Martin Grichting: «Die Kirchen folgen dem Mainstream»

Martin Grichting: «Die Kirchen folgen dem Mainstream»

Der Priester und Theologe Martin Grichting über die Rolle der Religion in der liberalen Gesellschaft, was die Kirche dazu beisteuern soll – und was nicht. Und wieso die heutigen Landeskirchen zu staatsnah sind, und was das alles mit den Kirchensteuern zu
37 Minuten

Beschreibung

vor 1 Woche
Der liberale Staat brauche Religion, findet Martin Grichting.
«Sitten, Gebräuche und Bürgertugenden stellten sicher, dass die
Institutionen funktionieren». Dazu braucht es Religion, weil sich
die Tugenden sonst nicht halten könnten. Grichtung hat ein Buch
dazu geschrieben, in dem er ein neues Verhältnis von Kirche und
liberalem Staat entwirft. Es droht eine Gesellschaft der Egoisten
«Religion sorgt dafür, dass wir uns langfristig ausrichten,
vielleicht auch einmal zu einem Verzicht zugunsten des Ganzen
bereit sind», findet der frühere Generalvikar des Bistums Chur.
«Wenn das fehlt, werden auch die Sitten und Tugenden verschwinden.»
Übrig bliebe eine Gesellschaft von Egoisten. Religion biete den
Menschen eine andere Sicht – eine über die Gegenwart hinaus. Der
Staat beruhe auf Grundlagen, die er selber nicht schaffen könne,
zitiert Grichting den deutschen Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang
Böckenförde. Wo eine tiefere ideelle Basis fehle, sei der Mensch
nicht mehr bereit, sich für das Ganze einzusetzen. «Dann kommen
sich die Egoisten nur noch in die Quere – und das ist das, was wir
in der heutigen Gesellschaft beobachten.» Je mehr die religiöse
Dimension verschwinde, je kälter werde es. «Die Wokebewegung ist
reaktionär» Ausdruck für die übersteigerte Individualisierung sind
die Aktivisten von heute. Grichting sieht im Wokeismus der
Gegenwart einen Rückfall hinter die Französische Revolution und die
Aufklärung. «In der Wokebewegung verschwindet die Gleichheit
zugunsten einer neuen Rassentheoprie, in der Menschen nur einen
Wert haben, weil sie zu einer bestimmten Gruppe gehören.» Die
Aktivisten merkten gar nicht, wie reaktionär sie seien. Grichting
entwirft auf der Basis von Alexis de Tocqueville eine «Religion der
Bürger». Staat und Religion sollen dabei strickt getrennt sein,
damit die Kirche sich nicht vom Staat vereinnahmen lasse. Die
einzelnen Bürger sollen religiös sein und sich im Staat einbringen.
«Das hat aber zur Voraussetzung, dass sich die Kirchenoberen selber
nicht politisch einbringen, sondern sich darauf beschränken, dass
sie den Glauben verkünden.» Heute sei das anders: Während die
Kirchen immer säkularer würden, entwickle sich der Staat zu einer
Zivilreligion. Dir Kirchen und die Pandemie Grichting kritisiert
die Schweizer Bischöfe als zu staats- und regierungsnah. «Wenn man
schaut, wie sich die Kirchen in der Pandemie freiheitsfeindlich
hinter die Massnahmen gestellt haben, ihre eigenen Leute im Stich
gelassen haben, dann zeigt das die zu grosse Nähe der Kirchen zum
Staat.» Mit ein Grund für diese unheilvolle Nähe sei die
finanzielle Abhängigkeit der «Staatskirchen». Die Kirchen folgten
aus Eigeninteresse dem Mainstream. «Ihr Evangelium ist nicht das
der Bibel, sondern die Befehlsausgabe der Regierung. Sie beissen
nie die Hände die sie füttern.» Dabei habe die Kirche eher zu viel
als zu wenig Geld. Mit weniger Einnahmen müsste sie das Gebot der
Armut wieder leben, statt hohe Löhne bezahlen. Freier Entscheid,
Kirchensteuern zu zahlen «Eine Staatskirche versagt darin, die
Gläubigen zu stützen und politisiert dafür – und zwar immer im
Sinne jener, die gerade an der Macht sind.» Grichting würde «falls
überhaupt» ein System wie in Italien modern finden, in dem die
Steuerzahler jedes Jahr frei entscheiden, ob sie der Kirche Steuern
zuhalten. Martin Grichting: «Religion des Bürgers statt
Zivilreligion. Zur Vereinbarkeit von Pluralismus und Glaube im
Anschluss an Tocqueville». Schwabe-Verlag, 2024.
https://schwabe.ch/martin-grichting-religion-des-buergers-statt-zivilreligion-978-3-7965-5060-7

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