Anspruch und Wirklichkeit Mt 21,28-32

Anspruch und Wirklichkeit Mt 21,28-32

5 Minuten

Beschreibung

vor 7 Monaten

Ich sitze im Zug nach Köln und habe 23 Minuten Verspätung. Der
BetDenkzettel, den ich gerade schreibe, hätte schon gestern
fertig sein sollen. Auf eine für vorgestern versprochene Antwort
warte ich noch heute.


Anspruch und Wirklichkeit fallen auseinander. Dauernd. Das ist
einerseits ärgerlich, andererseits ist das normal.


Normal ist es, weil Anspruch und Wirklichkeit zwei verschiedene
Sachverhalte sind. Die Wirklichkeit ist das, was ist. Der
Anspruch ist das, was sein soll. Die Wirklichkeit ist, dass ich
um 6 Uhr schlafe. Der Anspruch ist, dass ich um 6 Uhr aufstehe.


Ärgerlich ist das Auseinanderfallen von Anspruch und
Wirklichkeit, wenn beide nicht zueinander finden und es um
wichtige Dinge geht.


Noch ärgerlicher ist, wenn Menschen beginnen, sich daran zu
gewöhnen, dass Anspruch und Wirklichkeit unverbunden
nebeneinander stehen.


So geht es mir gerade mit der Bahn. Manchmal auch in der Kirche
oder mit manchen Menschen. Und leider manchmal auch mit mir
selbst.


Ganz schlimm wird’s, wenn dieses Auseinanderfallen den
Enttäuschten dann irgendwann wurscht ist. Der unverwirklichte
Anspruch ist dann nur noch Gerede. Und die unangesprochene
Wirklichkeit gilt als unverbesserlich oder nicht mehr zu retten.


Dahin soll es bei mir nicht kommen, wenn es um meine Nächsten
geht. Oder um die Kirche. – Oder sogar um die Bahn.


Wenn Anspruch und Wirklichkeit sich partout nicht finden und
nicht übereinkommen, dann stimmt entweder etwas mit dem Anspruch
oder mit der Wirklichkeit nicht.


Jesus erzählt von zwei Söhnen, die der Vater zum Arbeiten in
seinen Weinberg schickt. Der eine sagt nein und geht doch. Der
andere sagt ja und geht nicht.


„Wer hat den Willen seines Vaters erfüllt?“, fragt Jesus. „Der
Erste“, lautet die richtige Antwort seiner Zuhörer. Da dachten
sie vielleicht noch, Jesus wolle mit ihnen ein akademisches
Gespräch über das rechte Tun führen.


Doch dann werden sie mit dem ungeheuerlichsten Vergleich
konfrontiert: „Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das
Reich Gottes als ihr.“ Nicht, weil „Zöllner und Dirnen“ in
Wirklichkeit die besseren, authentischeren oder normaleren
Menschen wären. Wir dürfen uns da ruhig den schlimmsten Vergleich
mit Leuten vorstellen, mit denen wir ungern in einem Atemzug
genannt werden würden…


Die „Zöllner und Dirnen“ sind die, deren Lebenswirklichkeit
soweit vom Anspruch Gottes, also vom Anspruch des Guten, der
Wahrheit und der Liebe entfernt ist, dass die „normalen Leute“
sich gegraust abwenden. Damals wie heute.


Sie, sagt Jesus, haben der Stimme Johannes‘ des Täufers, der
Stimme der Gerechtigkeit und der Umkehr geglaubt. – Ihr aber
nicht. Und selbst als sie geglaubt und sich bekehrt haben und Ihr
das gesehen habt, habt Ihr nicht geglaubt.


Ihr habt Euch unerreichbar gemacht. Ihr habt Euch eingerichtet.
Ihr merkt gar nicht mehr, dass Ihr nur noch so tut, als ob.


Die „Zöllner und Dirnen“, die sich vom Anspruch Gottes haben
erreichen lassen, stellen mich vor die Frage, ob das bei mir so
ist: Ob ich ja sage, aber nicht tue, was ich bejahe. Oder ob ich
nein sage und es mich reuen sollte.


Wie wäre das, wenn der Anspruch des Guten und die Wirklichkeit
eins wären? Es gibt einen Menschen, bei dem das der Fall ist.
Jesus ist das Wort und der Anspruch Gottes in Person. Jesus ist,
was er sagt. Und er sagt, was er ist.


Ihm kann ich glauben, dass sein Anspruch keine Überforderung,
keine Verfremdung und keine Verengung meines Lebens bedeutet.
Sondern ein Wachsen ins Eigentliche und in eine immer größere
Freiheit.


Und an ihm liebe ich, dass er das Auseinanderfallen von Anspruch
und Wirklichkeit erträgt – bis dahin, dass er ausgespannt
zwischen Himmel und Erde stirbt und noch im Sterben liebt.


Und mit ihm will ich die unerlöste Welt aushalten und lieben,
weil seine Liebe die einzige Macht ist, die die Welt und uns
Menschen erlösen und heil machen kann.


Und dann ist die Deutsche Bahn mein kleinstes Problem.


Fra' Georg Lengerke



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