Diesseits des Furchtbaren – Weihnachten als Seitenwechsel, Deutschlandfunk 31. Dezember 2021

Diesseits des Furchtbaren – Weihnachten als Seitenwechsel, Deutschlandfunk 31. Dezember 2021

4 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

Heute ist der letzte Tag im Jahr. Und viele Menschen hat das
vergangene Jahr das Fürchten gelehrt.


„Fürchtet euch nicht!“ Mit diesem Wort des Engels beginnt im
Lukasevangelium der Bibel die Weihnachtsbotschaft an die Hirten
auf den Feldern bei Bethlehem. Wenn man mir als Kind sagte: Hab
keine Angst!, dann hieß das meistens so was wie: Der Hund will
nur spielen. Anders gesagt: Es gibt gar keinen Grund, sich zu
fürchten.


Für viele Menschen gibt es aber Gründe zur Furcht: vor der
Krankheit oder den Kranken, vor dem Fremdsein oder den Fremden.
Furcht vor Veränderungen des Klimas, vor Radikalisierung oder
Terror. Furcht vor dem Scheitern im Beruf oder in der Ehe. Furcht
vor der Spaltung der Familie, der Gesellschaft oder der Kirche –
und in allem die Furcht vor Sterben und Tod.


Es sind Hirten, die als erstes von der Geburt Jesu erfahren.
Einfache Menschen mit einem unverstellten Zugang zur Welt.
Menschen, die noch wissen, dass die Welt geheimnisvoll ist. Nicht
etwa deshalb, weil wir noch nicht alles rausgefunden haben.
Sondern weil es Dinge gibt, die wir prinzipiell nicht rausfinden
können. Sie bleiben uns unverfügbar. Sie müssen sich erst zeigen,
wenn wir sie denn wahrnehmen sollen. Und sie können sich nur
denen zeigen, die dafür bereit und offen sind und die nicht schon
allzu genau zu wissen meinen, was es geben kann und was nicht.
Deshalb sehen Kinder manchmal mehr als Erwachsene. Und deshalb
wird jemand, der sich nicht lieben lassen will, nie wissen, was
Liebe ist.


Ich stelle mir vor, dass die Hirten einen Blitz lang gesehen
haben, was die Texte der Bibel die „Herrlichkeit Gottes“ und die
alten Glaubensbekenntnisse der Kirche die „unsichtbare Welt“; die
Engel und die „himmlischen Heerscharen“, jene Mächte und
Gewalten, die im Gottesdienst der Kirche noch genannt, aber
ansonsten außerhalb der Esoterik praktisch nicht mehr ernst
genommen werden. Die Hirten sehen für einen Augenblick über
unseren begrenzten Gesichtskreis hinaus. Sie schauen die
himmlische Herrlichkeit, die uns nach dem Zeugnis der Bibel, der
Mystik und der Lehre der Christen unsichtbar umgibt. Die ist
schön und furchtbar zugleich, weil sie unendlich viel größer und
mächtiger ist als alles, was unser eigenes Leben bedroht und
gefährlich macht.


Deshalb kommt Gott als ein Kind. Die Weihnachtsbotschaft an die
Hirten lautet nicht: Fürchtet Euch nicht, denn Gott ist harmlos!
– Nein, die Botschaft von Weihnachten lautet: Fürchtet Euch
nicht, denn Euer Retter kommt als „ein Kind, […] in Windeln
gewickelt“! Warum? Damit Ihr Euch nicht auch vor ihm noch
fürchtet – genauso wie ihr Euch vor den Mächten fürchtet, die
Euer Leben bedrohen.


An Weihnachten geschieht ein Seitenwechsel. Gott wird in Jesus
einer von uns. Gott kommt aus dem Jenseits ins Diesseits.
Jenseits und diesseits von was? Wenn Menschen vom „Jenseits“
sprechen, dann meinen sie in der Regel den Tod oder das Leben
nach dem Tod. Das macht Sinn. Aber Gott kommt nicht nur von
jenseits des Todes zu uns. Er kommt auch von jenseits all dessen
zu uns, was tödlich ist, was unser Leben eintrübt und bedrückt,
uns mutlos, untröstlich oder schuldig werden lässt.


Mit der Geburt Christi beginnt eine neue Art der Gottesbeziehung.
Gott ist nicht mehr nur ein jenseitiger Gott, von dem wir
erwarten, dass er endlich abschafft, was uns diesseitig leiden
macht. Sondern er ist der Gott, der als Mensch auf diese unsere
Seite kommt, damit wir uns vor dem Furchtbaren nicht mehr
fürchten, damit wir mit ihm verbunden und füreinander da sind und
damit wir auf dem Weg zu unserem Ziel hin bestehen.


An Weihnachten Gott kommt als ein Mensch in die Welt, damit wir
Menschen in seiner geliebten und gefährlichen Welt mutig werden –
und uns nicht mehr fürchten als unbedingt nötig.


Fra' Georg Lengerke


Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 31.12.2021 als Morgenandacht im
Deutschlandfunk gesendet.

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