„I May Destroy You“: K.O.-Tropfen untergemischt, danach wurde sie missbraucht

„I May Destroy You“: K.O.-Tropfen untergemischt, danach wurde sie missbraucht

Wie mit Traumata umgehen? Die Britin Michaela Coel hat mit „I May Destroy You“ ein Format entwickelt, das sich in viele Richtungen erstreckt Eine Serie über sexuelle Übergriffe, über Konsens, über den Umgang mit Traumata: Die Britin Michaela Coel hat mit
26 Minuten

Beschreibung

vor 5 Jahren
Wie mit Traumata umgehen? Die Britin Michaela Coel hat mit „I May
Destroy You“ ein Format entwickelt, das sich in viele Richtungen
erstreckt

Eine Serie über sexuelle Übergriffe, über Konsens, über den
Umgang mit Traumata: Die Britin Michaela Coel hat mit „I May
Destroy You“ ein Format entwickelt, das sich in viele Richtungen
erstreckt und bis zum Ende doch offen lässt, wer hier eigentlich
zerstört werden soll. Die Protagonistin selbst? Der Fremde, um
den sich so vieles dreht? Oder womöglich der Zuschauende,
mithilfe der realistischen Rohheit des Gezeigten?


Aber zunächst wird uns Hauptfigur Arabella (gespielt von Coel)
noch relativ harmlos präsentiert. Es könnte sich hierbei genauso
gut um eine Szene aus „Girls“ handeln: Mit „Chroniken eines
satten Millennials“ hat sie bereits ein Buch geschrieben, jetzt
sitzt ihr die Deadline für das nächste im Nacken. Nun muss sie
unbedingt schnell schreiben, nicht den Fokus verlieren, denkt sie
sich – so dass der Verlag endlich Ruhe gibt. Aber statt an dem
nächsten Satz zu tippen, ist sie auf Twitter. Ständig lässt sich
Arabella ablenken. Und dann geht sie doch aus, trifft sich mit
Freunden in einer Bar, nur um ein paar Stunden mit ihnen zu
feiern. Nur dass es sich hierbei nicht um eine normale Partynacht
in dem Leben der Anfang-30-jährigen Autorin handelt, sondern um
den Abend, in der sie vergewaltigt wird. Das findet sie aber erst
später heraus. Längst sitzt sie in den frühen Morgenstunden
wieder vor ihrem Laptop, haut mechanisch in die Tasten und wischt
sich noch nicht mal das Blut von der Stirn. Erst nach und nach
setzen sich Bilder in ihrem Kopf fest. Von einem schwitzenden
Mann, der dicht über sie gebeugt ist. Sie befindet sich dabei
halb auf dem Boden einer dunklen Klokabine, scheinbar
handlungsunfähig. Und dann wird es ihr bewusst.


Der Prozess des Erkennens, der Weg zur Polizei, das daraus
resultierende Trauma, der einfach nicht enden wollende Horror –
das alles beruht auf den Erfahrungen, die die Hauptdarstellerin,
Regisseurin (zumindest bei neun von zwölf Folgen),
Drehbuchautorin und Produzentin selbst machen musste, als sie
kurz vor der Fertigstellung ihrer zweiten Staffel von „Chewing
Gum“ stand. Wie Arabella bekam Michaela Coel K.o.-Tropfen
untergemischt, danach wurde sie missbraucht. Aber nach der
autobiografischen Ausgangslage nimmt die Serie einen nicht mehr
gänzlich autobiografischen Weg. Eine Unterscheidung zu ihrer
eigenen Geschichte war Coel wichtig. Die Reise von Arabella sei
„teils Realität, teils Fiktion“.


Mit ihrer Protagonistin macht sie sich erst auf die langwierige
Suche nach Hinweisen, was genau in der Bar vorgefallen ist, und
als ihr die Tragweite des Vorfalls klarer wird, auf die Suche
nach dem Täter und nach Gerechtigkeit. Je weiter sie geht, desto
selbstgerechter wird sie auch. Eigene Fehler gesteht sie sich
nicht ein. „Ein Trauma kann zu einem sehr binären Denken führen,
das ist eine Art zu überleben“, führt Coel aus. Um dies zu
unterstreichen, zeigt sie Arabella, wie sie sich mithilfe von
Twitter und Instagram zur influencenden Aktivistin im Kampf gegen
sexuelle Gewalt aufbäumt. In ihrem Leben scheint es nur noch Gut
und Böse zu geben – und sie ist die weibliche Version von Robin
Hood. Oder zumindest eine hart durchgreifende Rächerin. Rund um
die Uhr ist sie stinkwütend, nimmt in Rage Videos für ihre
Socials auf, teilt aber auch gegen ihre Freunde aus und benimmt
sich so unangenehm invasiv, wie sie es bei anderen anprangert.
Das Trauma ließ auch Coel „die Hässlichkeit, die ich in mir habe“
vergessen und holte sie gleichzeitig mit voller Wucht hervor. Das
Opfer kann auch „ein Arschloch“ sein – diesen Umstand möchte Coel
mit ihrer Serie unterstrichen wissen. Vor allem aber wird hier
klarer denn je formuliert, wie wichtig Konsens ist.


Für Michaela Coel war das Schreiben karthatisch. Kein Wunder
also, dass sie den Netflix-Deal ausschlug, für den sie die Rechte
an „I May Destroy You“ hätte abgeben müssen. Sie wollte die
Story, an der sie rund zweieinhalb Jahre arbeitete und für jede
Episode um die 20 Drafts schrieb, komplett in ihren Händen
behalten.

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