Originalteile-Podcast – Folge #85 mit Manfred Schreiweis (Zeitzeuge der Bombennacht 1944 & Dachstein-Tragödie 1954)

Originalteile-Podcast – Folge #85 mit Manfred Schreiweis (Zeitzeuge der Bombennacht 1944 & Dachstein-Tragödie 1954)

Manfred Schreiweis erzählt von der Bombennacht, die Heilbronn zerstörte, von der Dachstein-Katastrophe, die seine Mitschüler das Leben kostete, und von einem Leben zwischen Deutschland, Belgien und Frankreich, das ihn lehrte: Man muss miteinander reden.
2 Stunden 28 Minuten
Podcast
Podcaster
Originalteile-Podcast ist der Leute-Podcast aus Heilbronn. Journalist Robert Mucha begrüßt als Gastgeber alle zwei Wochen unterschiedlichste Akteure aus Heilbronn und der Region und lässt sie ausgiebig zu Wort kommen. Ein Podcast von Robert Mucha. Pr...

Beschreibung

vor 1 Monat
In Folge #85 des Originalteile-Podcasts reisen Robert und Tonmann
Philipp Seitz nach Frankreich – nach Liederschiedt in Lothringen,
Grenzgebiet, dort wo Deutschland und Frankreich sich berühren. Hier
lebt Manfred Schreiweis, Jahrgang 1939, und er hat Geschichten zu
erzählen, die man nicht vergisst. 13 Seiten hat er vorbereitet.
Handschriftlich. Dazu Cremant, selbstgebackene Apfeltarte,
Knabbereien, als wäre es Weihnachten. So empfängt man Gäste in
Frankreich. So empfängt jemand, der weiß, dass manche Geschichten
Zeit brauchen. Manfred Schreiweis war fünf Jahre alt, als die
Bombennacht über Heilbronn hereinbrach. 4. Dezember 1944. Er
erinnert sich an den Fliegeralarm, an die Erschütterungen, an die
Hitze. An den Morgen danach, als von der Stadt kaum noch etwas
übrig war. Er erzählt von der Kindheit im Krieg, von Hunger und
amerikanischen Soldaten mit Schokolade, von der Kernerstraße und
der Spatzenschaukel, die umkippte. Und er erzählt von jenem Tag im
Kindergarten, als er »Guten Tag« sagte – und zur Strafe in die Ecke
musste. Er hatte vergessen, den Arm hochzureißen und »Heil Hitler«
zu rufen. Er war fünf. Solche Bilder bleiben. Dann ist da noch die
Geschichte vom Nachbarsjungen, zwölf, dreizehn Jahre alt. Nach der
Bombennacht fand er seine Eltern tot im Keller. Verbrannt, durch
die Hitze auf 80 Zentimeter geschrumpft. Er zog sie in einer
Zinkbadewanne aus dem Haus – und zog diese Badewanne durch die
zerstörte Stadt bis zum Hauptfriedhof. Ein Kind mit einer Badewanne
voller Leichen. Manche Bilder erträgt man nur, weil man sie
erzählt. Jahre später, 1954, war Manfred Schüler an der Dammschule.
Seine Klasse sollte eine Wanderung auf den Dachstein machen.
Ostern, Anfang April. Manfred wollte mit. Er war schon konfirmiert,
durfte selbst entscheiden. Aber seine Mutter sagte nein. Keine
Begründung, einfach nein. Aus Dankbarkeit für alles, was sie für
ihn getan hatte, während und nach dem Krieg, entsprach er ihrem
Wunsch. Seine Mitschüler fuhren los. Mit ihrem Lehrer Hans Georg
Seiler. Am 15. April 1954 starben 13 Menschen im Schnee. Manfred
Schreiweis blieb am Leben, weil seine Mutter nein sagte. Er erzählt
von diesem Tag. Vom Überleben. Von den leeren Plätzen in der Klasse
danach. Von der Frage, warum manche sterben und andere nicht. Vom
Schweigen, das folgte. Nach der Schule ging Manfred Schreiweis weg.
Lehre bei der Deutschen Bank in Heilbronn, dann mit 17 nach Belgien
als Austauschvolontär bei der Bank in Brüssel. Dort lernte er, dass
man Feindbilder auflösen kann. Dann zur Europäischen Gemeinschaft
in Brüssel, wo er gut verdiente. Mit 21 nach Ägypten für
Kolbenschmidt, mit einem 2-Millionen-Auftrag im Gepäck. Mit 24
Geschäftsführer von zwei Firmen in Belgien und Holland. Mit 28
Vorstandsvorsitzender in Straßburg. Seit 42 Jahren im Ausland.
Seine Frau lernte er schon früh in Heilbronn kennen. Sie war auch
bei der Bombennacht dabei, floh mit ihrer Familie nach Ilsfeld. Er
ging mit seiner Mutter nach Eberbach. Später heirateten sie, lebten
in Belgien, dann Holland, schließlich Frankreich. Integriert. Mit
gefühlter französischer Staatsbürgerschaft. Er sitzt bei Wahlen an
der Urne. Hängt die französische Fahne raus, wenn Fußball ist. »Ich
wohne in Frankreich. Logisch, dass ich die Marseillaise singe.«
Jeden Sonntagmorgen aber trifft er sich per Zoom mit einem guten
Freund aus Heilbronn. Beobachtet die Stadt aus der Ferne. Sieht,
wie aus Trümmern eine Wissensstadt wurde. TUM Campus, IPAI,
Experimenta – Begriffe, die er kennt, die ihn staunen lassen.
»Hätte ich mir nie vorstellen können«, sagt er. Dass ausgerechnet
Heilbronn, diese zerstörte, traumatisierte Stadt, mal so eine
Bedeutung bekommt. Er spricht auch über die Gegenwart. Über Europa,
über Krieg, über Politiker, die heute von »Kriegstüchtigkeit«
reden. Er, der als Kind erlebt hat, was Krieg bedeutet, sagt: »Man
muss vorsichtig sein. Man muss reden.«

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