Interview mit Volkmar Aderhold - Transkript der Sendung vom 28. Juli 2016

Interview mit Volkmar Aderhold - Transkript der Sendung vom 28. Juli 2016

Beschreibung

vor 7 Jahren
Transkript der Sendung vom 28. Juli 2016:
http://vielfalter.podspot.de/files/julisendung016.mp3 Mirko
Ološtiak-Brahms: Hallo und herzlich willkommen zu \'VielFalter -
Magazin gegen Monokultur\', hier im Gruppenradio von Radio
Dreyeckland, die Sendung vom 28. Juli 2016, am Mikrofon Mirko
Ološtiak-Brahms und heute mit einem Gespräch mit Dr. Volkmar
Aderhold. Dr. Volkmar Aderhold: Ich bin Psychiater in Deutschland,
dem die Psychiatrie am Herzen liegt, der relativ viel in der
Psychiatrie gearbeitet hat und sich vor 9 Jahren entschlossen hat
die Institution zu verlassen um den Rest seiner Arbeitszeit damit
zu verbringen, durch Fortbildungen, durch Vorträge, durch Schreiben
den Versuch zu machen, das System ein bisschen zu verändern. So
würde ich mich vielleicht sehen. M.O.B.: Vor ein paar Jahren habe
ich Volkmar Aderhold vor allem in der Debatte über frühzeitige
Sterblichkeit durch Neuroleptika wahrgenommen. Also: Neuroleptika
verkürzen die Lebensdauer der Menschen, die diese Substanzen auf
Dauer nehmen um beträchtliche Zeit. Inzwischen sehe ich Herrn
Aderhold vor allem im Zusammenhang mit „Bedürfnisangepasster
Behandlung“ beziehungsweise dem „Offenen Dialog“ und seinem
Engagement dafür. V.A.: Es gab diese Zwei-Wege-Strategie schon
immer. Also das, was ich jetzt mache, verfeinert, habe ich versucht
und in Gang gesetzt schon vor der Neuroleptika-Geschichte, und dann
kam die kritische Auseinandersetzung mit Neuroleptika. Also die
Mortalität, dann überhaupt die die Dosierung. Die Frage: Wird das
Gehirn geschädigt? Wird es dadurch geschrumpft? Das war die letzte
größere Geschichte. Und daneben war immer die Frage: Was braucht es
eigentlich für eine Psychiatrie? Das war für mich immer eine
Zwei-Wege Strategie. M.O.B.: Du hast ziemliche Kritik an der
Psychiatrie wie sie ist oder was sie bisher war, und du propagierst
einen Weg der nennt sich Need Adapted Treatment oder
Bedürfnisangepasste Behandlung. V.A.: Die Liste der Kritik an der
Psychiatrie könnte eine ganz lange Liste werden. Wenn ich es runter
breche: Sie benutzt Medikamente in einem Ausmaß und in einer Weise,
die Medikamente dazu veranlasst zu schädigen - Menschen zu
schädigen - in relativ vielen Fällen, und sie kümmert sich nicht
darum therapeutische Kontexte zu schaffen, wo man Neuroleptika und
andere Medikamente runter fährt. Wo man nicht das tut, was in der
Beziehung stattfinden müsste. Einen zu hohen Gebrauch von
biologischer Psychiatrie und einen viel zu geringen Gebrauch von
Beziehungspsychiatrie. Für mich hat das immer eine Waage - die
brauchen sich beide, aber das Pendel ist in Deutschland - und in
vielen andern Staaten auch - viel zu sehr im Biologischen. Es
erscheint als einfache Lösung, die zum Problem wird. Daraus leite
ich ab: Schlechtes Behandlungsergebnis, Chronifizierung von
Menschen, wo wir besser sein könnten. Soziale Inklusion: schlechtes
Behandlungsergebnis! Menschen kommen nicht in ein autonomes Leben,
die es könnten. Menschen kommen nicht auf den Arbeitsmarkt, die es
könnten. Menschen kommen nicht weg von der Psychiatrie, die es
könnten. Menschen kommen nicht in den Sozialraum, in die Normalität
des Lebens, die es könnten. Menschen kommen viel zu häufig in
gesetzliche Betreuungen, die sie nicht brauchen. Menschen kommen in
Unterbringung, wo das nicht nötig wäre. Menschen kommen in
Fixierung, wo das anders gehen würde. Das könnte ich jetzt auch
alles an Zahlen belegen. Wir sind im Outcome dieser relativ teuren
Psychiatrie ausgesprochen schlecht. Und wir verkleistern das. Wir
stellen uns dem nicht. Jeder redet es schön. Also es geht erst mal
um Aufklärung. Und um sich dem stellen. M.O.B.: Es wird sehr viel
Geld ausgegeben und dieses Geld verpufft wirkungslos oder richtet
sogar Schaden an? V.A.: Also: Man könnte mit dem Geld viel besser
arbeiten und viel mehr für die Menschen rausholen als uns das
gelingt. Es gibt ja sogar Leute wie der Däne Gøtsche, der sagt:
Einige Dinge sollten wir schlichtweg lassen. Dann wären wir besser.
Der sagt sogar: „Verbietet die Neuroleptika!“ Soweit würde ich
nicht gehen. Aber viel weniger wäre mehr. Viel mehr. M.O.B.:
Zumindest achtzig Prozent der Medikamente, die verabreicht werden,
könnte man weglassen und das wäre besser? V.A.: 80? Ja, also ich
würde mich auf 60 bis 70 runter handeln, aber ich würde über 50
gehen. Ab da müsste man sehr genau gucken in welchen Bereichen und
so. Aber das müsste man fein klöppeln. Vielleicht käme am Ende doch
80 raus - da würde ich mich jetzt nicht festlegen, weil das habe
ich mir noch nie so durchgerechnet. Aber über 50 locker. M.O.B.: Du
bietest eine Fortbildung an im „Offenen Dialog“. Das ist ein
Modell, das in Finnland schon lange praktiziert wird. Mit sehr
guten Ergebnissen eigentlich. Kannst Du uns darüber was erzählen?
V.A.: Das ist vielleicht die Form der gemeinsamen Arbeit mit
Menschen und mit Psychosen und ihrem natürlichen Umfeld, die für
mich seit ungefähr 20 Jahren den größten Sinn macht. Davor liegt
eine Phase langer Suche. Und ich bin da einfach hängen geblieben.
Ein Modell, das auch international in den letzten 10 Jahren einen
unheimlichen Hype erlebt hat. Das jetzt in vielen Ländern Aufruhr
macht. Auftaucht. Ankommt. Sich ins System bringt. Also in England
deutlich. In Amerika regional. In Polen regional. In Niederlanden
fängt es jetzt an. In Belgien gibt es eine Gruppe. Es verbreitet
sich ein bisschen jetzt im Europäischen Raum, aber auch
International. Es gibt Gruppen in Japan, die danach fragen. Also:
ein Modell im Hype kann man fast sagen, für so ein alternatives
Modell. Was es ist, ist in gewisser Weise ober-simpel. Also: Ein
Mensch kommt in die Krise und das Erste, was man tut ist, im
sozialen Raum der Menschen alle, die um diesen Menschen in der
Krise Bedeutung haben in das gemeinsame Tun einzubeziehen. So viele
wie möglich und wie der Klient selbst für sinnvoll hält und
natürlich auch annehmen kann. Von dieser Logik aus - was ist dieser
Mensch, was sind die anderen, was ist passiert und wie können die
sich gemeinsam aus dieser Krise herausbewegen - das ist der
zentrale Punkt und dafür stellen sich die Profis zur Verfügung. Das
wär´s so ganz grob. Und dann wird es natürlich tricky. Wie man das
macht und in welcher Form, und wie diese Gespräche sind, die man da
führt - die wir Netzwerkgespräche nennen - das ist dann schon eine
subtile Methode. Es ist auf der einen Weise leicht verständlich und
auf die andere Weise nicht ganz so einfach. Aber absolut lernbar.
(8\'28) M.O.B.: In Finnland hat diese Methode zu sehr guten
Erfolgen geführt, die aber meines Wissens nirgendwo so reproduziert
werden konnten. V.A.: Die nirgendwo reproduziert wurden! Das hat
damit zu tun: Auch in Finnland war es mal über diese
Bedürfnisangepasste Behandlung eine landesweite Bewegung für
Menschen mit Psychosen. Das war in den 80er Jahren. Da hat man
gezeigt, dass diese Methode Betten deutlich reduziert. Also um die
Hälfte. Und Chronifizierungen um 60 Prozent. Das war national weit.
Und dann kam diese spezifische Methode des Offenen Dialogs. Die
begrenzt sich auf drei bis vier Regionen. Und eine Region in
West-Lappland hat das zur Perfektion getrieben. Die sind wirklich
gut. Also die sind seit 25 Jahren dabei. Die machen das. Sie haben
schon einen Generationenwechsel vor sich oder sind mittendrin. Und
die haben ein Forschungsprojekt gemacht. Also 3 Mal diese Teams und
die Klienten über zwei Jahre, einmal über 5 Jahre, einmal in den
90er Jahren, zuletzt im Jahre 2005, also 3 mal eine Gruppe von 30
bis 50 Menschen auch wissenschaftlich beforscht und das Ergebnis
erfasst. Und da kamen eben diese besonders guten Ergebnisse raus:
75 % der Leute sind auf dem Ersten Arbeitsmarkt angekommen und 85 %
sind arbeitsfähig aus diesem Behandlungsprozess herausgekommen -
mit sehr geringen Hospitalisierungraten. Das ist ein sehr komplexes
gemeindepsychiatrisches Modell, und diese Praxis ist an keinem
andern Ort bisher repliziert worden. Also nochmal erneut beforscht
worden. Drei mal dort aber noch nirgendwo anders. Das geht jetzt
los. Sogar in anspruchsvoller Weise indem sich die Engländer
vorgenommen haben sogar eine randomisierte Studie zu machen, also
nicht nur eine Gruppe über zwei Jahre zu beforschen, sondern
Menschen mit Ersterkrankung, erste Psychose, in zwei verschiedene
Behandlungsarme zu bringen. Also einmal den Offenen Dialog und
einmal die normale Behandlung. in größeren Regionen. Also eine
Multicenterstudie um zu gucken was passiert. Und das gleiche haben
die Italiener vor. Für beide ist es nicht so einfach. Das ist ein
Kaltstart. Teams die ganz neu damit in Kontakt kommen, sollen das
sofort toll und richtig machen und dabei noch beforscht werden, das
ist natürlich ein Mega-Vorsatz. Also da ist Begleitforschung
unterwegs. Die aber auch wiederum vielleicht in einem Jahr wirklich
an Kraft gewinnt und 4 bis 5 Jahre braucht bis Ergebnisse da sind.
Das ist keine Antwort bis übermorgen, sondern eher für 2022.
M.O.B.: Es gibt ja schon seit längerem Kritik an der Psychiatrie.
Das ist ja nichts neues. Antipsychiatrie war Mitte der 60er Jahre
schon fast ein Hype kann man sagen. Ronald Laing hat in London eine
Therapeutische Wohngemeinschaft aufgemacht, Nicht-hierarchisch. Es
gab die Soteria in Kalifornien. Die beide auch in gewisser Weise
erfolgreich waren, aber auch beide aus finanziellen Gründen nicht
mehr fortgeführt werden konnten. Das heißt es gibt schon länger
Ansätze die nicht auf medikamentöse Behandlung setzen, sondern nur
am Rande darauf. V.A.: Soteria ist doch letztlich auch aus Gründen
zum Scheitern gebracht worden, weil es einfach das System bedroht
hat. Das würde ich schon so sagen.. Also nicht weil das Geld nicht
da war. Sondern das Geld wurde nicht bereitgestellt, weil Soteria
nicht sein sollte. Das war damals revolutionär und bedrohlich.
Damals hatten wir noch eine Situation wo die meisten
Wissenschaftler absolut auf Neuroleptika gesetzt haben. Dass auch
immer viel Versprechen in die Zukunft da war: Neue Substanzen,
Alles wird besser, und Soteria stört. Also es ist nicht am Geld
gescheitert, sondern am falschen Paradigma, am bekämpften
Paradigma, das für die Biologische Psychiatrie bedrohlich wurde.
Bis hin in sehr persönliche Rochaden. Ich kenne die Situation noch
relativ gut von innen. Und jetzt kommt das schon wieder neu auf.
Weil einfach Ernüchterung im Feld ist. Also der Hype der Atypika
ist rum. Es gibt nichts neues in der Pipeline, keine Substanzen die
man mit neuen Versprechungen verbinden könnte. Wenn dann überhaupt
eine Teilsubstanz vom Cannabis, die aber nicht Cannabis ist.
Rauchen nützt nichts. Es gibt also neue biologische Substanzen die
interessant wären für Psychosenbehandlung, die aber nicht
patentgeschützt wären und deshalb keinen interessieren. Und damit
ist die biologische Kiste also relativ zu, und vieles hat nicht das
gebracht, was man noch vor fünf Jahren gehofft hat. Und die
Schädigungen werden deutlicher. Sie sind nicht mehr zu verleugnen.
Die Publikationen sind da. Der Diskurs ist mitten im Mainstream,
wie gefährlich und wie toxisch und wie schädigend Neuroleptika
wirklich sind. Und deshalb jetzt die Suche nach dem anderen, nach
den Möglichkeiten, wirklich die Dosierung auch runterzufahren.
Dadurch kriegt jetzt plötzlich Soteria auch im Mainstream wieder
eine Bedeutung. Dieser Revival. Und das gibt uns eine Chance.
(15\'17) M.O.B.: Es wird ja sehr sehr viel Geld in der Forschung
für genetische Forschung verbraten. Man hört alle paar Monate oder
alle Paar Jahre von Neuen Schizophrenie-Genen oder
Depressions-Genen oder ähnliches und es gibt kaum Gelder für
sozialpsychiatrische Forschung. V.A.: Also ich weiß nicht, wie die
Endsumme ist. Also in der Genetik ging es, das hab ich einen
Artikel schon um ca. 2000 gelesen, um 50 Milliarden an
Forschungsmitteln. Da ist mittlerweile sicherlich nochmal was rein
geflossen. Wir reden um irre Summen. Also die Ergebnisse sind
absolut ernüchternd. Nehmen wir mal Schizophrenie, da kenne ich
mich aus. Die Genetik hat erbracht, dass man heute von ungefähr 100
Teilgenen spricht, die irgendwie an der Störung und auch an anderen
Störungen beteiligt sind. Die überhaupt nicht mehr spezifisch sind
für die Schizophrenie oder die bipolare Störung. Also riesige
Überlappung in den diagnostischen Kategorien, die alle minimale
Einzeleffekte haben. Die in der Summation vielleicht einen
irgendwie bedeutsamen Effekt ergeben, aber absolut überhaupt noch
nicht erklären, warum das Ganze geschieht. Wir sind in absolut
kleinen ersten Vorverständnissen. Das sagen die Genetiker auch
selber. Zwischendurch schieben Sie mal so eine Meldung raus, als ob
jetzt damit das Problem gelöst wäre. Das verschwindet in der Regel
wieder, schon nach wenigen Monaten. Das ist so eine Art Publicity
von Wissenschaftlergruppen. Insgesamt kommt immer dabei raus, dass
ein einzelnes gehypetes Gen immer nur für eine bestimmte Labor-
oder Forschungskohorte Gültigkeit hat. Das es in der Komplexität
jedoch nicht gültig ist. Also das ebnet sich immer wieder ein. Es
ist heute sehr klar und soweit absehbar, dass sich aus der Genetik
therapeutisch auf absehbare Zeit nichts ergeben wird. Also wir
werden nichts auf der genetischen Ebene damit machen können im
Sinne von Medikation. Es dient ein wenig dem Verständnis. Und wenn
Gene überhaupt Wirkung entfalten dann wohl nur durch
Umweltbedingungen, in denen Sie angeschaltet, abgeschaltet,
verstärkt werden. Epigenetik heißt das. Gen- Umwelt- Interaktion.
Also bei den Faktoren wie biologische und psychische
Schwangerschaftskomplikationen, Geburtskomplikationen, frühe
Verlusterfahrungen, frühe instabile Umwelten, sexuelle, physische
und emotionale Traumatisierung, Vernachlässigung, auch Konflikte
der Eltern, Aufwachsen in Städten, soziale Fragmentierung, soziale
Notlagen, soziale Ablehnung und Niederlagen, Bullying,
Diskriminierung, Migration, Cannabis. Es gibt 20 bis 30 Faktoren,
die bis heute wissenschaftlich raus gearbeitet wurden. Und
ärgerlicherweise wird von all diesen Umweltfaktoren meist nur
Cannabis genannt. Und nicht sexueller Missbrauch. Oder
Vernachlässigung, oder da wo die entscheidenden biographischen
Schwierigkeiten sind.(18\'38) M.O.B.: Es gibt ja zunehmend auch in
Fachkreisen Menschen, die das Konzept der Schizophrenie in Frage
stellen, als eine unwissenschaftliche Klassifizierung und ähnliches
bezeichnen und dafür plädieren, diesen Begriff, diesen Stempel, aus
dem psychiatrischen Sprachgebrauch zu verbannen. V.A.: Das Wort
Schizophrenie ist so was von toxisch, allein deshalb sollte man
sich so schnell wie möglich davon verabschieden. Also das hat eher
was mit dem Labeling zu tun, mit der Diskriminierung. Die Japaner
haben das gemacht. Die haben einen neuen Begriff - ich weiß nicht,
das ist natürlich ein japanischer Begriff - aber es hat irgendwas
zu tun mit einem Mangel an Integration im Gehirn. also in diese
Richtung geht der Begriff. Und die haben das einfach getan und
haben damit eigentlich nur gute Erfahrungen gemacht. Man kann
plötzlich darüber reden, die Not des sich verstecken Müssens wird
geringer. Die Diskurs-Fähigkeit über die Symptome wird besser. Man
kann es auch aus therapeutischen Gründen nur empfehlen. Das ist
aber erst mal nur der Name. Der zweite Grund bezieht sich auf
Konstrukt einer psychischen Erkrankung, was deshalb bedeutsam ist,
weil jedes Konstrukt einer psychischen Erkrankung immer Ränder hat,
die immer in die Normalität reichen. Die Vorstellung man ist
entweder gesund oder krank, die ist vom Tisch, weil man aus Studien
z.B. weiß, dass etwa 5 -7 % aller Menschen wirklich Stimmenhörer
sind, wobei vielleicht am Ende ein Prozent oder vielleicht 1.5% die
Diagnose Schizophrenie erhalten. Dann ist vielleicht noch ein
bisschen Borderline dabei. Also mehr Leute hören Stimmen, die kein
Label kriegen und es auch nicht brauchen. Denn die kommen ja
irgendwie klar. Viele haben deutlich mehr gutartige Stimmen. Es
gibt sozusagen den Normalbefund einer psychotischen Phänomenologie.
Das muss man erst mal zur Kenntnis nehmen. Und darin gibt es dann
die Menschen, die Schwierigkeiten kriegen. Ob man das dann anfängt,
Krankheit zu nennen oder anders? Es ist auf jeden Fall alles ein
Konstrukt. Psychische Krankheit ist ein gesellschaftliches
Konstrukt des ausgehenden 19 Jahrhunderts. Fängt vielleicht schon
früher an. Da bin ich historisch nicht so gut drauf. Der
gesellschaftliche Konstruktionscharakter ist klar, da kann man
letztlich drüber verhandeln und das ist offen. Die Userbewegung
nimmt gerne, das weiß ich aus Amerika, den Begriff des Emotional
Distress, des subjektiven Stress der unter bestimmten Bedingungen
entsteht, den andere Krankheit nennen, aber ich nenne das
Belastungsstress. Das wäre wahrscheinlich die am wenigsten
diskriminierende Möglichkeit darüber ins Gespräch zu kommen. Und
hilfreich zu sein. Da kommt noch eine andere Sache dazu, das ist
hoffentlich nicht zu kompliziert für ein Kurzinterview, das hat mit
der Wissenschaft zu tun. Dieses Konstrukt der Schizophrenie ist
eigentlich auch wissenschaftlich gescheitert. Es gibt schon lange
die klare Erkenntnis der Psychiatrie selbst, das es nicht die
Schizophrenie gibt. „Die Schizophrenien“ hat Bleuler gesagt. Man
kann es noch mehr runter brechen, es gibt eine heterogene Gruppe
von Syndromen die man als Gesamtgruppe Schizophrenie nennt. Aber
darunter verbergen sich, manche sagen sechs verschiedene - oder
zehn oder zwanzig. Schizophrenie ist also ein Sammelsurium an
Phänomenen, die aus ganz unterschiedlichen Ursachenfaktoren
entstehen können. Von Infektion über Stress über
weiß-ich-nicht-was, über genetische Gen-Umwelt-Interaktion. Dieser
ganze Raum darunter ist sehr unterschiedlich und heterogen. In die
Falle dabei ist die Medizin geraten, also die Psychiatrie selber,
indem sie dieses ganze Sammelbecken weiterhin benutzt und darunter
nur vielfältige Befunde gefunden hat die nicht zuzuordnen sind. Und
deswegen hat sich die Psychiatrie selbst auf den Weg gemacht neue
diagnostische Kategorien zu schaffen. Das Problem ist nur: die
haben jetzt sehr basale grundsätzliche Kategorien geschaffen:
Kognition, Motivation, Affekt, Soziales, Vegetatives, und mit
diesen groben Kategorien versuchen Sie jetzt wissenschaftliche
Befunde irgendwie zusammenzufassen und daraus vielleicht in 10
Jahren, man weiß es nicht, mit neuen diagnostischen Benennungen und
Ordnungen zurückzukommen. Also ein langer Weg wo keiner weiß was
rauskommt. Und im Augenblick haben wir kein diagnostisches System
mehr, was man wissenschaftlich für sinnvoll halten könnte. Im
Augenblick leben wir von der Konvention und wir können es nicht
abschaffen, denn damit werden Leistungen verpreist bei der
Krankenkasse, damit werden Publikationen geschrieben, damit
bedienen wir Konventionen des Gesprächs in der Psychiatrie. Aber
alle wissen eigentlich das sie mit etwas arbeiten was keinen Sinn
mehr macht. Das ist einzigartig. Das haben wir so noch nicht
erlebt. [24\'53] M.O.B.: Das macht ja schon länger keinen Sinn
mehr, wenn man sich das Outcome anschaut. V.A.: Aber dass die
Psychiatrie selbst das untereinander kommuniziert, das ist schon
neu. Das DSM 5 ist ja die neue Bibel, die schon viel kritisiert
wurde, dass sie die Fabrikation von psychischer Erkrankung ist.
Thomas Insel war der Chef des National Institut of Mental Health,
das ist die größte Wissenschaftliche Forschungsabteilung der Welt,
oder der Amis, der ist jetzt in Rente gegangen. Er hat in seinem
eigenen Blog geschrieben das die Patienten Besseres verdient
hätten. Das die Art zu diagnostizieren im DSM 5 in etwa so sei, wie
wenn der Internist für Kategorien wie Brustschmerz fünf Kriterien
hätte, mit denen er Brustschmerz definiert , linke Seite, rechte
Seite, mittelschwer und attackenweise oder so. Ungefähr in diesem
Primitivraum von Diagnostik bewegt sich für einen Wissenschaftler,
also für den Vorsitzenden einer der größten wissenschaftlichen
Gesellschaften, das DSM 5. Das muss man sich vorstellen. Dass das
öffentlich so ausgedrückt wird. Das ist eine Katastrophe. M.O.B.:
Thomas Insel wird ja auch zugeschrieben der Ausspruch, dass
psychiatrische Diagnosen nicht valide seien, das man genau so gut
auch würfeln könne. V.A.: Ja, das ist ungefähr das Gleiche in noch
einfacherer Beschreibung. M.O.B.: Nochmal zurück zum Offenen
Dialog: Da wird im Volksmund immer die Frage: \"Was hast Du?“
gegenübergestellt der Frage: \"Was ist passiert?\" V.A.: Das Worte
Finden für das was man erlebt, das ist hoch bedeutsam. Und
natürlich auch für die Geschichte dessen, was man erlebt. Also was
ist passiert. Was für ein eigener Name für das gefunden wird, was
wir bisher Psychose nennen, das ist immer ein Prozess in diesen
Dialogen. Es könnte vielleicht hilfreich sein, dass Menschen einen
Namen finden für das, was sie gerade erleben. Ob das gerade
„Extremangst“ ist, oder „Stimmenhören“ oder „misstrauisch sein“.
Oder auch „verfolgt werden“. Also wie das Selbst-labeling ist, und
wie das in der Familie dann kommuniziert wird, das ist für dieses
Modell des offenen Dialoges eben ein dialogischer Prozess mit
offenem Ausgang und mit subjektiver Akzeptanz. Für die Wissenschaft
haben sie sich schon entschlossen, dann auch die vorhandenen Labels
zu nutzen weil sie ja letztendlich auch wieder Symptome zählen
müssen und diesen Verlauf über zwei Jahre ausrechnen wollen. Das
würde sie daher nicht davon abhalten, trotzdem mit den normalen
Kategorien Wissenschaft zu betreiben, aber im Wissen darum, dass es
sich um Konstrukte handelt, mit denen nur man an den Diskursen der
Wissenschaftsgemeinschaft teilhaben kann. M.O.B.: Ich hab es selber
erlebt, dass mir eine Diagnose zugeschrieben wurde. Mir der Stempel
aufgedrückt wurde: „endogene Psychose aus dem schizophrenen
Formenkreis“. Das haben andere Leute über mich gesagt, die relativ
wenig mit mir gesprochen haben. Das würde mir im Offenen Dialog
nicht passieren, oder? V.A.: Ich muss immer überlegen wie wäre das
denn jetzt in Tornio in West-Lappland. Warum ich nicht so ganz
schnell antworten kann liegt daran, dass ich gerade überlege, was
die eigentlich in ihre Dokumentation schreiben. Und was schreiben
die eigentlich in ihren Arztbrief. Und wie kommunizieren sie diese
Begriffe in ihrem Arztbrief mit den Klienten. Dass es für das
Gespräch, für das dialogische Gespräch, darum überhaupt nicht geht,
ist klar. Sondern über diese Art: Wie verstehst Du Dich selbst und
wie beschreibst du das selbst. Die eigenen Worte zu finden, ist
absoluter Kern der Methode. Wie der Umgang mit diesem Labelling ist
aufgrund von vorhandenen Diagnosekategorien, Erfordernissen der
Krankenkasse, der Wissenschaftsgemeinschaft und so weiter, das
könnte ich jetzt nicht mehr sicher sagen. Ich bin ja bald wieder
dort und nehme die Frage mit, um noch mal zu gucken: Wie fahren die
auf zwei Gleisen im klinischen Alltag. M.O.B.: Der
Krankheitsbegriff ist wichtig um abrechnen zu können, um Leistungen
bewilligt zu bekommen. Um überhaupt Arbeitsstunden bezahlen zu
können. Sowohl Soteria als auch Offener Dialog sind doch eher
personalintensiv. Da braucht man nicht nur eine Person, die die
Verschreibung ausstellt und noch jemanden der die Medikamente
verabreicht. Man braucht eine ganze Gruppe von Menschen, die
begleiten oder eben auch Gespräche führen. V.A.: Ja, das kommt
einem erst mal so vor. Es ist erst mal eine andere Resourcenlogik.
In diesem Modell beginnt man - platt gesagt - kräftig. Also die
Antwort auf die erste Krise ist ein Versuch, hochgradig passend zu
sein und alles zu tun, damit die Krise in der Normalität des Lebens
aufgelöst werden kann. Und da können relativ viele Leute an Bord
gehen. Wenn man das im Lebensraum nicht hinkriegt, dann würde man
in diesem Idealmodell auf eine Soteria zurückgreifen. Es sind
manchmal therapeutische Milieus notwendig, die die Ruhe und den
Raum haben, um zu begleiten, um sich selbst in diesem etwas
künstlichen Kontext zu finden. Das ist schon eine Situation in der
man relativ das Personal an den Anfang stellt. Was man aus den
Zahlen verlässlich ableiten kann: dass der Resourcenverbrauch am
Anfang - rein auf dieser Ebene geguckt, das klingt ein bisschen
blöd - dass der sich absolut rechnet. Also wenn man da passgenau
und intensiv ist, dann kommt man deutlich besser aus der Krise
raus, deutlich mehr in Autonomie. Und am Ende, wenn das einem
Modell gelingt, dann ist viel Personal am Anfang letztlich gar
nicht soviel. Denn es ist insgesamt nicht viel Personal. Es kommt
einem nur so vor. Das kann man sehr klar aus der Anzahl an Personal
pro Bevölkerungsgröße errechnen. Also für eine Bevölkerung von
56.000 Einwohnern haben die in Tornio 100 Mitarbeiter in der
gesamten Psychiatrie. Das ist Pipifax. Also einschließlich SGB 12,
einschließlich Tagesstätten, einschließlich allem. Das ist also
sogar da schon weniger. Und wenn es einem Versorgungssystem gelingt
75 % aller Menschen mit Psychosen auf den ersten Arbeitsmarkt zu
bringen, dann liegt darin sozusagen die Effektivität. Da rechnet
sich das System gesellschaftlich dadurch, dass die Menschen auf die
eignen Beine kommen und für ihr Leben selber sorgen können.
Deshalb: Es darf ruhig teurer sein am Anfang, weil es billiger wird
am Ende. M.O.B.: Das hat aber verschiedene Konsequenzen. Wir haben
momentan einen riesigen Wirtschaftszweig Sozialpsychiatrie. Das
heißt: wenn man die Leute erfolgreich behandelt, müsste man davon
ausgehen, dass dort durchaus Leute arbeitslos werden. V.A.: Das
glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube nicht, dass wir mit einer
neuen Praxis jetzt die Arbeitsplätze von Mitarbeitern bedrohen. Na
gut - vielleicht mache ich mir was vor. Ich sehe das nirgendwo,
denn im sozialen Raum der Professionen ist jede Menge Bedarf. Ich
sehe es an einer anderen Ecke. Ich kann persönlich sagen: Als ich
1982 in die Psychiatrie ging, war klar, die Psychiatrie ist ein
Kostenfaktor, und man kann sich gesellschaftlich einbilden, wenn es
weniger kostet und besser wird, dann freuen sich alle. Und es war
eine ziemliche Ernüchterung, dass ich im Laufe der letzten fünfzehn
Jahre erst langsam gemerkt habe: Das hat sich längst gedreht.
Krankheit ist zur Ware geworden. Kliniken rechnen sich. Das wusste
ich zwar vorher schon, aber die rechnen sich so kräftig, dass man
sie echt am Netz halten will. Und auch Chronifizierungen sind ein
Geschäft. Auch im SGB-12-Bereich. Und dass sich letztlich die
Handlungslogik perfide umgedreht hat und letztlich keiner daran
interessiert ist, Menschen in Autonomie zu bringen, weil das System
damit Geld macht. Das war am Anfang, als ich in die Psychiatrie
kam, noch nicht so. Das hat was mit der Ökonomisierung des
Gesundheitssektors zu tun. Das war für uns als Arbeitende im
Bereich von Erkrankungen und Gesundheit wahrscheinlich die dümmste
gesellschaftliche Wende, die man eingeleitet hat. Daran sind auch
die Sozialdemokraten, und auch die Grünen mit beteiligt gewesen. Da
war ein ungeheure Naivität in dem Wort Kundenorientierung. Man hat
vielleicht mal geglaubt, man würde damit eine Art von
partizipativer Idee einbringen, doch das war reine Kapital-Logik.
In der steckt der größte Pessimismus, den ich hab. Das wir diese
Logik nicht gedreht kriegen. (41:00) M.O.B.: Aber das ist ja eine
gesellschaftliche Logik. Die verfolgt uns ja an allen Ecken. V.A.:
Der Kapitalismus in seiner liberalisierenden Form ist ja auch
ernüchternd in die Sackgasse geraten. Dass man den nun nicht so
schnell gedreht kriegt, da bin ich mir sehr sicher. Vielleicht
entstehen neue ökonomische Modelle, aber in Sicht sind die ja noch
gar nicht. Ich hätte mir wenigstens gewünscht, dass man das, was
eine Gesellschaft braucht, um ihre Menschen gesund zu erhalten,
dass man dem die Eigenlogik belässt und nicht dem Generieren von
Gewinnen unterwirft. Ich hätte mir diesen Bereich wenigstens als
eine gewisse exklusive gesellschaftliche Aufgabe erhalten. Aber das
war auch gar nicht möglich. Und auch wenn das System selbst jetzt
in einer Krise ist, wäre ich absolut zu optimistisch, wenn ich
glauben würde, dass wir darauf warten könnten, dass sich das Ganze
dreht. Da bin ich sehr gespannt. Aber ich sehe da eher hochgradige
Dilemmata. M.O.B.: 40 Jahre nach der damaligen Enquete hat die DGSP
jetzt endlich mal Absetzvorschläge für Neuroleptika raus gebracht.
Auch da bewegt sich was. Können wir nicht die Hoffnung, haben dass
sich auch im Bereich der Psychiatrie vielleicht schrittweise etwas
verbessert? V.A.: Ja, da bin ich wieder Optimist. Ich finde das
absolut. Wir haben im Augenblick die größten Chancen, seitdem ich
in der Psychiatrie arbeite. Ich freue mich daran, was ich das jetzt
am Ende meiner beruflichen Zeit noch miterleben kann. Und ich finde
schon, wir haben große Chancen. Ich glaube wir müssen auch die
Psychiatrie an Ihren Schwierigkeiten offensiv stellen. Wir müssen
aufklären darüber, wie schlecht die Psychiatrie ist. Sie wird
schöngeredet, und da habe ich mir zu Aufgabe gemacht, auf möglichst
viele Schwierigkeiten mit möglichst viel Aufklärung und
Gegendarstellung zu antworten. Und deswegen, mit der Kritik der
bestehenden Psychiatrie sehe ich eine Menge Potential für eine neue
Paradigmen kommen. Wir haben schon relativ viel, wir können die gut
weiterentwickeln, da ist viel Luft nach oben, da bin ich
optimistisch, ich bin mit dem ökonomischen Teil pessimistisch. Mit
der Not. Mit der Suche nach einem neuen Paradigma da bin ich
wiederum optimistisch. Wie die beiden sich beißen oder ergänzen wie
das eine das andere kaputtmacht oder aushebelt, das kann ich
überhaupt nicht sagen, das weiß ich nicht. Aber ich weiß, ich
kämpfe auf der Seite des neuen Paradigmas. M.O.B.: Auf der andern
Seite sehe ich: Obwohl es den Leuten nicht wirklich schlechter
geht, werden immer mehr Leute diagnostiziert. Der Verbrauch von
Psychopharmaka ist in den letzten Jahrzehnten massiv angestiegen.
Das ist vielleicht schon 10 mal soviel wie in den 80er
Jahren.Vielleicht sogar noch mehr. Ich weiß es nicht genau die
Zahlen. Da sieht man schon, dass das Geschäft eine ganz große Rolle
spielt. Auch die Pharmaindustrie propagiert ja die Erkrankung oder
Krankheiten. „Lasst Euch auf Diabetes untersuchen“ das dient dem
Verkauf von Medikamenten genau so wie „Lasst euch auf Depression
untersuchen“. V.A.: Ja die Versorgungsrealität ist ein
Flickenteppich, die ist ernüchternd schlecht. Und da sehe ich auch
in vielen Regionen noch keinen Dreh. Ich sehe die Suche nach dem
neuen Paradigma eher im Bereich der Entwicklung. Also da, wo
Projekte entstehen, wo Psychiatrie neu gedacht wird. Da entsteht
Raum für Neues, was noch nie so offen war. Immer noch nicht
unheimlich offen, denn was den Alltag der Psychiatrie angeht, das
weiß man ja auch, das schleppt sich immer lange hinterher. Bis das,
was wir vielleicht jetzt neu denken, im Alltag in möglichst vielen
Regionen angekommen ist, da vergehen in der Regel locker 10 Jahre.
Das ist die Tragik. Man könnte hoffen, dass das über die modernen
Informationsmedien und die ganze logistische Innovation vielleicht
ein bisschen schneller geht. Aber dieses Missverhältnis ist absolut
da. Und dass die Pillen im Augenblick immer noch das Schlachtschiff
der Psychiatrie sind, der Rezeptblock. Und dass die Psychotherapie
immer noch nicht in der Psychiatrie angekommen ist, dass die sich
mit leichten Störungen auseinandersetzen. Dass sich jeder
Psychotherapeut die Patienten aussucht, die gerade auf der
Warteliste sind, das sind einfach ernüchternde Tatbestände, die
haben wir mit diesen Neuen Ideen noch lange nicht verändert. Da
braucht es jede Menge Druck. Kritik, Druck, Aufklärung…. M.O.B.:
Der Dachverband Gemeindepsychiatrie hat kürzlich eine Tagung
gemacht da ging es um „Zukunft der Gemeindepsychiatrie“. Vom
Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener kam dann der Zukunfts-Entwurf
„Gemeinde ohne Psychiatrie“. Wäre es denkbar, Psychiatrie zu
überwinden? V.A.: Na ja, das ist am Ende wahrscheinlich eine Sache
auch des Namens. Ich hab mich damit noch nicht richtig beschäftigt
und muss mich gerade ein bisschen rein denken. Es gibt ja auch die
Postpsychiatrie. Die Idee, wie kommt man dahinter. Ich glaube ja
schon, dass man die Psychiatrie nicht überwindet, indem man drüber
springt. Die Leute sind da, die Kliniken sind da, die Teams sind
da, die Mitarbeiter sind da. Man muss schon - in meiner Art die
Dinge zu sehen und zu verändern - man muss in die Psychiatrie, und
die Psychiatrie nehmen wie sie ist, und dann verändern. Dass man
über sie drüber springen kann, und jenseits der Psychiatrie etwas
ganz Neues entsteht, das ganz anders wäre und ganz anders heißt,
wäre vielleicht eine interessante Idee. Aber ich halte das für so
unrealistisch, dass ich mich auf den Kern der Arbeit mache und von
Region zu Region fahre, von Team zu Team, und versuche Samenkörner
zu setzen, Menschen in etwas Neues zu bringen. Die Psychiatrie
schon als Psychiatrie zu nehmen und zu verändern. Dass dabei
vielleicht etwas über sie hinaus weitergeht, das würde mich
wahrscheinlich freuen - ich weiß ja nicht, was es dann ist - und
dass es vielleicht gut wäre... Ja wenn man ein die Vision hätte,
das müsste mit möglichst wenig Diskriminierung, mit möglichst wenig
Selbstentfremdung, mit möglichst hoher Normalität, mit allen
möglichen Ressourcen des normalen Lebens verbunden sein. Dass es
darin vielleicht Gesundheitsarbeiter gäbe, die sich zur Verfügung
stellen um Menschen durch Krisen zu helfen, zu begleiten. Und dass
die einen andern Namen hätten als Psychiatrie. Dass man wenig in
Institutionen steckt. Dass man gut ausgebildete Leute hat, die ihr
Handwerk verstehen und auf Beziehungsebene im Sozialraum antworten
können. Dazu hätte ich schon die Phantasie und das würde ich auch
nicht mehr Psychiatrie nennen. Aber das ist eine Vision. Aber
ausgehen wird das von der Psychiatrie. Und deswegen denke ich noch
nicht Postpsychiatrie. M.O.B.: Okay, letzte Frage: Was wären denn
die Schritte, die man sich von der Psychiatrie oder in der
Psychiatrie wünschen sollte, wünschen kann? V.A.:
Erfahrungsexperten ins System holen. Nicht nur irgendwo in einem
kleinen Zimmer für ein Beratungsgespräch oder ein
Informationsgespräch, sondern in die Teams. In jedes Team. So
viele, dass sie sich darin ausreichend wohlfühlen und gesehen
werden. Außerdem ist es ein schöner Arbeitsmarkt. Das ist schon
wieder Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt. Sie dabei gut bezahlen.
Ernst nehmen. Das ändert viel. Das ändert Sprache, das ändert
Denken. Als Klinik würde ich jede Möglichkeit nehmen, mich zu
flexibilisieren. Wir haben ja vermutlich bald im neuen
Entgeltgesetz die Möglichkeit für die Klinken raus zu gehen und auf
eine multiprofessionelle Team-Ebene zu kommen. Multiprofessionelle
Teams im Lebensfeld. Das ist so die strukturell für mich wichtigste
Komponente des Fortschritts, weil man damit viel machen kann. Also
das wäre der zweite Schritt - Multiprofessionelle Teams mobil im
Lebensfeld. Raus aus den Institutionen. Der Dritte Schritt wäre,
denen die therapeutische Kompetenz zu geben, nicht nur mit einem
Klienten zu arbeiten, sondern mit sozialen Netzwerken. Dem
Lebensfeld. Sich in den Lebensorten der Menschen für sie angemessen
zur Verfügung zu stellen. Ressourcen aufzutun. Nächster Schritt:
Medikamente runter fahren. Das kann man jetzt schon, aber man kann
es natürlich noch viel mehr, wenn man das andere auch kann. Das ist
immer so ein hinterher laufen lassen oder mit nebenher laufen
lassen. Gute Psychotherapie auch in die Psychiatrie holen. Es gibt
für jede Psychische Störung ein wirksames psychotherapeutisches
Verfahren. Diese Beliebigkeit psychotherapeutischer Versorgung
aufzugeben und Psychotherapeuten genau so wie andere Berufe zu
verpflichten etwas sicherzustellen, was Menschen mit psychischen
Erkrankungen betrifft. Also das sind 1,5 Millionen Menschen im
Durchschnitt der Bevölkerung. Das sie ein Anrecht haben auf
Psychotherapie. Das gehört auch noch rein. Ja, ich glaub das wären
für mich die Schritte erstmal, mehr fällt mir im Augenblick nicht
ein. M.O.B.: Mir fällt noch die Selbsthilfe ein. Mir fällt noch
ein: überhaupt eine andere Form von Aufklärung und Öffentlichkeit.
Auch das Vertrauen, so eine Psychose die geht auch wieder vorbei.
Nicht das es eine schreckliche Krankheit ist, die wir sofort
behandeln müssen. Mir fällt auch ein: Unterstützung der Familien
und des Umfeldes, der Angehörigen. Mich gruselt es auch immer
wieder wenn ich von aufsuchenden multiprofessionellen Teams höre,
dann denke ich immer an Medikamententaxis. Diese „Stations-adäquate
Behandlung“ ist auch eine Gruselvorstellung. V.A.: Ja, das kann ich
absolut verstehen. Finde ich auch, das ist ein Risiko. Das was Du
beschrieben hast, wirklich mit Angehörigen, Betroffenen, sozialen
Netzwerken zusammenzuarbeiten, das ist ja der Offene Dialog. Dies
oder so was ähnliches ist für mich absolut notwendig, damit daraus
nicht Akut-Teams mit Depotspritzen werden. Ich sehe das Risiko
eines biologischen Paradigmas auf Schmalspur, als Akutintervention
mit Übergriffscharakter (M.O. : Hometreatment) V.A.: Hometreatment:
Bumm! Das ist eine wirkliche Gefahr, dadurch das die Tür an der
falschen Stelle aufgeht oder mit einem falschen Paradigma. Muss man
sehr drauf achten. Das ist kein Prozess ohne Risiko, garantiert
nicht. M.O.B.: Mit Blick auf die Uhr: Was wäre noch eine guter
Abschluss? Was fehlt noch? V.A.: Geduld. Nicht aufgeben. Sich
zusammentun. Betroffene mit einbeziehen. Professionen miteinander
in Kontakt bringen. Die eigene Enge immer wieder aufzumachen. Und
das System da wo es Mist baut, auch unter Druck zu setzen und dies
öffentlich zu machen. Fixierung, Unterbringung, schlechte
Stationen. Eine Art von verkommener Psychiatrie auch zu
skandalisieren, finde ich wichtig. Nichts schön zu reden. Und jeder
findet garantiert an seiner Stelle irgend etwas, wo er seinen
Beitrag leisten kann, um in eine Richtung zu kommen, die eine
menschengerechte Psychiatrie entstehen lässt. Insofern kann jeder
bei sich selber anfangen. M.O.B.: Das selbe könnte man auch über
unsere Gesellschaft sagen. V.A.: Ja klar. Wir sind ja ein Teil
davon. Wir sind ja nicht anders. Aber wir sind eben dieser Teil.
Und deswegen: Am Besten fängt man nicht zu groß an. Sondern so,
dass man dranbleiben kann. M.O.B.: Soweit Dr. Volkmar Aderhold, den
ich am Rande einer Fortbildung in Koblenz sprechen durfte. Und
soweit auch mit der Sendung Vielfalter Magazin gegen Monokultur. In
dem Gespräch haben wir auf Peter Gøtzsche hingewiesen, Peter
Gøtzsche hat die Bücher geschrieben „Tödliche Medizin und
organisierte Kriminalität“ sowie das Buch „Tödliche Psychopharmaka
und organisiertes Leugnen“ Dieses Buch ist im Mai im Riva-Verlag
erschienen, kostet 25 Euro und gibt einiges an Einblicken in den
Psychopharmaka-Markt und die üblen Machenschaften, die dort laufen
und auch auf die üblen Wirkungen, die das Zeugs zum Teil haben
kann. Wie gesagt, Prof. Gøtzsche ist der Meinung, dass man auf 80 %
der Psychopharmaka durchaus verzichten könnte. Das war´s auch mit
\'VielFalter - Magazin gegen Monokultur\'. Wer diese Sendung
mit-gestalten mag, kann sich wenden an vielfalter(ät)rdl.de oder
eine Nachricht hinterlassen unter 0761 3848380 oder per Post - auch
eigene Beiträge vielleicht schicken - an Radio Dreyeckland,
Adlerstraße 12, 79098 Freiburg ,Redaktion \'VielFalter\' im
Gruppenradio. Ich danke für´s Zuhören und freue mich auf
Rückmeldungen, Anregungen und Unterstützung. Soweit das Transkript
der Sendung vom 28. Juli 2016:
http://vielfalter.podspot.de/files/julisendung016.mp3 Vielen Dank
an Sandra für ihre Arbeit an der Verschriftlichung und an alle
Unterstützer*innen, die mir - zum Beispiel via
https://www.paypal.me/VielFalter - auch in engen Zeiten die Arbeit
an diesen Sendungen ermöglichen!
____________________________________________________________________________
https://schizophreniabulletin.oxfordjournals.org/content/32/1/9.full
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2669589/
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4039199/
https://www.researchgate.net/publication/47743033_The_environment_and_schizophrenia
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4188923/
http://www.eu-gei.eu/files/2796/schizophrenia+research+102+(2008).pdf
http://ajp.psychiatryonline.org/doi/full/10.1176/appi.ajp.2007.07101573
http://www.nature.com/nrn/journal/v8/n5/full/nrn2132.html
https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/s-2005-870996.pdf

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