Wir waren das Bauvolk – Erinnerungen an die Zukunft
http://februarkaempfe.dort.pw Ich habe meine Großeltern nicht
gekannt. Die Eltern meines Vaters sind in der Gaskammer von
Treblinka ermordet worden. Der Vater meiner Mutter ist an den
Spätfolgen einer Weltkriegsverletzung gestorben,
57 Minuten
Podcast
Podcaster
Beschreibung
vor 11 Jahren
http://februarkaempfe.dort.pw
Ich habe meine Großeltern nicht gekannt. Die Eltern meines Vaters
sind in der Gaskammer von Treblinka ermordet worden. Der Vater
meiner Mutter ist an den Spätfolgen einer Weltkriegsverletzung
gestorben, als sie knapp drei Jahre alt war. Ihre Mutter ist an
den Folgen einer unsachgemäß durchgeführten Abtreibung gestorben,
als meine Mutter fast zehn war.
Der Vater meiner Mutter hatte zwei Schwestern, die unverheiratet
geblieben waren. Bei denen ist meine Mutter dann aufgewachsen,
nachdem sie noch zwei schreckliche Jahre in einem faschistischen
Waisenhaus verlebt hatte. Das waren meine Ersatzgroßmütter, die
Hilda-Tant und die Wicki-Tant. Nachdem sie aber fast immer
gemeinsam auftraten, hießen sie nur „die Tanten“.
Die beiden sind 1897 und 1898 geboren, als elftes und zwölftes
Kind ihrer Eltern. Hutstaffiererin haben sie gelernt. Im ersten
Weltkrieg war die eine Straßenbahnschaffnerin und die andere hat
in einer Munitionsfabrik gearbeitet. Nach dem Krieg waren sie in
der Hutfabrik Gebrüder Böhm als Saisonarbeiterinnen beschäftigt.
Durch die ständigen Arbeitsunterbrechungen sind sie nie in den
Genuss eines bezahlten Urlaubs gekommen. In den Dreißiger Jahren
waren sie arbeitslos. Als ich ein Kind war haben sie in
Heimarbeit Schleifen für die Bonbonnieren der
Heller-Zuckerlfabrik gemacht.
Die beiden sind in eine sozialdemokratische Familie
hineingeboren. Ihr Vater hat die Gewerkschaft der Metalldrücker
in Österreich gegründet. Als junge Mädchen sind sie schon in die
Partei eingetreten, gleich nach dem Weltkrieg. Sie gehörten immer
zu den Linken in der Partei und nach dem Februar 34 sind sie dann
Kommunistinnen geworden. Warum sie nie geheiratet haben? Zuerst
mussten sie für ihre Eltern sorgen, denn für die hat es noch
keine Altersrente gegeben. Der Vater ist 1925 mit 70 Jahren
gestorben, die Mutter 1929. Ein Jahr nach dem Tod der Mutter ist
ihr älterer Bruder gestorben, mein Großvater, und sie haben ihm
am Totenbett versprochen, meiner Großmutter und den Kindern
beizustehen. Sie waren immer für alle da, für die ganze
ausgebreitete Familie. Wenn sie uns besucht haben, haben sie
immer etwas mitgebracht, einen Apfelstrudel oder einen
Hasenbraten, und dann haben sie sich nicht zum Tisch gesetzt, um
Kaffee zu trinken, sondern sind in die Küche gegangen um Geschirr
abzuwaschen oder haben meine Mutter gefragt, ob sie nicht zum
Bügeln oder zum Stopfen hat. Ihr ganzes Leben sind sie in der
Wohnung geblieben, in der sie aufgewachsen sind, Buchengasse 100,
im Parterre, Zimmer, Kuchl, Kabinett, Wasser und Klo am Gang.
Ihr jüngster Bruder, der Otto-Onkel, war 1923 dem Schutzbund
beigetreten. Er war Adjutant des Kommandanten Major Eifler. 1927
ist er aus Enttäuschung über das Versagen der Sozialdemokraten
beim Justizpalastbrand aus dem Schutzbund ausgetreten. 1934 hat
er im Simmeringer E-Werk gearbeitet, und er war es, der den
entscheidenden Hebel heruntergedrückt hat, um den Strom
auszuschalten und das Signal zum Generalstreik zu geben. Nach den
Kämpfen haben ihn die Tanten dann versteckt. In der Nazizeit
haben sich die Genossen von der Roten Hilfe in der kleinen
Wohnung in der Buchengasse getroffen. Der Otto-Onkel hat als
Gemeindebediensteter für die Rote Hilfe Lebensmittelkarten
gefälscht. Und als er dann in Mauthausen im KZ war, haben ihn die
Tanten besucht und ihm Lebensmittel ins Lager geschmuggelt.
Solche waren das, diese Tanten. Und am 1. Mai sind sie
marschiert. Hinter der roten Fahne. Als ich sie gekannt habe, war
es die Fahne der Kommunisten. Und haben gesungen:
„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt
wir sind der Sämann, die Saat und das Feld
wir sind die Schnitter der kommenden Mahd
wir sind die Zukunft und wir sind die Tat.
So flieg, du flammende, du rote Fahne
voran dem Wege, den wir zieh‘n,
wir sind der Zukunft getreue Kämpfer
wir sind die Arbeiter von Wien.“
Diese Frauen, die nie etwas gekannt haben als Arbeit und Kampf,
Kampf und Arbeit, sie waren sicher: „Wir sind die Zukunft“, „wir
sind die Tat“.
Und so wie sie sind vor 1933 Zehntausende marschiert,
Hunderttausende, hinter der roten Fahne der Sozialdemokratie. Sie
sind aus ihren Elendswohungen gekommen, schlecht ernährt, müde
vom Hackeln in der Bude, müde vom ewigen Sparen und Rechnen, müde
vom Ausbessern der Kleider für die Kinder, müde davon, das Essen
für die Familie zusammenzukratzen, müde vom Anstellen um die
Arbeitslosenunterstützung. Sie haben ihre besten Kleider
angezogen, um den Tag der Arbeit zu feiern. Und sie waren sich
sicher: „Wir sind das Bauvolk, wir sind die Zukunft, wir sind die
Arbeiter von Wien!“ Sie waren stolz, Arbeiter und Arbeiterinnen
zu sein, stolz, Proletarier zu sein.
Meine Tanten, sie waren sich sicher, dass sie kommt, die große
Zukunft, dass sie kommt, die Gesellschaft, in der es keine
Klassen mehr gibt, keine Armen und Reichen, keine Ausgebeuteten
und Ausbeuter. Sie waren sich sicher, dass sie kommt, die
Gesellschaft, in der jeder nach seinen Kräften zum gemeinsamen
Leben beisteuert und jeder bekommt, was er braucht. Sie waren
sich sicher, dass die Zeit kommt, in der es keine Kriege mehr
gibt. Und sie waren sich sicher, dass nicht irgend ein Erlöser
diese Zukunft bringen würde, nicht ein vom Himmel gesandter und
auch kein irdisches Genie, sondern dass sie selbst es waren, sie
und ihresgleichen, die diese Zukunft erschaffen würden. Die
Arbeiter und Arbeiterinnen.
Sie haben sich nicht als die Erniedrigten und Beleidigten
gefühlt. In ihrem Bewusstsein hat die Zukunft schon Gestalt
gehabt, in ihrem Herzen waren sie schon die Sieger.
Wie auch die Lüge uns schmähend umkreist,
alles besiegend erhebt sich der Geist.
Kerker und Eisen zerbricht seine Macht,
wenn wir uns rüsten zur letzten Schlacht.
Die, die im Februar 34 die Gewehre ausgegraben haben, die sich
zum Kampf gestellt haben, obwohl sie gewusst haben, dass es
aussichtslos war, das waren die, die sich diesen Stolz nicht
nehmen lassen wollten. Die nicht die Erniedrigten und Beleidigten
sein wollten. Sondern die Zukunft und die Tat.
Playlist:
Martin Auer – Einleitung – BY-NC-SA
NNA – Wealth Without Work – BY-NC
Franz Jurica – Bericht über die Februarkämpfe in Ottakring
–
? – Die Arbeiter von Wien – ?
Victor Grünbaum u.a. – Couplet des Goldschieber –
VexXxeR – Ethyl – BY-NC-SA
Павкашавет#1073;антут – Eraserhead Industrial City –
BY-NC-SA
Engelbert Dollfuß – Trabrennplatzrede – Public Domain
Jura Soyfer – Ballade von der gemeinsamen Schüssel – Public
Domain
VexXxeR – Penetrate – BY-NC-SA
Ilya Monosov – For Two glitching Organs – BY-NC-SA
Jura Soyfer – Mein Bruder Vagabund – Public Domain
Cian Nugent – Grass Above My Head – BY-NC-SA
Hedwig Sokopp – Bericht über die Arbeitsbedingungen im 1.
Weltkrieg –
Karl Münichreiter junior – Bericht über die Februarkämpfe in
Hietzing –
Jura Soyfer – Lied vom einfachen Menschen – Public Domain
James Beaudreau – At the Foothills – BY-NC-SA
Jura Soyfer – Dachaulied – Public Domain
? – Le Chant des Martyrs – ?
Jura Soyfer – Lied von der Erde – Public Domain
Kevin McLeod – Signation – BY
Weitere Episoden
13 Minuten
vor 7 Monaten
8 Minuten
vor 8 Monaten
16 Minuten
vor 1 Jahr
In Podcasts werben
Abonnenten
München
Kommentare (0)