Runterkommen um aufzusteigen Lk 19,1-10

Runterkommen um aufzusteigen Lk 19,1-10

4 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

Gerade war ich für einige Tage in Brügge. Die mittelalterliche
Stadt, die Kirchen und Museen, der Blick vom Belfried über Stadt
und Land und die Gespräche mit einem Freund waren ein wichtiger
Perspektivenwechsel.


Wer den Überblick haben will, braucht einen Perspektivenwechsel.
In der Landschaft kann das eine Anhöhe sein. In den
Herausforderungen unseres Alltags eine Viertelstunde Reflexion am
Tag. Oder auch einige Tage alle paar Monate. Wir brauchen solche
Perspektivenwechsel, um zu erkennen, wo wir stehen, worauf es
ankommt und worum es uns gehen soll.


Für den Zöllner Zachäus ist der Ort des Perspektivenwechsels ein
Baum. Auf den klettert er, um Jesus zu sehen. Dem kleinen Zöllner
versperren die Leute den Blick. Die Leute, schreiben die
Kirchenväter, erinnern uns an die Laster, die uns den Blick auf
das Gute und den Guten versperren, oder an die Sorgen, die uns
die Aussicht auf die Freude nehmen.


Manchmal kann der Ort des Perspektivenwechsels aber auch den
Blick verstellen oder in die verkehrte Richtung lenken. Zum
Beispiel wenn jemand die Sicht von dort für die einzige hält.
Oder wenn er seine dort oben vorgestellte Welt mit der realen
Welt verwechselt und in sie nicht mehr zurückkehren will.


„Komm schnell herunter!“ ruft Jesus dem Zöllner zu. Komm runter
vom Baum auf den Boden. Komm runter in den Alltag. Komm runter zu
den Leuten, die du betrogen hast und die dich verachten. Komm
runter dahin, wo das wirkliche, raue, manchmal sogar gefährliche
Leben ist. Komm runter dahin, wo ich bin.


Mich erreicht dieses „Komm ´runter!“ immer wieder sehr. So
richtig und wichtig der Perspektivenwechsel, die Pause, ein
zeitweiliger Entzug sein kann – irgendwann heißt es dann doch:
Komm runter! Wenn ich mich empöre; wenn ich mich in meiner
Opferburg verbarrikadiere; wenn ich meine Sicht für die einzige
Perspektive halte… Vor allem aber dann, wenn ich mich in eine
Scheinwelt flüchte, höre ich den Herrn sagen: Komm schnell
herunter!


Gott hat selbst genau das getan, was er jetzt von Zachäus will:
Er ist heruntergekommen. In einem Weihnachtslied bitten wir sogar
darum: Komm herunter!: „O komm, ach komm vom höchsten Saal, Komm
tröst‘ uns hier im Jammertal“


Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Christus steigt aus der
seiner Wirklichkeit in unsere Scheinwelt herunter. Wir sollen aus
unserer Scheinwelt in seine Wirklichkeit heruntersteigen.


Christus steigt aus der Wirklichkeit Gottes in unsere Scheinwelt
hinab, in der er Zachäus und uns die Wahrheit des von Gott
geliebten Menschen offenbart. Zachäus und wir sollen aus unserer
Scheinwelt in die Wirklichkeit der Liebe Gottes hinabsteigen, wo
uns mit Zachäus das Heil der menschgewordenen Liebe Gottes
zuteilwird.


Gott will bei uns Menschen sein, damit wir Menschen zu Gott
kommen. „Heute muss ich in deinem Haus bleiben.“ Wer dorthin
heruntersteigt, wohin Gott als Mensch heruntergestiegen ist und
wie Zachäus den Menschgewordenen einlässt in sein Lebenshaus, der
steigt auf in die neue Realität der Liebe Gottes – zu ihm und zu
seinem Nächsten.


Aus Brügge kommend, bin ich nun wieder im Alltag. Und ich frage
mich täglich, wo das ist, wohin ich heute mit ihm heruntersteigen
soll und wie er zu Gast sein will in meinem Lebenshaus.


Fra' Georg Lengerke

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