aber was soll ein gedicht mit den millionen
flüchtigen wörtern nur anfangen
es könnte mit ihnen kickern gehen
schlägts kickern vor
sie einladen zu bier, püree und kohlrouladen
oder mal ne reise machen an ein schönes wort
und ihnen die gegend zeigen, gegend
es könnte millionen wörter einfach schweigen
und müsste jetzt nicht gründeln, mörtel, münze
wrack und wub erleiden, schlackern, lecker
mords- und mergel - wiesz
es könnte wieder flippern wie am rastplatz
weil die zeit lang wird
und mit der tinka auffe kirmes gehn
sich in die zukunft sehen lassen
vom pinken clafoutisschafott im pelz
es könnte schützenfest und adlerschuss verpassen
und an der lippe laufen, wo die mimik hüpft
dann am frühen winkelwasser
in schnöden reimen kurz verschnaufen
auch könntes doch ins olle haus
das haus am halben mond 1iehen
und dem fallmann hin und wieder
den fadengang von buche andiktieren
(er soll ihn immer mit zwei fingern nachfahren)
dabei könntes aus dem kickern 'skern
und all den kiciuśkitsch entfernen
und stattdessen andere wörter weiden
vielleicht fremde wörter heimen
raffig, diese flüchtigen, mehrbarwigen
die völkerball in föderalen hallen spielen
- aber millionen
abermillionen
doch bleibts bloß ein kern am kitsch
beim kern am kitsch
3
abgeschoben ausgespuckt
da ist etwas kleinstes blaurosa
gepuckt, wie ein taubenschluck
leise weints mitten im pulk
wo sind denn die aus dem morgenland
die drei worte mit den gaben
nix myrrhe hier
her mit dem schwarz-rot-gold
wörter aus dem buch der könige
hocken im containerdorf: umfwörter
aus saba, noch milchschorf im haar
labern babel
Über diese Sprachen haben wir gesprochen, über das Anfangen, über
Lektüren und wir haben gesprochen über den Zusammenhang von
Übersetzen und Schreiben wir sind bei Emilie Cioran gelandet,
über den Dagmara Kraus einst wissenschaftlich gearbeitet hat, bei
den Plansprachen, um die es auch schon in der ersten Folge dieses
Podcasts, im Gespräch mit Clemens Setz ging.
Wir sind den Verfahren nachgegangen, mit denen Dagmara Kraus
schreibt, dem Material, dem flüsternd lauten Schreiben.
Dagmara Kraus hat Komparatistik und Kunstgeschichte in Leipzig,
Berlin und Paris studiert sowie Literarisches Schreiben
am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2012 veröffentlichte
sie bei kookbooks ihren Debütband kummerang. Im
selben Jahr erschienen unter dem Titel Wir
Seesterne ihre Übersetzungen von Gedichten Miron
Białoszewskis. Zahlreiche Lyrikbände und Übersetzungen sind
seitdem gefolgt. Seit 2021 ist sie Juniorprofessorin
für literarisches Schreiben an der Universität
Hildesheim.
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12.01.2022
49 Minuten
„Herzlichen Glückwunsch, du bist ein Kinder-Überraschungsei:
Nichts könnte sweeter und überraschender sein als du.“ Das ist
mein Ergebnis des Tests „Wie braun bist Du?“, den man auf der
Seite machen kann, die der Hanser Verlag zu Mithu Sanyals Roman
Identitti eingerichtet hat. Allerdings habe ich den Test gemacht,
nachdem ich das Buch gelesen und damit vermutlich geschummelt
habe.
Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren und ist
Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin.
2009 erschien ihr Sachbuch Vulva. Das unsichtbare Geschlecht,
2016 Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens. 2021 nun kam also
ihr erster Roman Identitti, der auf der Shortlist des Deutschen
Buchpreises war und mit dem Literaturpreis Ruhr und dem
Ernst-Bloch-Preis 2021 ausgezeichnet wurde.
Saraswati ist weiß. Das kommt heraus und ist für die meisten
ihrer Anhänger:innen ein Skandal. Denn Saraswati ist Professorin
für Postcolonial Studies und gilt als Koryphäe im
Identitätsdiskurs. Insbesondere ihre Studentin Nivedita, die auch
unter dem Namen Identitti einen Blog führt, wird in große
Verwirrung gestoßen.
Identitti ist ein heiterer Roman, dem es auch um Theorien geht,
aber es ist kein Diskursroman. Ob Saraswati weiß ist oder nicht,
ist eigentlich egal. Wichtig ist, ob das, was Nivedita bei ihr
lernt, eine Bedeutung hat - oder nicht. Wir sprechen darüber,
dass wir nicht darauf warten müssen, dass jemand perfekt ist, um
von ihr oder ihm lernen zu können. Und gleichzeitig, dass es
nicht egal ist. Wir sprechen darüber, wie integrieren geht ohne
Demütigung. Was es heißt, eine Sprache für mixed race zu finden,
und dass diese Suche auch eine Frage der Form und der Sprache
ist. Dass wir hier sind, um Geschichten zu erzählen.
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05.01.2022
35 Minuten
„Vier Sprachen sind es wert, dass man sie auf der Welt gebraucht:
Griechisch für den Gesang, Latein für den Krieg, Syrisch für die
Klage und Hebräisch für die gewöhnliche Rede.“
Diesen Satz zitiert Olga Grjasnowa aus dem Talmud und wundert
sich über die deutsche Vorstellung von der Einsprachigkeit als
der einzig vorrstellbaren Lebensweise.
Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt: so
heißt der Essay, den Olga Grjasnowa 2021 veröffentlicht hat. 1984
wurde sie in Baku, Aserbeidschan geboren und hat bislang vier
Romane veröffentlicht. Ihr Debüt 2012 war der Roman Der Russe ist
einer, der Birken liebt und 2020 erschien der jüngste Roman Der
verlorene Sohn.
Anknüpfend an ein Gespräch, das ich 2020 mit Senthuran
Varatharajah geführt habe, in dem wir unter anderem auch über
Jacques Derridas Text Die Einsprachigkeit des Anderen gesprochen
haben, geht es nun um Realitäten der Mehrsprachigkeit und um die
merkwürdige Vorstellung, eine Sprache zu beherrschen. Wir
sprechen darüber, wie wichtig es ist, dass wir in Bezug auf die
Sprache weg von der Herkunftsperspektive kommen. Wie wichtig ein
Fach Weltliteratur in der Schule wäre. Wie die Realität längst
Selbstverständlichkeiten jenseits der Ideologien schafft. Wie das
literarische Schreiben und Mehrsprachigkeit zusammenhängen und
wie literarische Formen immer auch Übersetzungsleistungen sind.
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Über diesen Podcast
"In deinen Sätzen bist du an ihrem Rand" (Oskar Pastior). Schreiben
ohne Zentrum und fern vom Eigenen, sondern immer als das Andere.
Identitätsbegriffe, die nur von den Rändern her gelesen werden
können. Sätze am Rand der Sätze und die Konturen literarischer
Praxis als soziale Poetik. Ungehörte Stimmen, von jetzt, von
morgen, von vorgestern, Stimmen, ohne die uns Hören und Sehen
vergeht, erzählen von den Rändern her. Für eine andere Literatur,
für andere Literaturen und andere Theorien von Literatur, für ein
anderes Lesen und Schreiben.
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