Ortsgedächtnis für Blütenpositionen bei der Blütenfledermaus Glossophaga soricina

Ortsgedächtnis für Blütenpositionen bei der Blütenfledermaus Glossophaga soricina

Beschreibung

vor 20 Jahren
Die Nahrungssuche ist für Tiere kein triviales Verhaltensproblem.
Nahrung ist im Habitat eines Tieres selten homogen verteilt, wobei
räumliche Heterogenität unter anderem durch das zeitliche Muster
der Ressourcenerneuerung und durch die Nahrungssuche der Tiere
selbst verursacht wird. Besonders bei sich rasch erneuernden
Nahrungsquellen wie z.B. Blütennektar ist es für viele Tiere von
Vorteil, sich einerseits den Ort dieser Quellen zu merken, um
wieder dorthin zurückzukehren, andererseits jedoch eine Rückkehr
vor einer rentablen Ressourcenerneuerung zu vermeiden. Blüten sind
ortskonstant und produzieren Nektar über einige Zeit hinweg. Ein
gutes Ortsgedächtnis sowie die Fähigkeit, vorzeitige Wiederbesuche
einer Blüte zu meiden, können somit die Effizienz der Nahrungssuche
beträchtlich steigern. Viele der neotropischen
Blütenfledermausarten (Phyllostomidae, Glossophaginae) ernähren
sich hauptsächlich von Nektar. Sie ermöglichen daher die
Untersuchung eines spezialisierten Ortsgedächtnisses bei einem
Säugetier. Die vorliegende Doktorarbeit hatte zwei Ziele: 1. Die
Entwicklung eines neuartigen, computergesteuerten Versuchssystems
zur automatisierten Durchführung sequenzieller
Verhaltensexperimente mit mehreren Individuen (Kapitel 1). 2. Die
Untersuchung des Ortsgedächtnisses von Blütenfledermäusen für
kleinräumige Blütenansammlungen unter Verwendung dieses Systems
(Kapitel 2 bis 5). Das Versuchssystem (Kapitel 1) umfasst ein
computergesteuertes künstliches Blütenfeld mit 64 Kunstblüten sowie
6 ebenfalls computergesteuerte Käfige. Das Blütenfeld stellt eine
Nahrungsareal dar, dessen einzelne Futterquellen eine
rechnergesteuerte Ergiebigkeit haben und deren wahrnehmbare
Erscheinung für drei Sinnesmodalitäten (Geruch, visuell,
echoakustisch) variiert werden kann. Die Käfige sind mit je zwei
Kunstblüten zur Einzeldressur, einem computerüberwachten Hangplatz,
einem Kameraüberwachungssystem und computergesteuerten Türen
ausgestattet. Blütenbesuche und andere versuchsrelevante Parameter
werden vom Computer mit Zeitangabe gespeichert. Dieses System
ermöglicht sowohl die Datenaufnahme als auch den Austausch von
Versuchstieren computergesteuert und ohne Störung der Tiere. Eine
Anpassung des Systems an andere Tierarten lässt sich problemlos
vornehmen. Für die Experimente wurden Blütenfledermäuse der Art
Glossophaga soricina darauf trainiert, am beschriebenen Blütenfeld
Nektar zu suchen. Kapitel 2 befasst sich mit folgenden Fragen: 1.
Ist das Ortsgedächtnis von Blüten-fledermäusen so hoch auflösend,
dass sie sich auch in einer kleinräumigen Ansammlung von Blüten wie
einer Baumkrone Ort und Qualität einzelner Blüten merken können? 2.
Wenn ja, vermindern sie nach Möglichkeit die Anforderungen an das
Ortsgedächtnis durch kognitive Gruppierung räumlich nahe
benachbarter belohnender Blüten? 3. Wie hoch sind Kapazität und
Flexibilität des Ortsgedächtnisses innerhalb eines solchen Areals?
Die Fledermäuse hatten in diesem Experiment die Aufgabe, am
Blütenfeld die Nektar gebenden Blüten zu finden und deren
Positionen zu lernen. 32 der 64 Blüten gaben pro Versuchsdurchlauf
einmal Nektar, wobei belohnende Blüten entweder geklumpt oder
zufällig angeordnet waren. Das Ortsgedächtnis der Fledermäuse
erwies sich als so hoch auflösend, dass sich die Tiere auch in
dieser kleinräumigen Blütenansammlung einzelne Blütenpositionen
merken konnten. Zwar erreichten die Tiere bei der geklumpten
Verteilung ein höheres Korrektwahlenniveaus als in der zufälligen,
doch eine Simulation ergab, dass dieser unterschiedliche
Korrektwahlenanteil nicht nur auf kognitiver Gruppierung räumlich
benachbarter Blüten beruhen könnte, sondern auch auf örtlichen
Positionsfehlern. Es bleibt somit ungeklärt, ob die Tiere in der
gegebenen Situation Blüten kognitiv gruppierten, oder bisweilen
versehentlich eine Nachbarblüte der eigentlich anvisierten Blüte
besuchten. Das Ortsgedächtnis der Fledermäuse erwies sich als
äußerst flexibel. Die Tiere stellten sich schnell und ohne
Anzeichen von proaktiver Interferenz (ohne Beeinträchtigung der
Lernleistung durch zuvor gelernte Information) auf Verände-rungen
der Nahrungsverfügbarkeit ein. Sie lernten in beiden
Blütenverteilungen die Positionen von mindestens 27 Blüten. In
Kapitel 3 wurde der Frage nachgegangen, ob die Fledermäuse im oben
beschriebenen Versuch unmittelbare (und damit unprofitable)
Wiederbesuche vermieden und - falls ja - ob sie dazu ihr räumliches
Arbeitsgedächtnis (entspricht dem Kurzzeitgedächtnis),
Bewegungs-regeln oder andere Strategien anwenden würden. Die Tiere
vermieden Wiederbesuche. Da sich kein systematisches
Ausbeuteverhalten nachweisen ließ, das rein auf Bewegungsregeln
beruhte und ohne Arbeitsgedächtnis realisierbar gewesen wäre, ist
zu vermuten, dass die Tiere Wiederbesuche hauptsächlich mit Hilfe
ihres Arbeitsgedächtnisses vermieden. Ist dies der Fall, so konnten
sie sich einzelne Blütenbesuche über mindestens 62
Besuchsereignisse merken (dies zeigte eine Analyse des
"Recency"-Effekts). Jedem Lernen der Ortsposition einer Blüte muss
ein Erkennen der Blüte als Futterquelle vorangehen. Da
Blütenfledermäuse in der Regel viele Blüten derselben Pflanzenart
an verschiedenen Standorten besuchen, ist anzunehmen, dass sie die
Fähigkeit besitzen, Blüten als "Typ" zu erkennen. In dem in Kapitel
4 beschriebenen Experiment wurde die Fähigkeit untersucht, in einer
Zweifachwahl-Diskriminationsaufgabe echoakustisch spezifisch
markierte Kunstblüten an neuen Standorten wiederzuerkennen. Dies
führte zu dem überraschenden Befund, dass die Tiere die an einem
Ort erlernte Unterscheidung an einem anderen Ort neu lernten und
damit keine Generalisierung zeigten. Möglicherweise ist das Lösen
von Zweifachwahl-Aufgaben für Blütenfledermäuse schwierig, weil
solche Aufgaben der starken Ortspräferenz der Tiere zuwiderlaufen.
Eine Blüte ist für eine Fledermaus ein multimodaler Stimulus, der
echoakustisch, olfaktorisch und gegebenenfalls auch optisch
wahrgenommen werden kann. Mit dem in Kapitel 5 beschriebenen
Experiment wurde untersucht, ob Sinnesinformation verschiedener
Modalitäten in unterschiedlicher Weise zum Aufbau des
Ortsgedächtnisses einer Blüten-position beiträgt. Wie im ersten
Versuch hatten die Tiere die Aufgabe, am Blütenfeld die Nektar
gebenden Blüten zu finden und deren Positionen zu lernen. 32 der 64
Blüten gaben pro Versuchsdurchlauf einmal Nektar, wobei belohnende
Blüten zufällig verteilt waren. Belohnende und unbelohnende Blüten
waren durch verschiedene echoakustische oder visuelle Stimuli oder
gar nicht (Kontrolle) gekennzeichnet. Im Verlauf des Experiments
wurden die Stimuli zweimal vorübergehend entfernt. Die Fledermäuse
erreichten mit Stimuli beider Modalitäten einen höheren
Korrektwahlenanteil als ohne. Die Entfernung der Stimuli hatte zur
Folge, dass sich der Korrektwahlenanteil zwischen den
Versuchsbedingungen nicht mehr signifikant unterschied. Die Tiere
nutzten also neben ihrem Ortsgedächtnis sowohl echoakustische als
auch visuelle Information zur Lokalisation Nektar gebender Blüten
am Feld. Während echoakustische Stimuli nur als Orientierungshilfe
dienten, verbesserten visuelle Stimuli anscheinend zusätzlich das
Ortslernen, denn nach Entfernung der echo-akustischen Stimuli fiel
der Korrektwahlenanteil drastisch, nach Entfernung der visuellen
Stimuli nicht. Das im Rahmen dieser Doktorarbeit entwickelte
Versuchssystem erwies sich als ein zuverlässiges Mittel zur
Durchführung voll automatisierter Versuche mit mehreren Tieren. Die
durchgeführten Lernexperimente zeigten, dass Blütenfledermäuse ein
hoch auflösendes, flexibles Langzeit-Ortsgedächtnis besitzen. Sie
können unprofitable Wiederbesuche bereits geleerter Blüten
wahrscheinlich mit Hilfe des Arbeitsgedächtnisses über mehr als 62
Blütenanflüge meiden. Es war keine Generalisierung echoakustischer
Stimuli in Zweifachwahl-Diskriminationsaufgaben zwischen einem
Dressurort und einem Testort nachzuweisen. Dieses überraschende
Phänomen könnte aufgrund des Versuchsparadigmas durch eine
Interferenz zwischen Ortslernen und Objektlernen verursacht worden
sein. Die Tiere nutzten echoakustische und visuelle Stimuli als
Orientierungshilfe, wobei die Präsenz visueller Stimuli zusätzlich
das Ortslernen verbesserte.

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