„Das Volkszählungsurteil“ – Wenn Datenschutz aber mal so richtig reinkickt
Die Vorgeschichte Es begab sich Anfang der 1980er Jahre, dass sich
das ganze deutsche Volk schätzen lassen sollte. Und wenn die
Deutschen etwas wissen wollen, dann machten sie es damals noch sehr
gründlich.
19 Minuten
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Podcaster
Beschreibung
vor 1 Monat
Die Vorgeschichte
Es begab sich Anfang der 1980er Jahre, dass sich das ganze
deutsche Volk schätzen lassen sollte. Und wenn die Deutschen
etwas wissen wollen, dann machten sie es damals noch sehr
gründlich. Sie erließen ein Volkszählungsgesetz und planten die
Totalerhebung. Verwaltungsmitarbeiter sollten zu allen Menschen
in Deutschland gehen und mal durchzählen. Aber eben nicht nur
das. Wenn diese Erhebungsbeamten schon so nett beim Zählen waren,
dann konnte man ja gleich noch ein paar weitere Fragen stellen,
die den Staat so interessierten. Nichts, was nicht der typische
Social-Media-Nutzer heute schon in der Profilbeschreibung hätte.
Aber damals wurde man schon fuchsig, wenn es um Informationen zum
genutzten Verkehrsmittel oder die Entfernung zur Arbeitsstelle
ging.
Der Staat war das Unterfangen der Volkszählung akribisch
angegangen. Immerhin 600.000 Zählbeauftragte sollten den Bürger
in 25 Millionen Haushalten in Westdeutschland besuchen. Viel
Papier war zum Beschreiben vorbereitet worden. So viel, dass man
sich im Vorfeld ernsthafte Sorgen um die Deckenbelastung einiger
Behörden machte. Und damit der Bürger nicht unbeobachtet
Schindluder beim Ausfüllen der Zettel machte, war ein
Zurücksenden der Fragezettel etwa per Post durch eine Größenwahl
für die Zettel ein ganz kleines Bisschen über DIN-A-4 erschwert
worden. Gerade so viele Millimeter wurden draufgegeben, dass ein
entsprechender Umschlag nicht mehr passte. Pfiffig …
Um sich in seinem behördlichen Tun nicht unnötig Stress zu
machen, hatte man die Datenschutzbeauftragten aus dem Ganzen
lieber rausgelassen. Wie der Spiegel berichtete, fanden Aufkleber
wie „Meine Daten gehören mir“ oder auch „Betteln, Hausieren und
Volkszählen verboten“ reißenden Absatz. Und wenn sich doch ein
Zählbeauftragter zu einem wagte, dann kündigten nicht wenige an,
bei der Ausfüllung der Zettel fantasievoll und kreativ
vorzugehen. Dabei war die Grundidee gar nicht so verwerflich.
Wollte man doch die Datenbanken der Einwohnermeldeämter
aktualisieren, Karteileichen entfernen und dabei auch noch einige
Informationen bekommen, um etwa Verkehrsentscheidungen
bedarfsgerecht fällen zu können. Auf der Gegenseite entstanden
Ängste, dass sich der Bürger allzu nackig machen würde.
Psychologisch hilfreich war da sicherlich, dass der Roman von
Orwell „1984“ mit seinem Big Brother zufällig genau ins folgende
Jahr vom Autor datiert worden war. Immerhin mehr als 500
Verfassungsbeschwerden wurden eingereicht. Der Bürger war
angezündet, wütend und streitlustig. Und er wollte nicht zu einer
Nummer degradiert werden. Sah das Verfahren doch eine
achtstellige Kennung vor, die drohte als Personenkennzeichen die
Verknüpfung mit anderen Daten zu erleichtern. Eine Diskussion,
die auch heute noch wieder sehr aktuell ist. Will man doch
endlich das Behördenwesen auf die digitale Ebene heben und
Anträge so leicht wie einen Einkauf bei Amazon gestalten. Warum
dann Daten, die der Staat eh hat, erneut eingeben? Wäre dafür
eine übergreifende Kennung nicht hilfreich, wie es in vielen
anderen Ländern die Regel ist? Oder gibt es auch jetzt noch
Gründe, da vorsichtig zu sein? Das ist ein anderes Thema für viel
viel später in diesem Buch.
Wo waren wir? Ach ja, der Deutsche ging also 1983 auf die Straße
und fand diese ganze Volkszählung in weiten Teilen der
Bevölkerung ziemlich uncool. 52% der Bundesbürger waren laut
einer ZDF-Umfrage kritisch und 25% wollten erst gar nicht
mitmachen. Plötzlich war der Datenschutz in aller Munde. Ganz im
Gegensatz dazu noch die Situation 13 Jahre vorher, als in
Nordrhein-Westfalen bei einer Volkszählung gerade mal 23
Rückmeldungen der Bürger Grund für ein Bußgeldverfahren
lieferten. Ganz selbstlos war auch der Bürger von 1983 wohl bei
seiner neuen Liebe für den Datenschutz nicht. Schließlich sollten
u. a. Gemeinden die Befugnis erhalten, einen Abgleich ihrer
Register mit den Umfrageergebnissen vorzunehmen. Eigener
kreativer Umgang mit Meldungen zum Wohnen oder Vermieten an die
Behörden inkl. steuerlich relevanter Daten konnte da auch
finanzielle Anreize schaffen, den Datenschutz gerade bei dieser
Volkszählung unheimlich wichtig zu finden … der Menschenrechte
wegen natürlich.
Auf der Gegenseite war der Staat, der immerhin bis zu 10.000 Mark
Strafe androhte, sollten unvollständige oder unrichtige Angeben
gemacht werden. Den Staat zu ärgern, war aber auch sehr einfach.
Es reichte schon aus, statt eines Bleistifts einen
Füllfederhalter zu verwenden. Waren doch die Lesegeräte zur
Auswertung nur auf Graphitspuren ausgelegt. Damit hatte man
übrigens schon den echten Hanseaten zurückgelassen. Schließlich
war es rund um Finkenwerder und Blankenese üblich, alles Wichtige
mit dem Familienfüller auszufüllen – ein Umstand, der viele Jahre
später auch den zarten Versuchen einer elektronischen Wahl der
Bürgerschaft einen Knüppel zwischen die Beine warf.
Übrigens war damals für Gegner des Genderns (hätte es sie schon
gegeben) und Befürworter der klassischen Familie die Welt noch in
Ordnung. Erfasste doch das Volkszählungsgesetz in § 2 Nr. 4 die
„Beteiligung am Erwerbsleben“ und dazu gehörte neben „Schüler,
Student“ auch die „Eigenschaft als Hausfrau“. Der Hausmann
wartete noch auf seine Anerkennung durch die Gesellschaft.
Der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte Hans Peter Bull sah
sein Heil bei der Kritik an der ganzen Aktion im Gesetz. Verbot
dieses doch im Rahmen des Statistikgeheimnisses eine
De-Anonymisierung unter Strafandrohung. Die Welt konnte so
einfach sein. Warum ist man in anderen Bereichen noch nicht auf
die Idee gekommen, Unerwünschtes einfach zu verbieten? Vielen
Landesdatenschutzbeauftragten reichte das auch nicht aus. Und
auch nicht einer Gruppe Männer im beschaulichen Karlsruhe.
2. Das Urteil
Das Bundesverfassungsgericht verschaffte allen, deren Fetisch der
Datenschutz war, ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk. Am 15.
Dezember 1983 erblickte das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung das Licht der Welt – eine Welt, die danach nicht
mehr dieselbe sein sollte. Naja, zumindest die deutsche Welt.
Weite Teile von Europa mussten bis 2018 warten, bis sie diese
Errungenschaften in vollem Umfang genießen durften. Obwohl das
eigentlich schon 1995 der Fall war, was aber kaum einen
interessierte. Das schonmal als kleiner Spoiler.
Lust auf ein wenig Bundesverfassungsgericht-Porn? Dann hier der
entscheidende Leitsatz: „Unter den Bedingungen der modernen
Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte
Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner
persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des
Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 (Grundgesetz)
umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des
Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung
seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“
Die beim Bundesverfassungsgericht haben es einfach drauf, wenn es
darum geht, einfache Dinge in wichtiger Sprache zu verpacken.
Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Der zentrale Satz steht
unter Randnummer 146 des Urteils: „Mit dem Recht auf
informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung
und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in
der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher
Gelegenheit über sie weiß.“ Anders gesagt: Jeder soll das Recht
haben selbst zu entscheiden, wer was wann und bei welcher
Gelegenheit über ihn weiß. So einfach kann es sein, auch wenn ich
in den Satz gerne mehr Kommas gepackt hätte. Und tatsächlich
hilft einem dieser Satz eigentlich in allen Lebenslagen –
zumindest denen, in denen man sich mit Datenschutz beschäftigt.
Jeder soll gefälligst selbst darüber entscheiden, was andere über
ihn wissen dürfen. Möchte ich der verschlossene mysteriöse
Nachbar sein, der alles zwischen Geheimagent und Massenmörder
sein kann? Mein Ding. Will ich im Netz mein Leben ausleben. Auch
meine Entscheidung. Muss ich dafür gegenüber anderen Rechenschaft
ablegen? Nö. Mein Leben, meine Entscheidung. Wobei ganz so
einfach ist es dann natürlich doch nicht, sonst hätte ich dieses
Buch auch als Bierdeckel herausbringen können. Wie bei jedem
guten Thriller startet die Geschichte harmlos, bis dann die
spannungsgeladenen Wendungen kommen. Ein echter Fitzek.
Das Bundesverfassungsgericht war erstaunlich modern und hatte Big
Data lange, bevor es Modewort einer CeBIT (Gott sei ihrer Seele
gnädig) geworden war, für sich erkannt. So heißt es unter Rn.
150, dass es unter den Bedingungen der automatischen
Datenverarbeitung kein “belangloses” Datum mehr gebe. Zwei Dinge
gilt es daraus zu lernen. Zum einen ist die Einzahl von „Daten“
tatsächlich „Datum“ und zum anderen können selbst die banalsten
Informationen über mich zu unliebsamen Rückschlüssen führen. Das
Schreckensgespenst des Bundesverfassungsgerichts in diesem
Zusammenhang sind die „der Informationstechnologie eigenen
Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten“. Aus großen
Datenmengen folgt große Verantwortung. Das hätten schon die Jedi
gewusst, hätten sie bei diesem Urteil eine Erschütterung der
Macht bemerkt. Beispiel gefällig? Der Umstand, dass Sie gerade
jetzt dieses Buch lesen, ist ziemlich banal. Nun gut, vielleicht
hätten Ihre Vorgesetzten da etwas Seriöseres für Ihre Fortbildung
erhofft. Aber nichts, wofür man sich schämen müsste. Nehmen wir
nun noch ein paar weitere banale Daten dazu, wie zum Beispiel die
Uhrzeit, zu der sie lesen. Daraus kann man dann auch ihre
Lesegeschwindigkeit leicht errechnen (nutzen Sie einen
eBook-Reader wie den Kindle, so bekommen sie das sogar direkt auf
Wunsch angezeigt). Beobachten wir das dann über einen längeren
Zeitraum, so wird es spannend. Nimmt die Lesegeschwindigkeit ab?
Oh oh, Doktor Google findet da sicherlich schnell eine passende
tödliche Krankheit zu. Oder lesen Sie immer mehr? Na, da hat wohl
jemand zu viel Freizeit? Lesen Sie immer mal wieder mitten in der
Nacht? Senile Bettflucht wäre da noch das Harmloseste, ich (bzw.
der Algorithmus, der sich der Daten fürsorglich angenommen hat)
gehe/geht da eher von Schlaflosigkeit wegen psychischer Probleme
aus. Nicht gut für Beziehung, Job und Krankenversicherungstarif.
Nicht alles davon wird nun den Weg ins Rechenzentrum finden,
zumindest wenn Sie noch ganz traditionell das gedruckte Buch für
Ihre lasterhaften Leseorgien heranziehen. Oder haben Sie was zu
verbergen, weil für Ihre zwanghafte Anonymität Bäume sterben
müssen? Aber banal ist es nun auch nicht. Alles und jedes Datum
kann im Zusammenspiel mit den Massen anderer Daten zu fast allen
Rückschlüssen herangezogen werden. Und das wusste man schon 1983!
Das war das Jahr, als Hochleistungsrechner eine Rechenleistung
von gerade mal bis zu 800 Megaflops hatten. Schon das iPhone 6
hatte vor einigen Jahren 120 GIGA(!)Flops und die Playstation 5
bringt es auf 10280 Gigaflops.
Apropos Flop: auch wenn einige Regelungen des
Volkszählungsgesetzes durchgewunken wurden (etwa hinsichtlich der
Verwendung der Daten für die Forschung), so war es doch ein
überwiegender Sieg für die Kläger. Viele Vorschriften des
Gesetzes verstießen gegen das neue „Recht auf informationelle
Selbstbestimmung“. Und das Bundesverfassungsgericht wäre nicht
das Bundesverfassungsgericht, würde es nicht irgendwie das
Grundgesetz dabei mit heranziehen. Und wenn es wie hier Menschen
betrifft, dann passt eigentlich immer auch die Menschwürde aus
Artikel 1 des Grundgesetzes. Aber das wäre doch ein wenig
billig. Bei etwas so Wegweisendem und Neuen bekommt man gleich
zwei Grundrechte als Begründung zum Preis für ein Neues. Sicher
ist sicher. Und da nahm man dazu noch Artikel 2 Abs. 1 des
Grundgesetzes, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Wer will bei so viel Menschenwürde und Persönlichkeit
widersprechen. Und da damit Grundrechte verletzt wurden, konnte
das Bundesverfassungsgericht einige der Vorschriften des
Volkszählungsgesetzes als verfassungswidrig einstufen. Die waren
dann gleich mal nichtig und der Rest konnte eh nicht alleine
bestehen bleiben. Sieg für den Datenschutz!
1987 kam es dann zum zweiten Versuch einer Volkszählung. Zentrale
Änderung war, dass die personenbezogenen Angaben getrennt von den
Fragebögen blieben, um die Anonymität zu erreichen. Wobei der
Kenner weiß, echte Anonymität gibt es (fast) gar nicht. Aber man
hat sich zumindest bemüht, dass auch aus den Antworten beim
Fragebogen nicht allzu einfach auf den Menschen dahinter
geschlossen werden konnte. Übrigens gab es auch gegen dieses
Vorgehen Proteste, u. a. von den Grünen, die damals relativ
frisch mit im Bundestag dabei waren. Zu behaupten, dass nun auch
hieran irgendwie Habeck Schuld sei, ist dann aber in Anbetracht
der vergangenen Zeit, doch etwas übertrieben. Immerhin fand man
durch die Volkszählung plötzlich eine Million mehr Erwerbstätige
in Deutschland. Hatten die doch gearbeitet und keiner hat es
mitbekommen. Allerdings macht das Sinn, schließlich fand man auch
heraus, dass es in Wirklichkeit ca. eine Million weniger
Wohnungen gab. Die Erwerbstätigen konnten also quasi nichts
anderes machen als zu arbeiten.
Und da der Begriff Volkszählung dann noch ziemlich negativ
belastet war, machte man es im Folgenden wie eine gute
Marketingabteilung. Weist Dir Stiftung Warentest Schadstoffe im
Produkt nach, nenne es um. Und so wurde aus der Volkszählung der
Zensus und Schuld war dann 2011 nicht Merkel oder die SPD,
sondern die EU, die das ja wollte. Noch unschuldiger und süßer
ist da nur noch der „Mikrozensus“, in dem regelmäßig Stichproben
gezogen werden. Mehr würde die Bevölkerung wahrscheinlich eh nur
verunsichern …
Damit verlassen wir das weite Feld der Volkszählungen. Aber das
Bundesverfassungsgericht hatte noch so einiges im Köcher. Doch
zunächst müssen wir uns der EU zuwenden. Denn die entdeckte mit
entspannter Verzögerung in den 90er Jahren den Hype um den
Datenschutz und wollte auch ihren Teil des Kuchens.
Es begab sich Anfang der 1980er Jahre, dass sich das ganze
deutsche Volk schätzen lassen sollte. Und wenn die Deutschen
etwas wissen wollen, dann machten sie es damals noch sehr
gründlich. Sie erließen ein Volkszählungsgesetz und planten die
Totalerhebung. Verwaltungsmitarbeiter sollten zu allen Menschen
in Deutschland gehen und mal durchzählen. Aber eben nicht nur
das. Wenn diese Erhebungsbeamten schon so nett beim Zählen waren,
dann konnte man ja gleich noch ein paar weitere Fragen stellen,
die den Staat so interessierten. Nichts, was nicht der typische
Social-Media-Nutzer heute schon in der Profilbeschreibung hätte.
Aber damals wurde man schon fuchsig, wenn es um Informationen zum
genutzten Verkehrsmittel oder die Entfernung zur Arbeitsstelle
ging.
Der Staat war das Unterfangen der Volkszählung akribisch
angegangen. Immerhin 600.000 Zählbeauftragte sollten den Bürger
in 25 Millionen Haushalten in Westdeutschland besuchen. Viel
Papier war zum Beschreiben vorbereitet worden. So viel, dass man
sich im Vorfeld ernsthafte Sorgen um die Deckenbelastung einiger
Behörden machte. Und damit der Bürger nicht unbeobachtet
Schindluder beim Ausfüllen der Zettel machte, war ein
Zurücksenden der Fragezettel etwa per Post durch eine Größenwahl
für die Zettel ein ganz kleines Bisschen über DIN-A-4 erschwert
worden. Gerade so viele Millimeter wurden draufgegeben, dass ein
entsprechender Umschlag nicht mehr passte. Pfiffig …
Um sich in seinem behördlichen Tun nicht unnötig Stress zu
machen, hatte man die Datenschutzbeauftragten aus dem Ganzen
lieber rausgelassen. Wie der Spiegel berichtete, fanden Aufkleber
wie „Meine Daten gehören mir“ oder auch „Betteln, Hausieren und
Volkszählen verboten“ reißenden Absatz. Und wenn sich doch ein
Zählbeauftragter zu einem wagte, dann kündigten nicht wenige an,
bei der Ausfüllung der Zettel fantasievoll und kreativ
vorzugehen. Dabei war die Grundidee gar nicht so verwerflich.
Wollte man doch die Datenbanken der Einwohnermeldeämter
aktualisieren, Karteileichen entfernen und dabei auch noch einige
Informationen bekommen, um etwa Verkehrsentscheidungen
bedarfsgerecht fällen zu können. Auf der Gegenseite entstanden
Ängste, dass sich der Bürger allzu nackig machen würde.
Psychologisch hilfreich war da sicherlich, dass der Roman von
Orwell „1984“ mit seinem Big Brother zufällig genau ins folgende
Jahr vom Autor datiert worden war. Immerhin mehr als 500
Verfassungsbeschwerden wurden eingereicht. Der Bürger war
angezündet, wütend und streitlustig. Und er wollte nicht zu einer
Nummer degradiert werden. Sah das Verfahren doch eine
achtstellige Kennung vor, die drohte als Personenkennzeichen die
Verknüpfung mit anderen Daten zu erleichtern. Eine Diskussion,
die auch heute noch wieder sehr aktuell ist. Will man doch
endlich das Behördenwesen auf die digitale Ebene heben und
Anträge so leicht wie einen Einkauf bei Amazon gestalten. Warum
dann Daten, die der Staat eh hat, erneut eingeben? Wäre dafür
eine übergreifende Kennung nicht hilfreich, wie es in vielen
anderen Ländern die Regel ist? Oder gibt es auch jetzt noch
Gründe, da vorsichtig zu sein? Das ist ein anderes Thema für viel
viel später in diesem Buch.
Wo waren wir? Ach ja, der Deutsche ging also 1983 auf die Straße
und fand diese ganze Volkszählung in weiten Teilen der
Bevölkerung ziemlich uncool. 52% der Bundesbürger waren laut
einer ZDF-Umfrage kritisch und 25% wollten erst gar nicht
mitmachen. Plötzlich war der Datenschutz in aller Munde. Ganz im
Gegensatz dazu noch die Situation 13 Jahre vorher, als in
Nordrhein-Westfalen bei einer Volkszählung gerade mal 23
Rückmeldungen der Bürger Grund für ein Bußgeldverfahren
lieferten. Ganz selbstlos war auch der Bürger von 1983 wohl bei
seiner neuen Liebe für den Datenschutz nicht. Schließlich sollten
u. a. Gemeinden die Befugnis erhalten, einen Abgleich ihrer
Register mit den Umfrageergebnissen vorzunehmen. Eigener
kreativer Umgang mit Meldungen zum Wohnen oder Vermieten an die
Behörden inkl. steuerlich relevanter Daten konnte da auch
finanzielle Anreize schaffen, den Datenschutz gerade bei dieser
Volkszählung unheimlich wichtig zu finden … der Menschenrechte
wegen natürlich.
Auf der Gegenseite war der Staat, der immerhin bis zu 10.000 Mark
Strafe androhte, sollten unvollständige oder unrichtige Angeben
gemacht werden. Den Staat zu ärgern, war aber auch sehr einfach.
Es reichte schon aus, statt eines Bleistifts einen
Füllfederhalter zu verwenden. Waren doch die Lesegeräte zur
Auswertung nur auf Graphitspuren ausgelegt. Damit hatte man
übrigens schon den echten Hanseaten zurückgelassen. Schließlich
war es rund um Finkenwerder und Blankenese üblich, alles Wichtige
mit dem Familienfüller auszufüllen – ein Umstand, der viele Jahre
später auch den zarten Versuchen einer elektronischen Wahl der
Bürgerschaft einen Knüppel zwischen die Beine warf.
Übrigens war damals für Gegner des Genderns (hätte es sie schon
gegeben) und Befürworter der klassischen Familie die Welt noch in
Ordnung. Erfasste doch das Volkszählungsgesetz in § 2 Nr. 4 die
„Beteiligung am Erwerbsleben“ und dazu gehörte neben „Schüler,
Student“ auch die „Eigenschaft als Hausfrau“. Der Hausmann
wartete noch auf seine Anerkennung durch die Gesellschaft.
Der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte Hans Peter Bull sah
sein Heil bei der Kritik an der ganzen Aktion im Gesetz. Verbot
dieses doch im Rahmen des Statistikgeheimnisses eine
De-Anonymisierung unter Strafandrohung. Die Welt konnte so
einfach sein. Warum ist man in anderen Bereichen noch nicht auf
die Idee gekommen, Unerwünschtes einfach zu verbieten? Vielen
Landesdatenschutzbeauftragten reichte das auch nicht aus. Und
auch nicht einer Gruppe Männer im beschaulichen Karlsruhe.
2. Das Urteil
Das Bundesverfassungsgericht verschaffte allen, deren Fetisch der
Datenschutz war, ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk. Am 15.
Dezember 1983 erblickte das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung das Licht der Welt – eine Welt, die danach nicht
mehr dieselbe sein sollte. Naja, zumindest die deutsche Welt.
Weite Teile von Europa mussten bis 2018 warten, bis sie diese
Errungenschaften in vollem Umfang genießen durften. Obwohl das
eigentlich schon 1995 der Fall war, was aber kaum einen
interessierte. Das schonmal als kleiner Spoiler.
Lust auf ein wenig Bundesverfassungsgericht-Porn? Dann hier der
entscheidende Leitsatz: „Unter den Bedingungen der modernen
Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte
Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner
persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des
Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 (Grundgesetz)
umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des
Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung
seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“
Die beim Bundesverfassungsgericht haben es einfach drauf, wenn es
darum geht, einfache Dinge in wichtiger Sprache zu verpacken.
Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Der zentrale Satz steht
unter Randnummer 146 des Urteils: „Mit dem Recht auf
informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung
und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in
der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher
Gelegenheit über sie weiß.“ Anders gesagt: Jeder soll das Recht
haben selbst zu entscheiden, wer was wann und bei welcher
Gelegenheit über ihn weiß. So einfach kann es sein, auch wenn ich
in den Satz gerne mehr Kommas gepackt hätte. Und tatsächlich
hilft einem dieser Satz eigentlich in allen Lebenslagen –
zumindest denen, in denen man sich mit Datenschutz beschäftigt.
Jeder soll gefälligst selbst darüber entscheiden, was andere über
ihn wissen dürfen. Möchte ich der verschlossene mysteriöse
Nachbar sein, der alles zwischen Geheimagent und Massenmörder
sein kann? Mein Ding. Will ich im Netz mein Leben ausleben. Auch
meine Entscheidung. Muss ich dafür gegenüber anderen Rechenschaft
ablegen? Nö. Mein Leben, meine Entscheidung. Wobei ganz so
einfach ist es dann natürlich doch nicht, sonst hätte ich dieses
Buch auch als Bierdeckel herausbringen können. Wie bei jedem
guten Thriller startet die Geschichte harmlos, bis dann die
spannungsgeladenen Wendungen kommen. Ein echter Fitzek.
Das Bundesverfassungsgericht war erstaunlich modern und hatte Big
Data lange, bevor es Modewort einer CeBIT (Gott sei ihrer Seele
gnädig) geworden war, für sich erkannt. So heißt es unter Rn.
150, dass es unter den Bedingungen der automatischen
Datenverarbeitung kein “belangloses” Datum mehr gebe. Zwei Dinge
gilt es daraus zu lernen. Zum einen ist die Einzahl von „Daten“
tatsächlich „Datum“ und zum anderen können selbst die banalsten
Informationen über mich zu unliebsamen Rückschlüssen führen. Das
Schreckensgespenst des Bundesverfassungsgerichts in diesem
Zusammenhang sind die „der Informationstechnologie eigenen
Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten“. Aus großen
Datenmengen folgt große Verantwortung. Das hätten schon die Jedi
gewusst, hätten sie bei diesem Urteil eine Erschütterung der
Macht bemerkt. Beispiel gefällig? Der Umstand, dass Sie gerade
jetzt dieses Buch lesen, ist ziemlich banal. Nun gut, vielleicht
hätten Ihre Vorgesetzten da etwas Seriöseres für Ihre Fortbildung
erhofft. Aber nichts, wofür man sich schämen müsste. Nehmen wir
nun noch ein paar weitere banale Daten dazu, wie zum Beispiel die
Uhrzeit, zu der sie lesen. Daraus kann man dann auch ihre
Lesegeschwindigkeit leicht errechnen (nutzen Sie einen
eBook-Reader wie den Kindle, so bekommen sie das sogar direkt auf
Wunsch angezeigt). Beobachten wir das dann über einen längeren
Zeitraum, so wird es spannend. Nimmt die Lesegeschwindigkeit ab?
Oh oh, Doktor Google findet da sicherlich schnell eine passende
tödliche Krankheit zu. Oder lesen Sie immer mehr? Na, da hat wohl
jemand zu viel Freizeit? Lesen Sie immer mal wieder mitten in der
Nacht? Senile Bettflucht wäre da noch das Harmloseste, ich (bzw.
der Algorithmus, der sich der Daten fürsorglich angenommen hat)
gehe/geht da eher von Schlaflosigkeit wegen psychischer Probleme
aus. Nicht gut für Beziehung, Job und Krankenversicherungstarif.
Nicht alles davon wird nun den Weg ins Rechenzentrum finden,
zumindest wenn Sie noch ganz traditionell das gedruckte Buch für
Ihre lasterhaften Leseorgien heranziehen. Oder haben Sie was zu
verbergen, weil für Ihre zwanghafte Anonymität Bäume sterben
müssen? Aber banal ist es nun auch nicht. Alles und jedes Datum
kann im Zusammenspiel mit den Massen anderer Daten zu fast allen
Rückschlüssen herangezogen werden. Und das wusste man schon 1983!
Das war das Jahr, als Hochleistungsrechner eine Rechenleistung
von gerade mal bis zu 800 Megaflops hatten. Schon das iPhone 6
hatte vor einigen Jahren 120 GIGA(!)Flops und die Playstation 5
bringt es auf 10280 Gigaflops.
Apropos Flop: auch wenn einige Regelungen des
Volkszählungsgesetzes durchgewunken wurden (etwa hinsichtlich der
Verwendung der Daten für die Forschung), so war es doch ein
überwiegender Sieg für die Kläger. Viele Vorschriften des
Gesetzes verstießen gegen das neue „Recht auf informationelle
Selbstbestimmung“. Und das Bundesverfassungsgericht wäre nicht
das Bundesverfassungsgericht, würde es nicht irgendwie das
Grundgesetz dabei mit heranziehen. Und wenn es wie hier Menschen
betrifft, dann passt eigentlich immer auch die Menschwürde aus
Artikel 1 des Grundgesetzes. Aber das wäre doch ein wenig
billig. Bei etwas so Wegweisendem und Neuen bekommt man gleich
zwei Grundrechte als Begründung zum Preis für ein Neues. Sicher
ist sicher. Und da nahm man dazu noch Artikel 2 Abs. 1 des
Grundgesetzes, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Wer will bei so viel Menschenwürde und Persönlichkeit
widersprechen. Und da damit Grundrechte verletzt wurden, konnte
das Bundesverfassungsgericht einige der Vorschriften des
Volkszählungsgesetzes als verfassungswidrig einstufen. Die waren
dann gleich mal nichtig und der Rest konnte eh nicht alleine
bestehen bleiben. Sieg für den Datenschutz!
1987 kam es dann zum zweiten Versuch einer Volkszählung. Zentrale
Änderung war, dass die personenbezogenen Angaben getrennt von den
Fragebögen blieben, um die Anonymität zu erreichen. Wobei der
Kenner weiß, echte Anonymität gibt es (fast) gar nicht. Aber man
hat sich zumindest bemüht, dass auch aus den Antworten beim
Fragebogen nicht allzu einfach auf den Menschen dahinter
geschlossen werden konnte. Übrigens gab es auch gegen dieses
Vorgehen Proteste, u. a. von den Grünen, die damals relativ
frisch mit im Bundestag dabei waren. Zu behaupten, dass nun auch
hieran irgendwie Habeck Schuld sei, ist dann aber in Anbetracht
der vergangenen Zeit, doch etwas übertrieben. Immerhin fand man
durch die Volkszählung plötzlich eine Million mehr Erwerbstätige
in Deutschland. Hatten die doch gearbeitet und keiner hat es
mitbekommen. Allerdings macht das Sinn, schließlich fand man auch
heraus, dass es in Wirklichkeit ca. eine Million weniger
Wohnungen gab. Die Erwerbstätigen konnten also quasi nichts
anderes machen als zu arbeiten.
Und da der Begriff Volkszählung dann noch ziemlich negativ
belastet war, machte man es im Folgenden wie eine gute
Marketingabteilung. Weist Dir Stiftung Warentest Schadstoffe im
Produkt nach, nenne es um. Und so wurde aus der Volkszählung der
Zensus und Schuld war dann 2011 nicht Merkel oder die SPD,
sondern die EU, die das ja wollte. Noch unschuldiger und süßer
ist da nur noch der „Mikrozensus“, in dem regelmäßig Stichproben
gezogen werden. Mehr würde die Bevölkerung wahrscheinlich eh nur
verunsichern …
Damit verlassen wir das weite Feld der Volkszählungen. Aber das
Bundesverfassungsgericht hatte noch so einiges im Köcher. Doch
zunächst müssen wir uns der EU zuwenden. Denn die entdeckte mit
entspannter Verzögerung in den 90er Jahren den Hype um den
Datenschutz und wollte auch ihren Teil des Kuchens.
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