Und wenn alle – ich nicht? (Morgenandacht DLF vom 4. April 2023)

Und wenn alle – ich nicht? (Morgenandacht DLF vom 4. April 2023)

4 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

„Et si omnes ego non“. So steht es in weißen Buchstaben auf dem
roten Fachwerk eines Hauses in Kreuzberg an der Ahr. „Und wenn
alle – ich nicht.“ Das war das Lebensmotto von Philipp von
Boeselager (1917-2008), der dort seine letzten Lebensjahre
verbrachte. Er war an der Vorbereitung des gescheiterten
Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt. Er wurde nicht
entdeckt und überlebte. „Und wenn alle – ich nicht“, das war eine
Entscheidung zum Widerstand gegen die Masse und den Mainstream,
gegen das Allgemeine und das Gemeine.


Im Original stammt dieser Satz vom Apostel Petrus. Kurz vor dem
Leiden Jesu sagt er zu ihm: „Und wenn alle an dir Anstoß nehmen -
ich werde niemals an dir Anstoß nehmen!“ (Mt 26,33)


Schon zuvor neigte Petrus allerdings zum Übermut. Als Jesus
einmal davon sprach, dass er in Jerusalem leiden und sterben
werde, hatte Petrus ihm scharf widersprochen: „Das darf nicht mit
dir geschehen!“ (Mt 16,22) Nirgendwo in der Bibel weist Jesus
einen Menschen so harsch zurecht wie an dieser Stelle den Petrus.
Er sagt zu ihm: „Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist
du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern
was die Menschen wollen.“


Petrus wollte sich Jesus aus Liebe in den Weg stellen. Denn zur
Freundschaft gehört es, den Freund vor dem Leiden zu bewahren.
Was Petrus jedoch noch nicht wusste, war, dass er sich mit diesem
Protest der göttlichen Liebe selbst in den Weg stellte. Und die
muss dahin gehen, wo die Schuld und der Schmerz am größten und
das Erbarmen und die Erlösung Gottes am nötigsten ist. Er sollte
Jesus nicht voran-, sondern hinterhergehen. Und zwar soweit es
ging.


Wie weit das sein würde, das wurde für die Jünger immer
unsicherer. Bis Jesus ihnen beim Abendmahl sagt, einer von ihnen
werde ihn verraten. Einer nach dem anderen fragt: „Bin ich es
etwa, Herr?“ Jetzt ahnte jeder, dass die Möglichkeit des Verrates
auch in ihm steckte.


Als Jesus später ankündigt, dass alle an ihm Anstoß nehmen und
ihn verlassen würden, bricht aus Petrus der alte Übermut ein
letztes Mal heraus: „Wenn auch alle – ich nicht!“ Und Jesus sagt
ihm, dass er ihn noch vor dem Hahnenschrei dreimal verleugnen
werde. Als wenig später Jesus verhaftet wird, fliehen die Jünger.
Alle. Auch Petrus. Und als er sich später nochmal in die Nähe
Jesu traut, wird er auf ihn angesprochen und verleugnet ihn: „Ich
kenne diesen Menschen nicht!“


Warum hat Philipp von Boeselager sich ausgerechnet dieses Wort
als Lebensmotto gewählt? Wenn Petrus selbst sich offensichtlich
überschätzt und Jesus wenig später eben doch verlassen hat –
genau wie alle anderen auch. Als ich mit Boeselager einmal über
den Druck auf Menschen im Widerstand gegen übermächtiges Unrecht
sprach, sagte er, wir könnten uns unserer selbst halt niemals
sicher sein. Auch er war sich seiner selbst nicht sicher: Weil er
fürchtete, unter der Folter sofort zusammenzubrechen, trug er bis
Kriegsende für den Fall seiner Verhaftung immer eine
Zyankali-Kapsel bei sich. Bei Vorträgen pflegte er zu sagen: „Die
Überlebenden einer Tragödie sind niemals deren Helden.“


Wenn andere vor großen Herausforderungen ängstlich werden, dann
muss ich mich immer erinnern, dass ich nicht an ihrer Stelle bin.
Ich weiß nicht, ob ich den Heldenmut gehabt hätte, den ich von
ihnen erwarte. Petrus wollte ein Held sein und für Jesus sterben.
Doch am Vorabend von Ostern kehrt sich für ihn die Geschichte um:
Nicht er stirbt für die Liebe. Zuerst stirbt die Liebe für ihn.
Und sie siegt ein für alle Mal dort, wo sie auch am Kreuz und im
Hass die Liebe bleibt.


Der Glaube an diese vorausgehende Liebe Gottes hat seither
unzähligen Menschen den Mut gegeben, beides zu tun: sich ihrer
Schwachheit zu stellen – und diese Entscheidung zu wagen: „Wenn
auch alle – ich nicht.“


Fra' Georg Lengerke

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